Oona Kroisleitner

Exklusive Gesundheitsstudien

  • 23.05.2014, 17:42

Gedrängte Studienpläne, Wartejahre und unbezahlte Praktika stehen in den gesundheitswissenschaftlichen Studien der Fachhochschulen auf der Tagesordnung. Neben dem Studium zu arbeiten, ist kaum möglich – was zu einer schlechten sozialen Durchmischung führt

Gedrängte Studienpläne, Wartejahre und unbezahlte Praktika stehen in den gesundheitswissenschaftlichen Studien der Fachhochschulen auf der Tagesordnung. Neben dem Studium zu arbeiten, ist kaum möglich – was zu einer schlechten sozialen Durchmischung führt.

In knapp zwei Monaten beendet Barbara König ihr Radiologietechnologie-Studium an der Fachhochschule (FH) Campus Wien. Die 23-Jährige ist eine von 4.580 Studierenden der Gesundheitswissenschaften an Österreichs FHs. Zwar entschied sie sich nach der Matura erst für ein Biologie-Studium an der Uni Wien, nach zwei Semestern erkannte sie aber, dass ihr „das Praktische“ und „der Kontakt mit Menschen“ fehlte, also trat sie beim EMS-Test an, um einen Medizinstudienplatz zu bekommen. Dieser wurde ihr auch zugesagt – allerdings in Innsbruck. Ein Wohnortwechsel kam für die Wienerin aber nicht in Frage. Daraufhin begab sie sich auf die Suche nach einem anderem Studium.

Der Bachelorstudiengang Radiologietechnologie gehört neben Fächern wie Logopädie, Biomedizinische Analytik oder Musiktherapie zu den 14 an österreichischen FHs angebotenen Vollzeitbachelorstudien im Bereich der Gesundheitswissenschaften. Ihr Studium beschreibt König als „sehr technisch und anspruchsvoll“, trotzdem zog sie es ohne größere Komplikationen durch. „Es ist motivierend, wenn man ein Ziel vor Augen hat“, erklärt sie. Dadurch, dass es an den FHs kein „Verschieben aufs nächste Semester“ wie an der Universität gibt, sei alles planbarer und vor allem absehbar.

Bevor sie überhaupt zum Studium zugelassen wurde, musste König jedoch ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren, bestehend aus Motivationsschreiben, psychologischem Test, Wissensabfrage und persönlichem Gespräch, absolvieren. „Die Zugangsbeschränkungen an den FHs führen dazu, dass sich Studierende für ein Studium an mehreren oder sogar allen Standorten bewerben“, sagt Michael Hnelozub, FH-Referent der ÖH-Bundesvertretung. Die FHs haben allerdings unterschiedliche Annahmefristen, weshalb FH-Erhalter_innen schon kurz nach der Zusage eine Kaution oder Studiengebühren einheben. Zum einen, um Planungssicherheit zu haben, wie viele Studierende ein Studium beginnen – aber auch, damit „sich Studierende nicht mehr umentscheiden können“, so Hnelozub. Studierende müssen sich somit sofort entscheiden, ob sie einen bereits sicheren Studienplatz annehmen oder lieber das Risiko eingehen und abwarten, ob sie noch eine Zusage von ihrer Wunsch-FH bekommen.

Solche Mehrfachbewerbungen waren bei Tobias Haas noch kein Thema. Er absolvierte von 2008 bis 2011, im ersten Jahrgang, das Bachelorstudium Gesundheit und Krankenpflege an der FH Campus Wien. Die Bewerber_innen wurden damals fast alle aufgenommen. Heute arbeitet Haas als Krankenpfleger in einem Wiener Spital und macht an der Uni Wien den Master in Pflegewissenschaften. An den FHs selbst gibt es nur selten weiterführende Masterstudien, die meisten aufbauenden Lehrgänge kosten mehrere tausend Euro.

Zwischen zwei Nachtschichten erinnert sich Haas daran, dass sein Studiengang, der als erster dieser Art an einer FH angeboten wurde, noch schlecht organisiert war: „Es war teilweise notwendig, nach den Praktika noch auf die FH zu fahren und Prüfungen zu schreiben. Das hat sich aber mittlerweile gebessert.“ Das Krankenpflegegesetz sieht ein Mindestmaß an Praktikumsstunden während der Ausbildung vor. Bei Haas umfassten sie die Hälfte der gesamten ECTSPunkte des Bachelorstudiums. „Dadurch musste der Theorieteil in 90 ECTS gequetscht werden“.

Theorie und Praxis. „Im Prinzip sind wir Montag bis Freitag mit unseren Praktika beschäf- tigt“, sagt König. Von Beginn an ist der Stundenplan der Radiologietechnologie in Theorieblöcke mit anschließenden praktischen Übungen in Krankenhäusern oder Diagnosezentren in Wien, Niederösterreich oder dem Burgenland unterteilt. Nach dem Aufnahmeverfahren mussten die Studierenden unterschreiben, dass sie für Fahrtkosten und Ähnliches selbst aufkommen können, erzählt König. Wenn ein Praktikum nur halbtags läuft, geht es danach zum Theoriebüffeln zurück an die FH. Praxis bekommen die Studierenden zusätzlich dadurch, dass sie an einander üben. „Wir legen uns etwa gegenseitig ein EKG an“, so König.

Die Pflichtpraktika, die sie absolvieren muss, sind, wie auch in den anderen gesundheitswissenschaftlichen Studiengängen auf der FH, unbezahlt. Bei der Studierendensozialerhebung 2011 gab kein_e einzige_r Studierende_r an, für ein Pflichtpraktikum in diesem Bereich bezahlt worden zu sein. Gleichzeitig gilt 100-prozentige Anwesenheitspflicht bei den Praktika. „Ich darf keine Sekunde verpassen“, kritisiert König, „wenn ich krank bin, kann ich aber einfach nicht kommen.“ Zwar gibt es meist die Möglichkeit das Versäumte in den Ferien nachzuholen. „Gern wird das aber nicht gesehen“, meint König.

„Das Problem, mit dem wir am öftesten konfrontiert sind, ist das der Studienjahrwiederholung“, sagt Hnelozub. Krank zu sein ist bei den Vollzeitstudien mit ihrem dichten Stundenplan nicht drin. Zwar gibt es die Möglichkeit, Fächer zu wiederholen – wenn eine kommissionelle Prüfung nicht bestanden oder die Anwesenheitspflicht in einer klinischen Übung nicht erreicht wird –, allerdings stellt dies Studierende vor weitere Probleme. „In den technischen Studien- fächern ist es meistens kein Problem, wenn man ein Fach in das nächste Jahr hineinzieht“, sagt Hnelozub. Wegen den Voraussetzungsketten in den Gesundheitsfächern „verliert man hier aber gleich ein ganzes Studienjahr“. Durch das stark begrenzte Platzkontingent in den Gesundheitswissenschaften kann es aber sein, dass im Folgejahrgang gar kein Studienplatz mehr frei ist. „Dadurch haben Studierende dann ein Wartejahr oder steigen aus dem Studium aus“, sagt der FH-Referent.

Vollzeitstudium und Teilzeitarbeit. Neben dem gedrängten Studienplan ist es schwierig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Lediglich zehn Prozent aller Studierenden der Gesundheitswissenschaften an FHs arbeiten während des ganzen Semesters, 17 Prozent jobben gelegentlich. König kellnerte an Wochenenden bis zu 30 Stunden, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, ein Job unter der Woche wäre unmöglich gewesen. Auch Haas hat während seinem Studium gearbeitet – als persönlicher Assistent: „Das waren sehr flexible Zeiten, die ich mir selbst einteilen konnte.“ Neben einem FH-Vollzeitstudium könne man im Grunde nur in „sehr prekären Verhältnissen“ jobben oder bezahlte Ferialpraktika absolvieren. Die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Studium spiegelt sich auch in der sozialen Lage der Studierenden der Gesundheitswis-senschaften wider: 54 Prozent kommen aus einem bildungsnahen Elternhaus. Somit seien diese FH- Studien auch „sehr elitäre Studien“, sagt Hnelozub.

 

Oona Kroisleitner studiert Rechtswissenschaften an der Uni Wien.

Generationenvertrag ade?

  • 09.04.2014, 11:03

 

Brauchen wir einen neuen Generationenvertrag oder ist der Aufschrei, die staatliche Altersvorsorge wäre nicht mehr finanzierbar, nur Panikmache? Welche Anpassungen am Arbeitsmarkt überfällig sind, erklärt Christine Mayrhuber (WIFO) im Gespräch mit Oona Kroisleitner.

progress: Brauchen wir wegen rückgängiger Geburtenrate und längerer Lebenserwartung einen neuen Generationenvertrag?

Christine Mayrhuber: Natürlich gibt es durch die steigende Lebenserwartung eine Verschiebung. Aber nicht alle Menschen im Pensionsalter beziehen eine Pensionsleistung. Im österreichischen Umlagesystem existiert ein Pensionsanspruch für jene, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Es gibt immer noch Ältere, überwiegend Frauen, die keinen eigenen Pensionsanspruch haben, weil sie nicht, oder nicht ausreichend erwerbstätig waren. Auf der anderen Seite hängt im Umlagesystem die Finanzierung vom Verhältnis von Beitragsleistenden und PensionistInnen, nicht von der Demographie ab.

Wie sieht dieses Verhältnis aktuell aus?

Derzeit kommen auf eine Person im Erwerbsalter 0,3 Personen im Alter von 65 Jahren und mehr. In der Pensionsversicherung entfallen auf einen sozialversicherungsrechtlich abgesicherten Job 0,6 Pensionen. Um diese Relation zu verbessern gibt es zwei Möglichkeiten: einerseits – im Widerspruch zum Generationenvertrag – eine Reduktion der Zahl der Pensionen, andererseits eine Erhöhung der Beschäftigtenzahlen. Ob das Pensionssystem finanziell nachhaltig ist, hängt davon ab, wie groß die Gruppe der Beschäftigten ist und wie hoch ihre Löhne und Gehälter sind. Und die Anzahl der Beschäftigten ist wirtschaftspolitisch gestaltbar.

In den 1960ern stieg die Geburtenrate stark an, die Generation der „Babyboomer“ wird in den nächsten Jahren in Pension gehen. Was bedeutet das für das Altersvorsorgesystem?

Das könnte eine spannende Situation für den Arbeitsmarkt darstellen. Auf der einen Seite müssen die Arbeitsplätze jener Leute, die in Pension gehen, nachbesetzt werden. Das würde die momentan extrem schlechten Arbeitsmarktchancen für die Jungen verbessern. Auf der anderen Seite ist die Erwerbsbeteiligung der BabyboomGeneration hoch, da auch die Frauen in der Bildung stark aufgeholt haben. Dadurch wird die Zahl der Pensionen deutlich steigen. Allerdings werden auch viele pensionsdämpfende Maßnahmen wirken. Leider beobachten wir im Moment eine Prekarisierung sowohl der Beschäftigungsformen als auch der Einkommen.

Gerade Junge befinden sich häufig in Arbeitsverhältnissen, in denen sie keine Pensionszeiten ansparen. Was heißt das für die Altersvorsorge?

Die Arbeitsmarktsituation hat sich geändert. Selbst mit Uni- und Fachhochschulabschlüssen ist der Berufseinstieg schwierig geworden. Ich würde dennoch allen empfehlen die langfristigen Auswirkungen der beruflichen Situation im Auge zu behalten: In Österreich gibt es die Möglichkeit der freiwilligen Kranken- und Pensionsversicherung für geringfügige Beschäftigte. Der monatliche Beitrag beträgt 55,79 Euro bei einer Geringfügigkeitsgrenze in der Höhe von 395,31 Euro.

Gibt es überhaupt Alternativen zum österreichischen Pensionssystem?

Wir haben ein umlagefinanziertes Pensionssystem: Meine Pensionsbeiträge dienen sofort als Pensionsleistungen an Pensionist_innen. Durch meine Beitragsleistung erwerbe ich einen Anspruch auf Pensionsleistung, wenn ich pensioniert bin. Eine archaische Form der Alterssicherung wäre eine innerfamiliäre Versorgung. Die eigene Alterssicherung wäre damit von der Zahl der Kinder und ihrem Wohlwollen bestimmt. Eine dritte Möglichkeit ist eine individualisierte Form der Ersparnisbildung fürs Alter. Ein Umstieg wäre mit großen sozialen und ökonomischen Verwerfungen verbunden.

Also Privatpensionen?

Ja. Aber auch im Fall individueller Altersvorsorge über das Ansparen von Kapitalbeständen bin ich nicht unabhängig von der Nachfolgegeneration. Ich brauche sie, um meinen Kapitalstock in die im Alter benötigten Güter und Dienstleistungen umzuwandeln.

Welche Risiken birgt eine Pension über Kapitaldeckung?

Im Kapitaldeckungsverfahren bin ich auf mich alleine gestellt und trage alle Risiken selbst: genügend für das Alter anzusparen, die Wertentwicklung der Ersparnisse, möglicherweise arbeitsunfähig zu werden, etc. Habe ich kein Einkommen und daher keine Beitragsleistung, vergrößert sich auch mein Kapitalstock nicht. Dieses Risiko habe ich im Umlagesystem zwar auch, hier werden aber gesellschaftlich relevante Tatbestände wie Präsenz-/Zivildienst, Zeiten der Kindererziehung, Krankheit etc. von der Versicherungsgemeinschaft solidarisch mitfinanziert. Beim Kapitaldeckungsverfahren habe ich neben der Eigenverantwortung, die Beiträge zu leisten, auch das Kapitalmarktrisiko zu tragen.

Wie sieht der Generationenvertrag in anderen Ländern aus?

So wie der Sozialstaat insgesamt ganz unterschiedliche Ziele hat, hat er diese auch in der Alterssicherung. In Österreich gilt das Prinzip der sogenannten „Lebensstandardsicherung“. Das ist die erste Säule des Pensionssystems. Es gibt Länder (Großbritannien, USA etc.), deren erste Säule die Armutsvermeidung ist. Sie wird dann meist um eine zweite Säule ergänzt, wo das Ziel der Lebensstandardsicherung über Betriebspensionen definiert ist.

Welche Maßnahmen können gesetzt werden, um das österreichische System finanzierbar zu halten?

Jetzt sind verstärkt Maßnahmen im Beschäftigungs- und Einkommenssystem notwendig. Beispielsweise könnten verstärkt finanzielle Anreize für Betriebe geschaffen werden, ältere Arbeitskräfte länger zu beschäftigen. Eine weitere Maßnahme wäre die Senkung der Sozialversicherungsabgaben im unteren Einkommensbereich: Bei Bruttoeinkommen bis zu monatlich 1500 Euro könnten reduzierte Sozialversicherungsbeiträge zu höheren Nettoeinkommen führen und Arbeitskosten für Unternehmer_innen reduzieren. Dazu braucht es jedoch eine Gegenfinanzierung, etwa durch zweckgewidmete Abgaben oder Steuern auf Vermögensbestände.

Es bedarf also keines neuen Vertrages, sondern lediglich Reformen?

Das umlagefinanzierte Alterssicherungssystem wurde immer wieder an neue Gegebenheiten am Arbeitsmarkt, in den Familienstrukturen aber auch an Finanzierungsengpässe angepasst. In Zukunft muss bei Reformen verstärkt darauf geachtet werden, dass die steigende Einkommensungleichheit vom Alterssicherungssystem ausgeglichen und nicht verstärkt wird.

 

Christina Mayrhuber ist wissenschaftlichen Mitarbeiterin im österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Oona Kroisleitner studiert Rechtswissenschaften an der Uni Wien.

Als wäre ein Professor mehr wert als ich

  • 07.12.2013, 17:52

Sexuelle Belästigung an der Uni hat viele Gesichter. In den meisten Fällen bleibt sie jedoch unbemerkt.

Ein Professor, der seine Studentin auf einen gemeinsamen Kurzurlaub einlädt; ein Lektor, der seine Seminarteilnehmerin plötzlich küssen möchte, und ein Arzt, der sich im OP-Saal über den Beziehungsstatus seiner Studentinnen informiert. Sexuelle Belästigung an der Uni hat viele Gesichter; in den meisten Fällen bleibt sie jedoch unbemerkt.

Er ist eigentlich sehr beliebt“, erzählt Sophie*. Die Studierenden mögen ihn, wegen seiner lockeren Art in den Lehrveranstaltungen, er ist lustig und jung – Mitte 30 – und unterrichtet an der Universität Wien. Nach dem Unterricht lädt er die Kursteilnehmerinnen ein, mit ihm etwas trinken zu gehen, und flirtet mit Studentinnen. „Die meisten finden das nett. Ich fand es komisch, dass ein Lehrender ständig danach fragt, ob man gemeinsam fortgeht“, erinnert sich die 24-Jährige an ein Seminar vor mittlerweile zwei Jahren. Als Studentin fühle man sich doch „irgendwie gezwungen“ mitzugehen.

Im Jahr 2012 veröffentlichte die Ruhr-Universität Bochum eine Studie, die 22.000 Studentinnen von 34 höheren Bildungseinrichtungen in Deutschland, Italien, Polen, Spanien und Großbritannien zu den Themen sexualisierte Gewalt, Belästigung und Stalking befragte. In dem EU-Projekt gaben 61 Prozent der Befragten an, während ihres Studiums mindestens einmal Opfer von sexueller Belästigung geworden zu sein. Rund ein Drittel der Frauen schilderte, dass ihnen nachgepfiffen wurde oder anzügliche Bemerkungen gemacht wurden. Knappe 15 Prozent gaben an, dass ihnen jemand auf unangenehme Weise zu nahe gekommen sei.

MEDIALER TABUBRUCH. Trotzdem ist sexuelle Belästigung ein an den Unis sowie in den Medien kaum besprochenes Thema. Diesbezügliche Aufregung gab es hierzulande 2009, als in einem profil-Artikel mit dem Titel „Altherrenschwitze“ etwa Heinrich Schmidinger, Rektor der Universität Salzburg, beschuldigt wurde, von 20 bis 30 Fällen von sexueller Belästigung gewusst und es unterlassen zu haben, diese zur Anzeige zu bringen. Die lokale Gleichbehandlungsbeauftragte Daniela Werndl vermutete eine hohe Dunkelziffer an Opfern. Schmidingers Kommentar dazu: „Ich fühle mich persönlich sehr schlecht.“ Genaue Angaben sind laut der Vorsitzenden des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen (AKG) an der Uni Salzburg, Siegrid Schmidt, bis heute aus „rechtlichen bzw. Gründen des Datenschutzes nicht möglich“.

Direkt an der Uni ist Sophie nie etwas passiert. Nachdem sie ihre Lehrveranstaltung abgeschlossen hatte, begegnete sie ihrem Lektor zufällig beim Fortgehen im Club – sie erinnert sich, dass er „ziemlich betrunken“ gewesen sei. Miteinander unterhalten haben sie sich nicht. Plötzlich stand er vor ihr und sprach sie mit ihrem Namen an. Er meinte, er würde sie gerne küssen. Sophie hat damals sofort den Club verlassen und hat sogar über den Lektor gelacht. Sie konnte sich gegen die Anmache „wehren“. Trotzdem war sie froh, dass ein Freund neben ihr stand und die Situation mitbekam. „Er war nicht aufdringlich oder aggressiv. Aber es war mir einfach trotzdem sehr unangenehm“, erzählt sie. Seither hat sie es vermieden, bei diesem Lehrenden Seminare zu besuchen. Sie fühlt sich „komisch“ in seiner Gegenwart. Außerdem fürchtet sie sich vor den Konsequenzen ihrer Ablehnung. „Ich hätte Angst, dass er mir die Abfuhr übel genommen hat und sich das dann auf meine Note auswirken könnte“, meint sie.

Zum Zeitpunkt des Vorfalls hatte die Studentin bereits einige Gerüchte über diesen Lehrenden gehört. Er würde mit jüngeren Studentinnen schlafen, sie beim Fortgehen treffen und dann nach Hause begleiten. „Man weiß ja aber nicht was stimmt, von dem, was erzählt wird“, sagt sie. Als Sophie überlegte, sich beim Institut zu beschweren, war es ein Lehrender, der ihr Unterstützung anbot. „Er meinte aber, dass man wenig machen kann, da ich das Seminar bei besagtem Lehrenden zum Zeitpunkt des Vorfalls schon abgeschlossen hatte.“ Dazu kam, dass dieser nicht im Unigebäude oder in Zusammenhang mit dem Unialltag passiert war und Sophie wollte den Vorfall nicht dramatisieren – viele Studienkolleg_innen verteidigten den Lehrenden eher und beschwichtigten, dass das ja alles „auf Gegenseitigkeit basiert“. Sophie ließ von einer Beschwerde ab. „Ich glaube, dass durch seine Jugendlichkeit niemand das trotzdem existierende Machtverhältnis sieht. Es ist nicht dieses klassische Bild von einem alten Professor, der junge Studentinnen angräbt“, sagt sie. „Aber es ist doch schräg, dass ein Lehrender systematisch 20-Jährige anbrät und sich seine Dates über Lehrveranstaltungen checkt.“

Foto: Joanna Pianka

MACHTMISSBRAUCH. Sexuelle Belästigung ist laut Sylwia Bukowska, Leiterin der Abteilung Frauenförderung und Gleichstellung an der Universität Wien, eine komplexe Angelegenheit. Dabei gehe es immer auch um Macht, weshalb das Thema immer noch stark von Tabuisierung betroffen ist. Eine beträchtliche Rolle spielt auch die nach wie vor gesellschaftlich und medial weit verbreitete Degradierung von Frauen zu Sexualobjekten. Von dem Machtgefälle an der Hochschule weiß auch Katharina Hawlik zu berichten. Sie ist studentisches Mitglied im Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen der Medizin-Uni Wien und stellt fest: „Die Krankenhaushierarchie schlägt sich auch im Alltag vieler Medizinstudentinnen nieder.“ Gerade bei Famulaturen oder im Operationssaal bekämen Studentinnen immer wieder sexistische Kommentare zu hören: „Ich habe es schon erlebt, dass männliche Ärzte ihre Studentinnen vor allen Kolleg_innen bezüglich ihres Beziehungsstatus ausfragten.“ Die Medizinische Universität trägt laut Hawlik aber nicht primär die Verantwortung für dieses „Dilemma“. Das Hauptproblem seien eben die „hierarchischen Krankenhaussysteme“. „Da Hochschule und Krankenhäuser eng miteinander verbunden sind, müsste die Universität hier aber mehr Sensibilisierungsarbeit leisten.“ Immer wieder kommt es auch zu unklaren Situationen, wenn Ärzte speziell Studentinnen fördern. „Es entsteht ein Graubereich, wo die Intention nicht mehr klar ist“, sagt Hawlik. Gleichzeitig trauen sich die meisten Studentinnen nicht, über das Problem zu sprechen, und melden sich daher nicht bei den Anlaufstellen. „Sei es aus Angst vor den Konsequenzen oder wegen der Unsicherheit, ob die eigene Wahrnehmung auch richtig ist“, erklärt Hawlik. Gerade bei einmonatigen Famulaturen scheint dabei für die meisten „Durchtauchen die einfachere Lösung zu sein“. Darüber hinaus wissen die Studierenden meist nichts von den Möglichkeiten, sich zu beschweren. Die Universitätsvertretung der ÖH an der Medizin Uni Wien führt daher seit diesem Wintersemester eine Kampagne, um Einrichtungen für Hilfe bei sexueller Belästigung bekannter zu machen.

Grundsätzlich ist an jeder öffentlichen Universität ein Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen eingerichtet. Neben der Mitwirkung und Kontrolle bei Habilitations- und Berufungskommissionen ist der Arbeitskreis auch für Fälle von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zuständig. Eine solche liegt laut Bundes-Gleichbehandlungsgesetz (B-GBlG) vor, wenn Studierende von einer Vertreterin oder einem Vertreter der Universität sexuell belästigt werden oder diese es unterlassen, bei einer ihnen bekannten Belästigung einzuschreiten. Dabei ist die Definition der sexuellen Belästigung sehr offen gehalten und bezieht sich auf „ein der sexuellen Sphäre zugehöriges Verhalten“, das die „Würde einer Person beeinträchtigt“ oder deren Beeinträchtigung „bezweckt“. Zusätzlich muss dieses Verhalten laut Gesetz für die betroffene Person „unerwünscht, unangebracht, entwürdigend, beleidigend oder anstößig“ sein und eine „einschüchternde, feindselige oder demütigende Studienumwelt“ für die betroffene Person schaffen oder dies bezwecken.

UNKLARE DEFINITION. Da die Definition des Begriffs „sexuelle Belästigung“ im B-GBlG schwammig ist, haben die Universitäten Wien, Salzburg und das Mozarteum eigene Leitfäden in Form von Broschüren herausgegeben, um klarere Verhältnisse zu schaffen. In der Broschüre „Grenzen. Erkennen. Benennen. Setzen.“ der Uni Salzburg und des Mozarteums wird zwischen verbaler und non-verbaler Gewalt unterschieden. Nicht nur unerwünschte körperliche Nähe bis hin zur Vergewaltigung wird als sexuelle Belästigung klassifiziert. Auch „Ausziehblicke“, herabwürdigende, sexuell konnotierte Gesten, das Verbreiten von pornographischen Bildern sowie unerwünschte Geschenke, abwertende Namensgebungen, lästige Fragen zum Sexualleben oder unerwünschte Einladungen werden als Formen von sexueller Belästigung angeführt.

Neben ihrer Broschüre versuchen Universität Salzburg und Mozarteum auch verstärkt auf die entsprechende Telefon-Helpline hinzuweisen. Eine Einschätzung der Gesamtsituation findet Schmidt aber noch immer „sehr schwierig“. Vor allem weil die „Bereitschaft der Opfer nicht besonders groß ist, die Beratungs- und Hilfsangebote anzunehmen“. Jedoch liegt dies wohl weniger an der mangelnden Bereitschaft der Betroffenen, das Schweigen zu brechen, sondern vielmehr daran, dass der Umgang der Institutionen mit der Problematik bis heute zu wünschen übriglässt. Sylwia Bukowska geht davon aus, dass Betroffene häufig im persönlichen Umfeld und außerhalb der Universität Hilfe suchen. Bukowska hat an der Uni Wien am Gesamtkonzept für Belästigung und Mobbing in Österreich mitgearbeitet. Eines der wichtigsten Anliegen war dabei von Anfang an die absolute Wahrung der Schweigepflicht und die Möglichkeit auf Anonymität: „Wir versuchen eine Balance zu finden zwischen der Tatsache, dass wir eine universitäre Institution sind, und dem Anspruch, hochwertige Beratung anbieten zu können, die sich auch außerhalb der universitären Strukturen bewegt.“ Nur ihre Kollegin, die die Beratungsgespräche führt, kennt die Namen der Betroffenen.

Foto: Joanna Pianka

PSYCHISCHE BELASTUNG. Veronika* wurde vor einem Jahr von ihrem Professor auf eine Konferenz eingeladen. Als dieser davor noch einen gemeinsamen Kurzurlaub plante, lehnte die 28-Jährige ab. Auf kleine Anspielungen folgten E-Mails und Einladungen zu Dienstreisen und Kongressen. Als sie auch die Einladung zu einer Dienstreise per E-Mail ablehnte, wurde er wütend. Die Zusammenarbeit mit dem Professor wurde für Veronika unmöglich. Seitdem kämpft sie jeden Tag mit Schikanen. Seit zwei Jahren sucht sie Hilfe gegen die sexuellen Belästigungen durch ihren Professor – vergeblich. Veronika versuchte gegen ihren Professor vorzugehen und wandte sich an die Frauenbeauftragte ihrer Universität und an eine Psychologin. Die Erfahrungen damit waren für Veronika durchwegs enttäuschend. Der Fall wurde nicht ernst genommen. Ihr Anwalt meinte, er könne ihr nicht helfen, da ihr Professor sie ja nicht außerhalb ihres Arbeitsplatzes „stalken“ würde.

Erst als Veronikas Professor aufgrund anderer Projekte zu beschäftigt war, ließ er von ihr ab. „Aber ich denke, dass wieder etwas passieren wird“, fürchtet sie. Er werde zwar nie übergriffig, aber es spiele sich alles auf der „mentalen Ebene“ ab. Der Professor setze sie unter Druck und versuche sie „fertig zu machen“. Dass er etwas falsch macht, sieht er nicht ein. Jeden Tag recherchiert Veronika am Institut für ihre Masterarbeit – er arbeitet im Nebenzimmer.

Nicht nur in der Uni sind Studierende sexueller Belästigung ausgesetzt. Zwei Drittel von ihnen müssen neben dem Studium arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. So auch Frank*. Der 22-Jährige kam diesen Herbst nach Wien. Da er Geld brauchte, fing er in einem Lokal zu arbeiten an. Sein Chef begann bald, ihm persönliche SMS zu schreiben, einmal zwickte er ihn in den Hintern. Für Frank ist dadurch eine schwierige und belastende Situation entstanden: „Ich habe Angst, wenn ich nachts allein mit ihm das Lokal zusperre. Aber ich kann es mir nicht leisten zu kündigen.”

Allein im Dunkeln, womöglich mit dem/der potentiellen Täter_in in der Nähe – das ist auch auf der Uni furchteinflößend. Sexuelle Übergriffe zu bekämpfen heißt unter anderem auch, bauliche und logistische Maßnahmen zu setzen, damit sich Studierende sicher fühlen können. Aus diesem Grund hat die Medizin-Uni Wien zweijährliche Evaluierungen von Gefahrenquellen und Angsträumen in ihren Frauenförderungsplänen verankert. Auf dieser Basis sollen gezielte Konzepte zur Verbesserung der Sicherheit entwickelt werden. Denn dunkle Gänge in den Bibliotheken, am Campus oder in den Universitätsgebäuden sind Angstherde. Da die Universitäten nachts oft weitgehend menschenleer sind, ist es gerade nach Lehrveranstaltungen am Abend schwierig, im Fall eines Übergriffs Hilfe zu finden.

KLARES STATEMENT. Bis das Ziel einer Universität frei von sexueller Belästigung erreicht ist, ist es ein langer Weg, der aus vielen kleinen Schritten besteht. „Ein klares Statement gegen sexuelle Belästigung seitens der Universität ist notwendig, um einen Wandel des Blickwinkels innerhalb der Institution Universität zu erreichen. Deshalb fand dieses Thema explizit Eingang in den Verhaltenskodex der Universität Wien“, so Sylwia Bukowska. Siegrid Schmidt sagt über die Salzburger Uni: „Die Universität ist sehr interessiert daran, dass nichts im Verborgenen bleibt, dass jede Form der sexuellen Belästigung abgestellt wird.“

Für jene, die von sexueller Belästigung betroffen sind, bleibt die Tabuisierung jedoch ein reales Problem. Das weitgehende Fehlen eines Bewusstseins für sexuelle Belästigung an Hochschulen findet Veronika fatal. Für sie wurde mit der Zeit immer deutlicher, dass sie mit einem Problem kämpft, für das sich niemand zuständig fühlt. Auch nicht die Universität. „Mir kommt es vor, also ob die Universität in meinem Professor mehr Wert sehen würde als in mir – ich bin nur eine von tausend Studierenden.“

Namen wurden von der Redaktion geändert. Die Autorinnen Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner studieren Philosophie und Rechtswissenschaften an der Uni Wien.

 

Telefon-Helpline Uni Salzburg und Mozarteum:

Mi, 13–14 Uhr, 066/499 9 59 68 ÖH-Helpline (österreichweit): 01/585 33 33

http://www.oeh.ac.at/#/studierenleben/sozialesundgeld/ helpline/

 

Geräumter Haushalt

  • 06.07.2013, 17:27

Rund 22.300 Delogierungsverfahren gegen Mieter_innen wurden im Jahr 2011 alleine in Wien eingebracht. Steht eine Räumungsklage ins Haus, wird als Erstes die Fachstelle für Wohnungssicherung informiert, die Betroffene auf ihrem Weg unterstützt.

Rund 22.300 Delogierungsverfahren gegen Mieter_innen wurden im Jahr 2011 alleine in Wien eingebracht. Steht eine Räumungsklage ins Haus, wird als Erstes die Fachstelle für Wohnungssicherung informiert, die Betroffene auf ihrem Weg unterstützt.

Herr Zettel* hatte seit Monaten versucht, eigenständig seine Wohnung zu retten. Seine Mietschulden wuchsen ihm jedoch immer weiter über den Kopf. Zettel machte Zahlungsversprechungen oder vereinbarte Raten, aber er konnte seinen Zahlungsrückständen nicht nachkommen. Schließlich fand man in einem Räumungsverfahren einen gerichtlichen Vergleich. Aber auch diesen konnte Zettel nicht einhalten. Da er keine anderen Möglichkeiten mehr sah, wandte er sich an die Fachstelle für Wohnungssicherung (FAWOS), die seine Geschichte dokumentierte.

Zettel ist kein Einzelfall: Laut dem Bundesministerium für Justiz wurden im Jahr 2011 in ganz Wien 22.294 Räumungsverfahren eingebracht. Gemeindewohnungen betreffend, für die die Fachstelle eigentlich gar nicht zuständig ist, wurde sie über 11.094 eingebrachte Räumungsverfahren informiert. Für private Mietwohnungen, Genossenschaftswohnungen und Firmenlokale erhielt sie 7.138 Verständigungen. In Summe ergibt das 18.232 eingebrachte Räumungsverfahren, über die die FAWOS informiert wurde. Das entspricht einem Anteil von 81,8 Prozent aller im Jahr 2011 eingebrachten Verfahren in Wien. Zettel ist einer von rund 8.800 Klient_innen, die 2011 in den Zuständigkeitsbereich der Fachstelle fielen. Die Fachstelle für Wohnungssicherung der Volkshilfe Wien ist eine der ersten Anlaufstellen für von Zwangsräumungen gefährdete Personen. 1996 ins Leben gerufen, ist sie für alle Privat- und nicht von der Stadt Wien verwalteten Genossenschaftswohnungen zuständig. Eine Arbeit, die insofern besonders wichtig ist, „da es eher der Privatbereich ist, der delogiert“, erzählt Renate Kitzmann, Sozialarbeiterin bei FAWOS. Zunächst betreute die Stelle nur Klient_innen des 20. Wiener Gemeindebezirks, aber schon 1998 wurde die Verantwortlichkeit auf die ganze Stadt ausgeweitet. Sie gilt als die Stelle zur Prävention für Gefährdete in Privatwohnungen.

Schnellere Hilfe. Seither hat sich aber auch der Kampf um die angemessene Finanzierung der Stelle intensiviert. Mit einer Mietrechtsänderung im Jahr 2000 wurde „endlich die Gesetzesänderung erreicht“, die lange von FAWOS angestrebt wurde, meint Kitzmann: Davor wurde die Stelle erst ab dem Exekutionstermin verständigt. „Seitdem werden wir schon bei Vorliegen eines Verfahrens benachrichtigt, was natürlich auch heißt, dass es doppelt so viele Informationen und potentielle Klient_innen gibt“, sagt Kitzmann.

Das Geld für das Personal wurde allerdings nicht erhöht, was die adäquate Betreuung deutlich erschwert. Hausbesuche seien kaum mehr machbar, genauso wenig wie ein zweiter Brief an gefährdete Wohnungsbesitzer_innen. Von den 8800 bedrohten Klient_innen war die FAWOS 2012 mit etwa 2900 in näherem Kontakt, in 1002 Fällen fiel dieser auch intensiver aus. In fast 40 Prozent aller Fälle handelt es sich um Alleinerziehende; in etwa gleich vielen Haushalten sind minderjährige Kinder von der Delogierung bedroht. Bei den intensiver beratenen Klient_innen dominierten Haushalte ohne Kinder und dort die Ein-Personen-Haushalte. Die Geschlechter- und auch Altersverteilung waren relativ ausgeglichen, rund 51 Prozent der Klient_innen waren im Jahr 2011 männlich und 49 Prozent weiblich. Damit setzt sich die Tendenz des Jahres 2010 fort, als sich erstmals mehr Männer als Frauen bei FAWOS beraten ließen. Die Mehrzahl der betreuten Personen hatte außerdem die österreichische Staatsbürger_innenschaft. Im Jahr 2011 bezogen auffallend
viele der betroffenen Mieter_innen – mit knapp 47Prozent – eine Leistung des AMS als Haupteinkommen, weitere 31 Prozent ein Erwerbseinkommen, die durchschnittliche Höhe des zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens bewegte sich zwischen 500 und 1499 Euro.

Mietrückstand als Hauptgrund. Wieso es für Zettel unmöglich war, seine rückständigen Mieten zu zahlen, war lange unklar. Dringende Anschaffungen waren dem Pensionisten mit gepfändetem Pensionsbezug wichtiger als seine Mietzahlungen. Anscheinend war er ein Käufer, der den Überblick über sein eigenes Konto verloren hatte.

Der häufigste Grund für eine Räumungsklage ist mit rund 90 Prozent wie in Zettels Fall jener des Mietrückstandes. Wie es zu diesem kommt, ist vielschichtig: Arbeitslosigkeit, Schulden, zu hohe Miete oder das lange Warten auf Transferleistungen macht die Volkshilfe als Ursachen aus.

In Erstgesprächen versucht FAWOS die genauen Ursachen und Gründe für den Mietrückstand herauszufinden, Perspektiven zu ermitteln und Lösungsstrategien zu finden. Die Arbeit beläuft sich aber auch auf Information und Beratung, diese reicht von Rechts- und Sozialberatung bis hin zu Finanzcoaching und auch der gemeinsamen Erstellung eines Haushaltsplans. In etwa 70 Prozent der betreuten Fälle können bereits alleine dadurch weitere rechtliche Schritte gegen die Gefährdeten verhindert werden.

FAWOS brachte 2007 gemeinsam mit verschiedenen anderen Sozialeinrichtungen ein Konzept zur umfassenderen und intensiveren Betreuung von gefährdeten Haushalten bei der Stadt Wien ein. Seitdem wartet man auf Auswertung. Zwar sei die Politik angetan gewesen, „aber dann kam die Wirtschaftskrise“, erzählt Renate Kitzmann.

Selbstmordhäufung in Spanien. Spanien ist im europäischen Raum vergleichsweise stark von Delogierungen betroffen: Während der Wirtschaftskrise wurden über 46.000 Haushalte geräumt, seit Beginn der Krise über 350.000. Die Situation, in die Betroffene dadurch kommen, ist verheerend. Oft so verheerend, dass die Häufung von Selbstmorden in Verbindung mit Delogierungen die konservative Regierung letzten November dazu brachte, diese in Fällen „äußerster Not“ auszusetzen.

Das Problem ist damit aber keineswegs gelöst. Alleine in diesem Frühjahr gingen an einzelnen Tagen über 500 Anträge auf Delogierungen bei den spanischen Gerichten ein. Dadurch wuchs auch der Widerstand. In Pamplona weigerte sich zu Beginn des Jahres eine Gewerkschaft von Schlosser_innen den Behörden bei Delogierungen zur Hand zu gehen. Die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH: Plattform der Hypotheken-Betroffenen) gewinnt im öffentlichen Diskurs immer weiter an Stärke. Die Organisation mobilisiert gegen Delogierungen und gewann landesweite Aufmerksamkeit, als sie gemeinsam mit tausend Menschen in Madrid erstmals eine Zwangsräumung verhinderte.

Sichtbarkeit. Eine Praxis, die mittlerweile auch in Berlin angekommen ist. Seit im Oktober 2012 im Stadtteil Kreuzberg eine Zwangsräumung durch eine Sitzblockade verhindert wurde, wird das Bündnis Zwangsräumung verhindern zunehmend zur Anlaufstelle für bedrohte Personen. Wöchentlich melden sich seitdem bedrohte Familien bei dem Bündnis, fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland überproportional von Zwangsräumungen betroffen sind. Regelmäßig mobilisiert die Organisation nun zu Räumungsterminen, die per SMS-Ketten bekannt gemacht werden. Aber nicht immer geht es um die Blockade von Zwangsräumungen. Es gehe auch darum, eine Öffentlichkeit für das Problem zu schaffen und sichtbar zu machen, wozu die massive Privatisierung von öffentlichem und sozialem Wohnbau führt, sagt Sara Walther von Zwangsräumungen verhindern. Dass sich mittlerweile bis zu 500 Menschen zu Protesten bei gefährdeten Wohnungen versammeln, zeigt, dass dies tatsächlich gelingt.

Aus der Welt ist das Problem damit allerdings nicht, erzählt Walther. Nach einer Delogierung, bei der rund 150 Demonstrant_innen vor Ort waren, starb diesen April eine Frau in einer Notunterkunft. Auch die FAWOS sieht einen politischen Anspruch in ihrer Tätigkeit: Neben dem Ziel der Vermeidung ansteigender Wohnungslosigkeit und der Erhaltung von preiswertem Wohnraum setzen sie auf Prävention statt der im Ernstfall anstehenden „Reintegration“. Die Stelle untermauert ihr Anliegen mit einer einfachen Kostenrechnung: So würde eine Reintegration mit einer Aufenthaltsdauer von einem Jahr 600 Euro pro Monat ausmachen. Die Präventionsarbeit würde das selbe für einen Haushalt kosten, jedoch einmalig.

Dass es überhaupt soweit kommt, dass Menschen um ihren Wohnraum fürchten müssen, ist allerdings nicht selbstverständlich. In Artikel 25 der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet.“ Auch in der Europäischen Sozialcharta ist ein „Recht auf Wohnung“ festgeschrieben, ratifiziert hat Österreich diesen Artikel allerdings nicht. Generell scheint fraglich, wie sehr das erwähnte Menschenrecht mit der Realität zu vereinen ist.

Egal ob in Berlin, Madrid oder Wien: Zwangsräumungen sind ein gesellschaftliches Problem. Leistbarer oder geförderter Wohnraum wird seit Jahren weniger. Wie eklatant die Zustände tatsächlich sind, zeigt sich in der Krise immer offensichtlicher. Dazu kommt, dass sich Hilfseinrichtungen in ihrer Arbeit immer mehr auf das Wesentliche beschränken müssen. Betroffen sind Menschen, aber auch Einrichtungen, die es im Normalfall kaum über die gesellschaftliche Wahrnehmungsgrenze schaffen. Dass sich in Spanien die Wohnungslosigkeit mittlerweile in die Mitte der Gesellschaft gedrängt hat, verändert dort den Blickwinkel auf Delogierungen. Sie sind beinahe Thema in der Politik. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht überall so lange dauert.

Die Autor_innen Oona Kroisleitner und Moritz Ablinger studieren Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften an der Uni Wien.

*Name wurde von der Redaktion geändert.

Studieren mit Verfallsdatum

  • 12.05.2013, 22:18

Hier und da mal einen Kurs verschoben, die Prüfung nicht geschafft oder neben dem Studium zu viel gejobbt – und plötzlich hat das Alter eine_n eingeholt und damit auch die Mindeststudienzeit. Stress und erhöhter Leistungsdruck sind oft die Folge, dabei liegt die Durchschnittsstudienzeit meist weit über der vorgesehenen Studiendauer.

Hier und da mal einen Kurs verschoben, die Prüfung nicht geschafft oder neben dem Studium zu viel gejobbt – und plötzlich hat das Alter eine_n eingeholt und damit auch die Mindeststudienzeit. Stress und erhöhter Leistungsdruck sind oft die Folge, dabei liegt die Durchschnittsstudienzeit meist weit über der vorgesehenen Studiendauer.

An den Hochschulen ist die Angst, noch während dem Erststudium zu alt zu werden, allgegenwärtig. Wenn man im Alter von 25 Jahren dem eigenen Namen keinen Titel vor- oder nachstellen kann und, mit wesentlich jüngeren Studierenden im Kurs sitzt, wird es für viele zumindest im eigenen Kopf kritisch.

Stefanie Marx ist 28, sie studiert im elften Semester Germanistik. Älter als ihre Mitstudierenden war sie aber bereits, als sie mit dem Studium begonnen hat. Nach dem Schulabschluss entschied sie sich zu einer Ausbildung als Hotelfachfrau, arbeitete drei Jahre in diesem Bereich und begann dann zu studieren. „Ich war unzufrieden mit meiner Arbeit, die Gastronomie ist zwar eine Zeit lang ganz spaßig, aber auf Dauer eher unbefriedigend“, erzählt die Bezieherin eines Selbsterhalter_innenstipendiums. Dass sie studieren wollte, war für sie immer klar, die Unterstützung hätte jedoch gefehlt. Mit 24 nahm sie den Traum vom Studium selbst in die Hand. „Es ging mir eigentlich nicht darum, was ich studiere, sondern um das Studieren an sich“, erinnert sich Marx. Die Entscheidung für das Germanistikstudium hatte wenig mit einer Verbesserung ihrer Arbeitsmarktchancen zu tun. Schließlich „war klar, dass die Studienwahl Germanistik nicht die besten Berufsperspektiven bietet“.

Laut der Studierenden-Sozialerhebung 2011 geben Studierende, deren Studiendauer sich voraussichtlich über die Regelstudiendauer hinaus verzögern wird, zu 54 Prozent studienerschwerende Stressfaktoren und zu 51 Prozent psychische Beschwerden an. Im Vergleich zu Studierenden, deren Studienzeit sich voraussichtlich nicht verlängern wird, wirken sich besonders Leistungsdruck, Versagens- und Existenzängste verzögernd aus.

Heute wird vermittelt, dass für das ominöse „Danach“ – die Epoche, wenn das Studium endlich abgeschlossen ist – während der Studienzeit an nicht-studienspezifischen Erfahrungen gespart werden muss. Später ist schließlich auch noch Zeit. Stattdessen gilt es in Zusatzangebote Zeit und Energie zu investieren, um nachher möglichst wirtschaftlich verwertbar zu sein: sei es die dritte Fremdsprache oder das Jahr im Ausland. So schnell wie möglich soll das Masterstudium an den Bachelor angehängt, das Praktikum gemacht und man selbst für den Arbeitsmarkt perfekt gefeilt werden. Dabei hat sich die Bedeutung der Studiendauer in den letzten Jahrzehnten stark geändert. So musste man früher noch mindestens die angegebene Semesteranzahl studieren. Wer ein Studium schneller abschließen wollte, musste dies explizit beantragen – schließlich vertrat man die Auffassung, es brauche eben mindestens eine gewisse Semesteranzahl, um die jeweilige Disziplin zu meistern. Zwar lag früher die Durchschnittsstudienzeit auch über der Mindeststudienzeit, aber noch nie klaffte beides so weit auseinander wie heute. Während beispielsweise für das Bachelor-Studium Raumplanung an der Technischen Universität Wien die Studierenden durchschnittlich drei Semester länger brauchen, lag die durchschnittliche Studiendauer im Diplomstudium Geschichte jahrelang bei 13 Semestern statt bei den heute vorgegebenen acht.

Zwischen Schein und Sein. Das Bild der Studierenden, das medial vermittelt wird, schwankt stark: zwischen „Bummelstudierenden“, die hauptsächlich in der Sonne liegen und gegen alles und jeden demonstrieren, auf der einen Seite und dem konstruierten Idealbild der „Lebenslaufoptimierer_ innen“, die sich in Mindeststudienzeit mehrere Studienabschlüsse und Zusatzqualifikationen hart erarbeiten, auf der anderen Seite. Die Realität liegt aber wohl dazwischen. Die Gründe dafür, dass Studierende in Österreich ein Studium aufnehmen, sind vielfältig und spiegeln die Heterogenität der Studierenden wider. In der Sozialerhebung wird das Studienmotiv „Interesse am Fach“ auf einer fünfstufigen Skala im Durchschnitt mit 4,7 bewertet.

Auch für Anna-Chiara Barta waren die Berufsaussichten wenig ausschlaggebend: „Ein Studium an der Uni anzufangen, war wichtig für mich, um mich selber weiterzubilden“, erzählt sie. Ihre Eltern setzten sie zwar nicht unter Druck, ein Studium zu beginnen, aber dass ihre ältere Schwester bereits einen Uniabschluss hatte, war doch ein Faktor. Die 18-Jährige absolviert gerade die Studieneingangs- und Orientierungsphase (StEOP) an der Universität Wien – im zweiten Durchgang. „Ich bin bei einer Prüfung nicht angetreten, damit habe ich mein Toleranzsemester quasi schon aufgebraucht“, meint sie. Mit dem Abschluss in Mindestzeit wird es daher eher nichts. Die Studienwahl fiel bei ihr nach Interesse aus: Biologie und Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Letzteres allerdings nur für etwa zwei Wochen: „Es war einfach nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“ Ob sie Biologie zu Ende machen wird, ist unklar. „Geplant habe ich den Abschluss schon, aber vielleicht verlagern sich meine Interessen noch“, meint die Zweitsemestrige. Jetzt will sie Erfahrungen sammeln und vielleicht auch ins Ausland gehen.

Raus hier. Etwa ein Fünftel der Studierenden hat bereits ein Auslandssemester oder Auslandspraktikum absolviert. Weitere 15 Prozent planen noch einen Auslandsaufenthalt. Je älter die Studierenden sind, desto häufiger haben sie studienbezogene Auslandserfahrungen gemacht, die Mobilitätsaffinität sinkt jedoch mit dem Alter stetig.

Bereits relativ am Ende ihres Bachelor-Abschlusses steht Kristina Heidlinger. Die 20-jährige studiert im fünften Semester Informatik an der Technischen Universität Wien und braucht „nur noch ein paar Prüfungen“ für den Abschluss. Dass diese in einem Semester bewältigbar sind, zweifelt sie an, aber über das Toleranzsemester wird sie wahrscheinlich nicht kommen. Ein Auslandsaufenthalt ist schon fix einberechnet – aber eher im Master oder in ihrem Zweitstudium Politikwissenschaften. Dieses hat sie begonnen, weil ihr das Informatik-Studium alleine „etwas zu einseitig“ wäre. Dort ist sie im zweiten Semester. Dass sich ein Doppelstudium wahrscheinlich positiv auf Heidlingers Lebenslauf auswirken wird, ist ihr egal: „Es ging mir um das Interesse am Fach. Mit Informatik alleine hat man, denke ich, schon recht gute Chancen am Arbeitsmarkt.“ Neben ihren beiden Muttersprachen Deutsch und Slowakisch, spricht sie auch Englisch und Französisch, nun soll auch Schwedisch dazukommen.

Bummeln über der Mindeststudienzeit. Als Marx ihr Studium begonnen hat, hatte sie „keine Ahnung von der Institution Universität“. Sie kam aus einem 40-Stunden-Job und fand es sogar „etwas erschreckend, nur fünf Mal in der Woche dorthin zu müssen“. Wie viel Arbeit es ist, Seminararbeiten zu schreiben und für Prüfungen zu lernen, erkannte sie erst später: „Ich dachte, das geht ja in Windeseile, da muss ich ja schon in drei Jahren fertig sein.“ Nach den ersten Semestern wurden die Seminare anspruchsvoller und Marx ,,wurde‘‘ klar, dass es „unglaublich zeitaufwendig ist, ein Studium zu betreiben“. „Von Leuten, die ‚nur’ arbeiten, höre ich oft, dass ich als Studentin doch gar nichts zu tun hätte“, meint Barta. Dieses Semester muss die Studienanfängerin schließlich gar nicht auf die Uni – ihre Vorlesungen werden gestreamt. „Ich muss halt meinen Kopf anstrengen, auch wenn ich nicht auf der Uni sitze. Man hat ständig den Druck, Prüfungen zu schaffen. Gerade jetzt in der StEOP, die eine wichtige Entscheidung ist, wie’s mit meinem Studium weitergeht.“

Schnell Studieren für die Beihilfen. Neben psychologischen Problemen bei Studierenden mit höherer Studiendauer, kommt auch zusätzlicher Stress aufgrund ökonomischer Bedingungen hinzu. Im Durchschnitt liegt das Alter von Studierenden bei 27 Jahren. Für viele hat das seit einigen Jahren auch finanziell negative Folgen Im Oktober 2010 beschloss die Regierung, den Bezug der Familienbeihilfe mit Ende des 24. Lebensjahres zu streichen. Für Stipendien und andere Förderungen zählt die Studiendauer: Mindeststudienzeit plus Toleranzsemester, sonst muss man sich selbst um das gesamte Einkommen kümmern. „Bei mir ist es tricky geworden, als ich ein Selbsterhalter_innenstipendium bekommen habe. Da musste ich die vorgegebenen Semester einhalten“, erzählt Marx: „Dabei war aber nicht der Lernaufwand stressig, sondern die große Angst vorm finanziellen Prekariat.“

Vor dem Studium ist nach dem Studium. Was nach dem Studienabschluss kommt, steht für Barta noch in den Sternen: „Ich denke jetzt schon ein bisschen an das, was nach dem Studium kommt. In den Naturwissenschaften ist es eher schwierig, in die Forschung zu gehen, aber noch ist das weit weg. Ich bin ja erst in der StEOP“, meint Studienanfängerin Barta entspannt: „Ich glaube aber, das wird sicher noch kommen, wenn der Abschluss näherrückt.“

Bei Marx ist das schon passiert: „Nach dem Studium will ich jedenfalls noch ein Doktoratsstudium anhängen. Ich überlege, weiter wissenschaftlich zu arbeiten, vielleicht an der Universität zu bleiben.“ Dass sie ihr Studium nicht in der Mindestdauer absolviert, hält Marx für kein Hindernis. „Ich denke nicht, dass es in den Geisteswissenschaften so ist, dass die Person, die am schnellsten studiert, den Job bekommt, sondern andere Merkmale und Attribute zählen.“ Ab einem gewissen Alter gibt es jedoch trotzdem den Zwang sich zu rechtfertigen.

Um wissenschaftlich tätig zu sein, steht für sie als nächstes ein Praktikum bei einem Wissenschaftsverlag an. Somit tut sie es 43 Prozent ihrer Studienkolleg_innen gleich, die während ihrer Studienzeit schon mindestens ein Praktikum absolviert haben. Von ihnen hat ein Fünftel bisher ausschließlich freiwillige Praktika, weitere 15 Prozent ausschließlich Pflichtpraktika im Rahmen des Studiums und acht Prozent bereits Erfahrung mit beiden Arten gemacht. Auch Heidlinger hat bereits ein Praktikum absolviert. Zwei Monate unterstützte sie im Sommer 2012 eine Abteilung für Wirtschaftsinformatik. In dieser Zeit wurden Kontakte geknüpft und ein Überblick über das Unternehmen geboten. „Es war allerdings etwas, wo ich mir im Nachhinein sicher bin, dass ich es nicht machen will – daher waren das wohl nicht die wertvollsten Kontakte“, meint Heidlinger.

Dass es wesentlich wichtiger ist, auch andere Erfahrungen neben dem Studium zu sammeln, scheint für die meisten Studierenden zu stimmen. Marx ist beispielsweise in der Studienvertretung aktiv: „Natürlich lernt man dabei schnell Leute kennen und knüpft Kontakte. Das passiert zwar nicht auf der wissenschaftlichen Ebene, aber man tut sich bestimmt leichter nachher.“ Heidinger knüpft an: „Wer weiß, wie es später ist. Ich denke allerdings, dass ich mein ganzes Leben lang nebenbei studieren werde, weil ich das einfach so gerne mache.“

„Die Pflichtmitgliedschaft gibt der ÖH ein enormes Gewicht“

  • 12.05.2013, 12:41

Im letzten Teil des progress-Streitgesprächs der bundesweiten SpizenkandidaInnen Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) verraten die KandidatInnen ihre Koalitionswünsche, diskutieren über Beihilfenmodelle, Demokratie und darüber, wie die Institution ÖH eigentlich funktionieren soll. Die Fragen stellten Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger.

Im letzten Teil des progress-Streitgesprächs der bundesweiten SpizenkandidaInnen Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) verraten die KandidatInnen ihre Koalitionswünsche, diskutieren über Beihilfenmodelle, Demokratie und darüber, wie die Institution ÖH eigentlich funktionieren soll. Die Fragen stellten Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger.

progress: Auch zum Thema Beihilfen für Studierende finden sich bei allen Fraktionen Ideen und Änderungsvorschläge. Was sind eure Vorschläge?

Freidl: Das Beihilfensystem ist extrem löchrig, nur 15 Prozent aller Studierenden beziehen überhaupt konventionelle Studienbeihilfe. Das Beihilfensystem passt nicht mehr zu unserer Realität. Im Schnitt sind die Studierenden an unseren Unis 27 Jahre alt. Es macht also keinen Sinn, die Familienbeihilfe nur bis 24 auszubezahlen, vor allem auch für jene, die über den zweiten Bildungsweg an die Uni gekommen sind. Die starren Regeln Toleranzsemester betreffend, müssen gelockert werden. Es ist nicht Studierendenrealität ein Bachelorstudium in sieben Semestern abzuschließen. Ein dritter wesentlicher Punkt ist die Höhe der Beihilfen, die nicht mal annähernd auf dem Existenzminimum ist. Es werden etwa 300 bis 400 Euro durchschnittlich an Studienbeihilfe ausbezahlt. Die Studienbeihilfe ist seit 2008 nicht mehr an die Inflation angepasst worden. Studierende bekommen also jedes Jahr weniger an Beihilfen ausbezahlt.

Gamon: Wir wollen das Beihilfensystem an unser Modell des Bildungskredits koppeln. Auf der einen Seite sollen die Kosten für das Studium durch diesen Kredit gedeckt werden. Auf der anderen Seite denken wir, dass das Volumen an sozialen Beihilfen und Stipendien und auch Leistungsstipendien erhöht werden muss. Daran führt für uns kein Weg vorbei. Auch das Alter als Kriterium für den Beihilfenbezug ist für mich eine völlig willkürlich gewählte Grenze. Solange Menschen fleißig studieren und nachweisen können, dass sie studieren, finde ich es komplett irrelevant, wie lang sie das tun. Außerdem braucht es eine höhere Zuverdienstgrenze. Diese ist leistungsfeindlich und gehört auch sofort abgeschafft.

Fleischhacker: Die GRAS fordert ein Grundstipendium in der Höhe von 800 Euro, das für alle Studierende da sein soll, denn gerade wenn man Studiert, hat man hohe Lebenserhatungskosten. Das sieht man z.B daran, dass Studierende fast die Hälfte des Geldes, was sie zur Verfügung haben pro Monat,  alleine für Wohnen ausgeben müssen. Zusätzlich müssen sie  nebenher noch arbeiten und fallen dadurch schnell durch die Beihilfengrenzen. Gleichzeitig gibt es die Familienbeihilfe und die Stipendien, bei welchen man immer aufgrund des Einkommens der Eltern berechnet wird und das auch an die Eltern ausgezahlt wird.Wir sehen Studierende als junge Erwachsene, die selbst Teil der Gesellschaft sind und nicht nur auf ihre Eltern reduziert werden sollten – daher das Grundstipendium, damit man studieren kann ohne Hürden nebenbei.  

Kraushofer: Ich denke, bei diesem Thema sind wir uns alle einig: Die Höhe der Beihilfen muss steigen, ja auf jeden Fall. Es muss möglich sein, egal wie lange man studiert, Beihilfen zu beziehen. Welche Art der Beihilfe es ist, sei es Grundstipendium, Familienbeihilfe oder Studienbeihilfe, wie man das nennen will, ist irrelevant. Es muss jedenfalls möglich sein, dass man es sich leisten kann zu studieren, wenn man das möchte.

Lerchbammer: Die Beihilfen müssen auf jeden Fall ausgebaut werden. Wir wollen sorgenfrei studieren können und uns nicht mit finanziellen Problemen herumschlagen müssen. Daher Familienbeihilfe bis 27, Evaluierung der Zuverdienstgrenzen, Studienbeihilfe ausweiten, aber auch Leistungsstipendien erhöhen. Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, der in der gesamten Diskussion ein wenig zu kurz gekommen ist.  Dann müssen wir bei den anderen Ecken ansetzen, wo das Geld ausgegeben wird, wie zum Beispiel beim Wohnen oder Studierendentickets auf der Schiene.

Bankel: Die FEST fordert ebenso ein Grundeinkommen für Studierende. Dabei ist uns wichtig, dass das nicht mit dem Einkommen der Eltern in Verbindung gebracht wird. Weil nicht alle Studierenden in klassischen Familienverhältnissen leben. Grundsätzlich finden wir auch gut, wenn Studierende möglichst lange studieren können. Ein Grundeinkommen im Studium muss aber natürlich an Leistung im Studium gebunden sein und kann leider nicht bedingungslos sein.

progress: Ihr seid euch also weitgehend einig. Gibt es auch Kritikpunkte an den jeweils anderen Modellen?

Fleischhacker: Einen Kritikpunkt habe ich bei dem Modell der JuLis: Mit Krediten hat man wieder das Problem der Schulden.

Gamon: In unserem Modell ist es schon vorgesehen, dass zumutbar gestaltet wird, wie man das Geld zurückzahlt. Und auf der anderen Seite soll es eine staatliche Ausfallhaftung geben wenn die Schuld nicht komplett getilgt werden kann.

Freidl: Leistungsstipendien bekommt nur eine kleine, elitäre Gruppe an Studierenden. Die Unis können autonom entscheiden, wer ein Leistungsstipendium bekommt, es gibt nicht einmal einen Rechtsanspruch auf ein Leistungsstipendium. Deshalb finde ich nicht, dass das ein adäquates Mittel ist, um Studierende aus schlechter gestellten Schichten zu unterstützen.

Lerchbammer: Es geht darum, jene zu unterstützen, die eine Leistung erbracht haben und das auch zu fördern. Das ist doch eine gute Geschichte.

Freidl: Ich glaube, beim Beihilfensystem ist trotzdem ein wesentlicher Faktor, jenen Studierenden eine Hilfe zu geben, die es sich nicht leisten können. Es muss also so viel wie möglich in die Studierendenbeihilfe investiert werden. Leistungsstipendien sind eher etwas, das man der Studienbeihilfe zufließen lassen kann – anstatt denen, die schon genug Geld haben, noch mehr zu geben.

Kraushofer: Das Problem ist auch, dass Leistungsstipendien danach gehen, wie viele ECTS jemand erbringt und ob sehr viele Prüfungen erbracht werden können. Wenn man jetzt zu den Leuten gehört, die neben dem Studium arbeiten müssen, kann man auch nicht die große Masse an Prüfungen erbringen. Es wird einem privilegierten Menschen, der von den Eltern das Studium bezahlt bekommt, leichter fallen, möglichst viele ECTS mit möglichst guten Noten durchzudrücken. Ich will damit nicht sagen, dass Leistungsstipendien prinzipiell schlecht sind, aber so wie sie momentan geregelt sind, sind sie problematisch.

progress: Die Direktwahl der ÖH-Bundesvertretung ist vor den anstehenden Wahlen wieder ein umstrittenes Thema. Seit 2005 wird die Bundesvertretung der ÖH nur noch indirekt gewählt. Wann können Studierende mit einer Wahlrechtsreform rechnen?

Lerchbammer: Der Wahlmodus ist das eine, aber die Möglichkeit, dass jede und jeder Wählen kann, ist hier die viel drängendere Frage. Wie können wir sicherstellen, dass alle zur Wahl gehen können? Aktuell ist es nicht möglich, wenn jemand ein Auslandssemester macht oder an den drei Wahltagen gerade nicht an der Uni ist, dass diese Person an der Wahl teilnehmen kann. Daher ist die vorgelagerte Frage, wie schaffen wir es hier, dass alle Studierenden wählen gehen können?

Freidl: Bei dem Modell, dass von allen Fraktionen gemeinsam ausgearbeitet wurde und im bildungspolitischen Ausschuss einstimmig beschlossen wurde, war einerseits die Direktwahl von allen Hochschulorganen – Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Unis – vorgesehen. Um zu umgehen, dass Leute nicht vor Ort sein können, haben wir uns damals darauf geeinigt, einen alternativen Wahltermin anzubieten und beispielsweise die Möglichkeit zu schaffen im Ausland auf einer Botschaft wählen zu können. Damals hatte man sich eigentlich geeinigt. Deshalb finde ich es schade, dass immer die Briefwahl vorgeschoben wird.

 

progress: Soll es bei der nächsten ÖH-Wahl wieder eine Direktwahlmöglichkeit der Bundesvertretung geben können?

Gamon: Ich finde das jetzige Wahlrecht undemokratisch, weil eine Stimme von einer Uni mehr wert ist als von anderen. Das geht einfach nicht. Das war letztendlich nur eine Schikane gegen die damalige Exekutive, weil man ihr damit schaden konnte. Es ist auch relativ schnell umgesetzt worden. Jetzt war die Aktionsgemeinschaft dagegen und darum meinte der Minister, das könnte man nicht machen. Ich halte es für extrem schwierig, bei so einem wichtigen Thema ein anderes vorzuschieben. Ich bin auch für die Briefwahl, aber das hat in diesem Fall nichts miteinander zu tun. Es sind beides Aspekte einer Wahlrechtsreform, aber das eine ersetzt das andere nicht.

Lerchbammer: Wir als Aktionsgemeinschaft schlagen vor, dass wir uns zusammensetzen und überlegen, wie man PHs, FHs und Privatunis bestmöglich in das System eingliedert. Und wie ermöglichen wir, dass jeder zur Wahl gehen kann? Wir verwehren uns überhaupt keinem Modus, wir wollen nur, dass unsere Bedenken ausgeräumt werden. Wir wollen vorher sichergestellt wissen, dass auch kleine Universitäten gehört werden, dass alle wählen gehen können und dass es eine klare Anzahl an Mandaten gibt – wir fordern hier 55. Das sind alles Themen, die wir behandeln müssen.

Fleischhacker: Es gibt ein Modell, wo all diese Sachen besprochen wurden, und all diese Fragen geklärt wurden. Das wurde im Bildungspolitischen Ausschuss der ÖH beschlossen und in einer Arbeitsgruppe ausgearbeitet, wo auch von der AG VertreterInnen anwesend waren. Dann hat die AG beschlossen, dass sie das doch nicht wollen. Es gab dieses Modell. Ihr hättet ihm nur in der BV-Sitzung zustimmen müssen und euch nicht aus Feigheit jetzt davor drücken.

Kraushofer: Was wir damals beschlossen haben, war ein Konsenspapier. Alle konnten aufschreiben, was sie sich wünschen, dann wurde gestrichen, was jemandem nicht gepasst hat. Übrig blieb, was allen gepasst hat. Dafür gab es auch schon Zugeständnisse vom Ministerium, das war vor der letzten ÖH-Wahl. Ich werde jetzt sicher keine Briefwahl ausverhandeln, um dann nach der Wahl erst recht wieder keine Zusage zur Direktwahl zu bekommen.

Freidl: Das Problem bei dem letzten Vorschlag von der Aktionsgemeinschaft war die Forderung nach der Wahlkampfkostenrückerstattung.

Bankel: Die HSWO (Hochschülerinnen- und Hochschülerschaftswahlordnung, Anmk.)  Reform, die hier nicht durchgeht (Konsenspapier, Anmk.) beinhaltet eben auch einen Punkt, der uns extrem wichtig ist: das ist das passive Wahlrecht für Drittstaatsangehörige. Das wird aufgehalten, dadurch, dass wir keine Reform angehen. Ich verstehe nicht, warum die Briefwahl so ein großes Thema ist. Wir haben eine niedrige Wahlbeteiligung, aber das liegt nicht daran, dass es keine Briefwahl gibt. Wer nicht persönlich mit dem niedrigsten Aufwand schnell mal seinen Studierendenausweis auf der Uni herzeigt und einen Zettel einschmeißt, der wird sich bestimmt nicht für die Briefwahl registrieren lassen.  Außer es sind Funktionär_innen, die an mehreren Unis eingeschrieben sind und über Listenverbände so Mandate bekommen möchten. Sich so sehr dafür einzusetzen, das finde ich total verdächtig.

Lerchbammer: Wir sollten meiner Meinung nach eher darüber sprechen, wie man eine konstruktive ÖH gestaltet, bevor wir darüber sprechen, wie sie gewählt wird. Bei der Universitätsautonomie, der wir gegenüberstehen, spielt sich ein Großteil der Dinge, die uns betreffen, dort ab, wo wir Studieren. Die indirekte Wahl wertet die lokalen Vertretungen auf und stellt sicher, dass diese auch Stimmrecht in der  Bundesvertretung haben.

progress: Wie könnte man garantieren, dass die kleinen Universitäten gut eingebunden werden?

Kraushofer: Alle Vorsitzenden von allen Universitäten werden zu den Sitzungen der Bundesvertretung eingeladen und haben Antrags- und Rederecht. Die Sichtbarkeit ist dadurch in jedem Fall gegeben. Weiters gibt es die Vorsitzendenkonferenz, die ebenfalls bei den BV-Sitzungen vertreten ist und Anträge stellen kann. Das einzige, was die kleineren Universitäten möglicherweise nicht mehr hätten, wäre Stimmrecht. Alles andere ist jedenfalls gegeben.

Lerchbammer: Aber genau darum geht es doch. Wir wollen Mitbestimmung kleinerer Universitäten

Kraushofer: Wenn ich auf meiner Uni aber jetzt gerne die eine Fraktion habe, aber in der Bundesvertretung eine andere, muss ich mich entscheiden, was mir wichtiger ist. Darum ist das eben keine qualitative Verbesserung der Stellung der Universitätsvertretungen.

progress: In manchen Wahlprogrammen wird die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft der ÖH und die Umgestaltung dieser gefordert. Was spricht für und was gegen die Pflichtmitgliedschaft?

Gamon: Wir als Liberale treten für eine freiwillige Interessensvertretung ein. Ich sehe das als Instrument, um der ÖH mehr Gewicht zu geben und die ÖH dazu zu bringen, sich um ihre Mitglieder zu bemühen. Eine Lobby, die alle Studierenden hinter sich hat, die sich dazu entschieden haben hinter der ÖH zu stehen und Mitglied zu bleiben, hat einfach politisch mehr Gewicht. Die geringe Wahlbeteiligung und Beteiligung der Studierenden in der ÖH führt letztendlich dazu, dass sie keine starke Lobby mehr ist.

Fleischhacker: Ich sehe es genau umgekehrt. Gerade dadurch, dass es eine Pflichtmitgliedschaft gibt und dass alle Studierenden ÖH-Mitglieder sind, bekommt die ÖH ein enormes Gewicht gegenüber dem Ministerium, in Verhandlungen in Unigremien oder mit dem Staat. Im Rest von Europa gibt es wenige Studierendenvertretungen, die so gut wie die ÖH aufgestellt sind. Es gibt keine einzige andere Studierendenvertretung, die auch rechtlich so gut abgesichert ist und die so viel für Studierende machen kann. Meist bestehen diese Vertretungen aus drei bis fünf Personen, die um ihr Büro und Termine mit dem Ministerium kämpfen müssen. Die Pflichtmitgliedschaft gibt der ÖH ein enormes Gewicht.

Freidl: Es ist wichtig, dass die ÖH unabhängig agieren kann und die gesetzliche Studierendenvertretung gegenüber dem Ministerium ist. Die Pflichtmitgliedschaft gewährleistet das.

Lerchbammer: Nur so kann die ÖH eine starke Gewerkschaft für Studierende sein. Wir verstehen aber auch die Stimmen, die sie abschaffen wollen. Die Frage ist nicht die Mitgliedschaft, sondern wie wir es schaffen, die ÖH konstruktiv zu gestalten. Wie schaffen wir es, dass die Studierenden einen Mehrwert in der Mitgliedschaft sehen und gerne bereit sind diese 17,50 Euro zu zahlen?

progress: Die AG fordert, dass ab einem Budget von 100.000 Euro Projekte vom Ministerium genehmigt werden sollen. Wie kann sichergestellt werden, dass die ÖH eine starke Vertretung bleibt?

Lerchbammer: Es geht grundsätzlich darum, dass wir so große Ausgaben von einer Aufsichtsbehörde per Bescheid genehmigen lassen wollen. Diese kann man wie eine Wahlkommission beschicken, damit sie auch unabhängig ist. Wenn dann per Bescheid ausgestellt wird, dass eine Ausgabe im Sinne des HSG ist oder nicht, kann ein zweites Café Rosa verhindert werden. Um sicherzustellen, dass etwas nicht aus politischer Motivation heraus verhindert wird, kann gegen den Bescheid berufen werden. Am Ende liegt die Frage beim Verwaltungsgerichtshof, der unabhängig ist.

Freidl: Aber wir haben bereits Beschlussgrenzen von 7.000 und 15.000 Euro, die ÖH wird geprüft, es gibt Ausschüsse, die Kontrollkommission und den Rechnungshof, die alle die ÖH kontrollieren. Die Beschlussgrenzen jetzt weiter nach oben zu setzen, finde ich lächerlich. Ich finde es wichtig, dass die ÖH unabhängig vom Ministerium agieren kann.

Kraushofer: Wenn man ein Kontrollgremium nicht nach ÖH-Mehrheiten beschickt, muss es vom Ministerium passieren. Dann muss man bei Klagen, wie jenen gegen die autonomen Studiengebühren, erst einmal warten, bis das Kontrollgremium einen Beschluss gefasst hat, wenn es abgelehnt wird, kann man erst vor dem Verwaltungsgerichtshof berufen. Das ist ein langer und mühsamer Weg

Lerchbammer: Es ist bei Ausgaben von über 100.000 Euro gerechtfertigt, dass man vier Monate Vorlaufzeit hat. Es geht nicht darum, die jetzigen Beschlussgrenzen anzutasten, sondern die Kontrollmöglichkeiten der Realität zupassen, da es nach wie vor möglich ist, mit einem rechtswidrigen Umgehungsgeschäft eine halbe Million Euro zu vernichten. Bereits jetzt werden Wirtschaftsbetriebe geprüft, besser ist aber ein absoluter Geldbetrag, der nicht von der Form des Geschäfts abhängt.

progress: Letzte Frage: Mit wem wollt ihr nach den Wahlen zusammenarbeiten und was ist das eine wichtigste Projekt eurer Fraktion?

Lerchbammer: Wir würden grundsätzlich mit allen koalieren, die gemeinsam mit uns Lösungen anbieten, denen Inhalte wichtiger sind als Ideologien. Wir wollen die nächsten zwei Jahre für mehr Qualität im Studium aufwenden. Wir setzen uns für Betreuungsverhältnisse und die Einbindung der Universitäten ins Transparenzgesetz ein. Wir wollen, dass jeder einen echten Studienplatz hat, durch eine Studienplatzfinanzierung und faire und transparente Zugangsregelungen. Wir wollen auch, dass es in Zukunft nicht mehr möglich ist, eine halbe Million Euro für ein umstrittenes Projekt auszugeben.

Kraushofer: Wir schließen prinzipiell nur den RFS aus, werden aber auch nicht in eine Koalition gehen, die Studiengebühren oder Zugangsbeschränkungen fordert. Mit der FEST können wir sehr gut, das wird sich aber nicht absolut ausgehen. Darum werden wir nach den Wahlen sehen, wer sonst noch zur Verfügung steht. Wir sind uns mit der AG einig, dass wir für mehr Qualität im Studium sorgen wollen, allerdings haben wir da andere Ansätze. Wir wollen uns weiterhin mit Qualitätssicherung und Studienrecht beschäftigen und uns dafür einsetzen, dass die Universitäten endlich ausfinanziert werden.

Freidl: Wir setzen uns für ein faires Beihilfensystem ein, damit studieren wieder für alle leistbar ist. Außerdem haben wir konkrete Projekte, die wir in der ÖH umsetzen wollen: einen  Didaktik-Leitfaden, den wir gemeinsam mit Professor_innen, Expert_innen, Studierenden und Lehrenden herausbringen wollen, damit wir die Qualität der Lehre steigern können; ein Gütesiegel für Studierendenwohnheime, damit die Infrastruktur und das Preis/Leistungsverhältnis wieder passen. Wir wollen das Beratungsangebot ausbauen, zum Beispiel mit dem Vertragscheck. Nach den Wahlen werden wir sehen, mit wem wir diese Projekte am besten umsetzen können. Klar ist, dass wir den RFS ausschließen, er steht weit rechts ist nicht mit unseren Grundsätzen vereinbar.

Fleischhacker: Wir wollen ein „Studium-Generale“ für mehr Orientierung an den Unis. Im Bereich Wohnen fordern wir die Abschaffung der Vergebührung der Mietverträge, sowie einen Aus- und Neubau von Studierendenwohnheimen. Im Bereich Mobilität wollen wir Gratis-Öffis, Fahrradwege und –abstellplätze an den Unis selbst. Ein wichtiger Bereich für uns ist auch jener der Barrierefreiheit an den Hochschulen. Wir schließen den RFS, die AG und die JuLis aus, weil wir für einen freien und offenen Hochschulzugang stehen.

Gamon: Wir schließen generell niemanden aus, das  finde ich demokratiepolitisch nicht okay. Wir kommen mit rechts- und linksextremen Fraktionen aber ob ihrer Ideologie nicht zusammen. Die JuLis heben sich inhaltlich von der Masse ab, daher glaube ich nicht, dass wir uns – egal in welcher Koalition – sofort für nachgelagerte Studiengebühren einsetzen würden. Das wäre etwas überheblich. In einer Koalition wollen wir uns dafür einsetzen, dass es Bewegung gibt. Das hat mir in den letzten zwei Jahren gefehlt. Man war sehr damit beschäftigt Dinge zu bekämpfen und hat keine Zeit mehr gefunden, sich für etwas Positives einzusetzen.

Bankel: Wir als FEST finden, dass die letzten vier Jahre gut funktioniert haben und können uns vorstellen, dass wir auch weiter zusammen arbeiten. Uns ist eine inhaltliche Überschneidung mit Koalitionspartner_innen sehr wichtig, aber auch dass sauber gearbeitet wird, wenn es um Finanzgebarung und Auftragsvergabe geht.

 

"Ich hätte gerne Zugangsregeln gehabt"

  • 09.05.2013, 14:26

Im zweiten Teil der progress-SpitzenkandidatInnendiskussion mit Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) werden Positionen zu Zugangsbeschränkungen, Studienorientierung und Frauenförderung abgeklopft. Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger moderierten die Runde.

Im zweiten Teil der progress-SpitzenkandidatInnendiskussion mit Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) werden Positionen zu Zugangsbeschränkungen, Studienorientierung und Frauenförderung abgeklopft. Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger moderierten die Runde.

pogress: Gerade wurden in fünf neuen Fächergruppen Zugangsregelungen eingeführt. Die derzeitigen Exekutiv-Fraktionen (bestehend aus FLÖ, VSStÖ, GRAS und FEST, Anmk.) treten gegen sämtliche Zugangsbeschränkungen auf, JuLis und AG sehen das anders…

Lerchbammer: Wir sind für faire und transparente Zugangsregeln, dort wo es mehr Bewerber als Kapazitäten gibt. Es ist eine Frage der Grundehrlichkeit, wenn man jemanden auf die Uni lässt, dass man ihn auch in den Hörsaal lässt. Das heißt, wenn man sich irgendwo inskribiert, muss auch ein Studienplatz garantiert sein, damit man in Mindeststudienzeit studieren kann und nicht bei Prüfungsanmeldungen zittern muss. Über faire und transparente Zugangsregeln kann das sichergestellt werden. Knock-Out Prüfungen werden somit obsolet, weil eine Studieneingangs- und Orientierungsphase dann auch wirklich zu einer solchen wird. Damit kann man sich wieder aufs Studieren konzentrieren.

Freidl: Die Frage ist, wer kann sich aufs Studieren konzentrieren, wer ist dann überhaupt noch auf der Hochschule? Man hat das bei der Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium gesehen. Vor der Einführung dieses Tests war die Quote von Studierenden aus finanziell schlechter gestellten Schichten schon schlecht, bei etwa 16 Prozent. Nachdem die Aufnahmeprüfungen gekommen sind, lag sie nur mehr bei 8 Prozent.

progress: Was ist dann die Alternative?

Freidl: Wir setzen bei einer wirklichen Orientierungsphase an. Dabei muss schon bei der Information an den Schulen angesetzt werden. Andererseits wollen wir, dass Studierende sich im ersten Semester an drei verschiedenen Hochschulen verschiedene Studienrichtungen ansehen können.  Durch so eine Orientierungsphase kann man Studierendenströme viel studierendengerechter steuern als durch Zugangsbeschränkungen.

Lerchbammer: Bei einer Orientierungsphase sind wir auf jeden Fall dabei und wir fordern einen Ausbau der Studienplätze. Auf der anderen Seite brauchen wir aber Zugangsregeln dort, wo es mehr Bewerber als Kapazitäten gibt. Aktuell fallen jene Leute aus dem System, die nicht den finanziellen Atem haben über die Mindestzeit hinaus zu studieren. Ein Drittel ist mit Kapazitätsproblemen konfrontiert und wenn man mit 24 die Familienbeihilfe verliert und sich das Studium nicht mehr leisten kann, dann bleiben nur mehr diejenigen über, deren Eltern das dicke Geldbörsel haben. Was die soziale Durchmischung betrifft: Auf den Fachhochschulen ist die Durchmischung besser und da gibt es Zugangsregeln.

Bankel: Die soziale Durchmischung an Fachhochschulen ist aber auch deshalb besser, weil man dort zum Beispiel berufsbegleitend studieren kann. Das hat nichts mit Zugangsbeschränkungen zu tun, sondern mit einem klaren Bekenntnis des Staats zur Bildung.

Freidl: Bei der Psychologie gibt es auch Aufnahmeprüfungen und die Studierenden sitzen trotzdem am Boden. Das heißt, durch Zugangsbeschränkungen wirst du das Kapazitätsproblem nicht lösen können.

Lerchbammer: Mit einer echten Studienplatzfinanzierung schon.

Bankel: Und wer soll über diese Kapazitäten entscheiden?

Lerchbammer: Die Regierung entscheidet darüber. Wir können dann dort mehr Plätze fordern, wo es zu wenig gibt. Wenn du die bessere Vereinbarkeit von Studium und Beruf auf den Fachhochschulen ansprichst: Na bitte, dann machen wir das auch an den Unis.

Fleischhacker: Ja, aber dass es an den Unis Teilzeitstudien geben soll, bedingt nicht, dass es Zugangsbeschränkungen geben muss. Zugangsbeschränkungen sind eine ganz andere Geschichte. Was ist zum Beispiel, wenn man die Aufnahmeprüfung nicht schafft? Dann muss man ein Jahr warten, verliert die ganzen Beihilfen usw. Worum es gehen muss, ist eine sinnvolle Orientierung, wenn man an die Uni kommt, bei der man sich verschiedene Studienrichtungen anschauen kann. Natürlich soll jedeR einen Platz im Seminarraum bekommen, aber da sind Zugangsbeschränkungen nicht die Lösung. Das ist nur Symptombekämpfung.

Lerchbammer: Da lassen GRAS, VSStÖ, FEST und FLÖ mich als Student am Boden sitzen. Ich verliere die Zeit nicht, weil ich nicht auf die Uni komme, sondern weil ich auf der Uni nicht in den Hörsaal komme. 52 Prozent schätzen ihre Studienzeit so ein, dass sie aus der Regelzeit hinausfallen, die Mindeststudienzeit ist aktuell eine Illusion, die für viele nicht erreichbar ist. An Fachhochschulen wird die Zustimmung zum Studium mit sehr gut bewertet, das ist etwas, wovon wir auf den Universitäten nur träumen können.

Kraushofer: Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Systeme. Das Problem ist doch eigentlich, dass die Universitäten immer gerade so viel Geld bekommen, dass sie überleben können. Wenn du dieser Problematik mit Hilfe der für das Ministerium sehr angenehmen und einfachen Lösung „Zugangsbeschränkungen“ ausweichst, erreichst du, dass das eigentliche Problem der Unterfinanzierung langfristig nicht mehr diskutiert wird. Wir bleiben dann auf den Zugangsbeschränkungen sitzen, die sich über die Jahre wahrscheinlich noch verschärfen werden. Und die AkademikerInnenquote wird weiter sinken.

Lerchbammer: Ich hätte gerne Zugangsregeln gehabt. 65 Prozent geben an, dass eine STEOP in dieser Form, die für Knock-Out-Prüfungen missbraucht wird, zum Studienabbruch führt. Was hilft es, wenn wir darauf hoffen, dass sich in zehn Jahren etwas verbessert. Ich sitze jetzt am Boden, ich weiß nicht, wann ich mit meinem Studium fertig werden kann.

Fleischhacker: Ja, aber du sagst selbst, dass es jetzt schon Nock-Out-Prüfungen gibt. Und die sind Teil von Zugangsbeschränkungen. Das macht das System ja nicht besser.

Freidl: Flo, du kannst doch nicht irgendwelche Zahlen aneinander reihen und meinen, dass sie deswegen einen kausalen Zusammenhang haben. Wir wissen, dass es zu wenig Kapazitäten gibt, aber das werden wir nicht durch Zugangsbeschränkungen lösen können. Unzählige Beispiele zeigen, dass das nicht der Fall ist.

Lerchbammer: Du wirst mich nicht vom Boden wegbekommen, indem du Luftschlössern hinterherjagst.

Freidl: Ich jage keinem Luftschloss hinterher. Aber dem Wissenschaftsminister die Forderungen von den Lippen abzulesen, anstatt selber etwas zu fordern, was den Studierenden hilft, ist auch nicht die Lösung. Dass viele Studierende ihr Studium abbrechen, hat vor allem den Grund, dass sie finanziell schlecht abgesichert sind. 60 Prozent der Studierenden müssen nebenbei arbeiten, 11 Prozent sogar über 35 Stunden in der Woche. Das ist ein viel größeres Problem.

Lerchbammer: Wie willst du mich in mein Seminar hineinsetzen?

Bankel: Ich würde gern weg von diesem scheinbaren Zusammenhang von Kapazitäten und Zugangsbeschränkungen. Es gibt keine transparenten oder fairen Zugangsbeschränkungen. Ich habe bisher vier verschiedene Zulassungsprüfungen bestanden und kann aus dieser Erfahrung sagen, das Kriterium hätte genau so gut sein können, dass diejenigen mit grünen Augen aufgenommen werden. Eine Prüfung ist auch immer nur eine Momentaufnahme deines Zustands an einem bestimmten Tag.

Gamon: Ich bin derzeit in einem zugangsbeschränkten Master. Die Studierenden sind in Österreich aber mitunter auch falsch verteilt. Unglaublich viele beginnen z.B. ein BWL-Studium oder ein anderes Massenfach, für das sie sich eigentlich nicht interessieren und wechseln dann nach zwei drei Semestern. Dadurch haben sie aber, grob gesagt, anderen Studenten, die sich vielleicht wirklich dafür interessieren, ihren Platz weggenommen. Ich glaube, einem erwachsenen Menschen kann man abverlangen, dass er sich mit dem Angebot beschäftigt. Die Leute können immerhin auch schon wählen. Dann kann man auch verlangen, dass er sich auf Zugangsbeschränkungen vorbereitet. Die fehlende soziale Mischung hat noch andere Gründe.

progress: Welche Gründe sprichst du an?

Gamon: Dass sich Menschen bereits mit zehn Jahren für eine Bildungslaufbahn entscheiden müssen, ist hier meiner Meinung nach das größte Problem.

Freidl: Natürlich muss man beim Schulsystem ansetzen und natürlich soll es genug Zeit geben, um schauen zu können, welches Studium zu einem passt. Genau deswegen wollen wir bei einer Orientierungsphase ansetzen. Ich bin auch in einem zugangsbeschränkten Master auf der WU und in den ersten Lehrveranstaltungen haben sie uns bereits gesagt: Wenn wir nebenbei arbeiten müssen, wird das nicht funtktionieren. Wenn man dann noch dazu den Universitäten die Autonomie dazu gibt – also ich will nicht, dass Rektor Badelt alleine entscheidet, wie Zugangsbeschränkungen aussehen sollen.

Gamon: Bei meinem Master hatte ich das Gefühl, dass es ein relativ faires Verfahren war. Man hat sich die Lebensläufe angeschaut, es hat Interviews gegeben, das war alles sehr ausgewogen.

Fleischhacker: Da sind wir doch genau wieder bei dem, was Anna Lena vorhin schon angeschnitten hat: In welcher Tagesverfassung bin ich gerade oder wie passt der Prüfungsmodus zu meinen Typ? Das ist nicht fair. Es gibt Leute, die in einem Prüfungsmodus besser sind oder eben im anderen. Worum es geht, und das hast du eh auch schon angeschnitten, ist Orientierung und eine gescheite Überleitung von der Schule auf die Hochschule.

Kraushofer: Ich würde gerne noch auf den Aspekt eingehen, dass es zumutbar sein muss, dass Leute sich damit beschäftigen, was sie machen wollen und das würden sie tun, wenn es ein Aufnahmeverfahren gibt. Jetzt nehmen wir an, dass alle, die zu einem Aufnahmeverfahren kommen, sich bereits damit auseinandergesetzt und sich entschieden haben. Dann muss aber immer noch selektiert werden. Damit habe ich dann ein Problem. Ich stimme Claudia aber zu, dass sich Leute müssen damit auseinandersetzen müssen, was sie studieren wollen und da tut die ÖH auch gerade sehr viel.

progress: In beinahe allen Wahlprogrammen findet sich die Forderung nach Frauenförderung. Wie soll diese aus eurer Sicht aussehen und wie unterscheidet ihr euch diesbezüglich?

Freidl: Ein wichtiger Punkt sind für uns Praktika: Es sind vor allem Frauen, die niedriger bezahlt und oft nicht ihren Qualifikationen gemäß beschäftigt werden. Zweitens ist uns die Förderung von Frauen in technischen Berufen ein Anliegen: An der TU ist der Frauenanteil extrem gering. Hier muss schon in der Schule angesetzt werden, es benötigt aber auch Mentoring-Programme in den jeweiligen Studien – explizit für Frauen. Außerdem fordern wir die Offenlegung der Gehälter an den Universitäten. Frauen werden noch immer schlechter bezahlt als Männer. Das hört auch nicht an den Eingängen der Hochschulen auf. Frauen sollen durch die Offenlegung eine bessere Grundlage haben, um höhere Gehälter zu fordern und gleichzeitig wird Ungleichgewicht sichtbar gemacht.

Lerchbammer: Bei uns ist es leichter: Geschlecht soll in keinem Fall eine Rolle spielen, weder bei der Bezahlung noch sonstwo. Es muss die Leistung im Vordergrund stehen. Leistung ist ein faires Auswahlkriterium. Kein Geschlecht soll schlechter gestellt werden, es soll um die Person gehen. Deswegen lehnen wir auch jegliche Quotenregelungen ab: Sie diskriminieren immer das andere Geschlecht und sie widersprechen fairen Auswahlverfahren. Für uns als AG müssen Leistung und Person im Vordergrund stehen.

Fleischhacker: In unserer Gesellschaft spielt Geschlecht aber eine Rolle.

Lerchbammer: Deswegen muss ich bei den Rahmenbedingungen ansetzten, damit das keine Rolle spielen kann.

Bankel: Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass das Geschlecht eine Rolle spielt. Es ist einfach die Realität, dass Frauen diskriminiert werden, wenn es beispielsweise um Jobs oder Gehälter geht.

Lerchbammer: Wo wirst du auf der Uni diskriminiert? Männer sind beispielsweise beim letzten EMS-Test diskriminiert worden.

Bankel: Ich wurde gegenüber meinen männlichen Mitstudenten die ganze Zeit diskriminiert. Zum Beispiel wurden nur Männer bei den Professoren in Ateliers aufgenommen. Sie haben nie eine Frau als Praktikantin beschäftigt. Auch hinter einer Quotenregelung stehen wir. Dafür sprechen wir uns aus, auch beim EMS-Test. Wenn es um uns selbst, innerhalb unserer Fraktion geht, ebenso. Die FEST hat einen starken Männerüberhang, weshalb bei uns speziell Frauen gefördert werden.

Gamon: Als Liberale bin ich gegen Quoten und ich pflichte Florian auch bei, dass die Leistung im Vordergrund stehen soll. Wir gehen hier aber von der österreichischen Realität aus und da geht es oft nicht um Leistung sondern um Netzwerke und Beziehungen. Gerade an der WU haben wir kaum Frauen in der Forschung und kaum Professorinnen. Wenige gehen den Weg der Forschung, weil sie nicht gefördert werden. Dabei würde die Uni letztendlich davon profitieren. Ich bin dafür, dass man Frauen aktiv fördert, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht in die Forschung gehen: weil sie sich diskriminiert fühlen, weil sie es auch werden und weil sie nicht dazu aufgefordert werden. Wenn man anerkennt, dass viele Frauen in der Forschung und Lehre für eine Uni wichtig sind, muss man das fördern. Wir wurden lange diskriminiert und es gibt noch keine echte Gleichberechtigung in Österreich.

Lerchbammer: Förderprogramme sind gut und richtig. Da sind wir auch dabei, aber für beide Geschlechter und vor allem für Talente.

Fleischhacker: Man hat selbst im Jahr 2013 keine Gleichstellung. Frauen werden auf vielen Ebenen diskriminiert. Gerade wenn man sich ansieht, wie viele Studienanfängerinnen es gibt und wie die Zahl sich dann nach oben hin ausdünnt. Wir haben fünf Rektorinnen in Österreich, aber es gibt sicher nicht nur fünf fähige Frauen, sondern unglaublich viele Hindernisse, die Frauen davon abhalten in solche Positionen zu kommen. Die Quote ist dazu da, dass bei gleicher Leistung die Frau bevorzugt wird. Die Quote ist auch nur so einzusetzen bis man zu einer Gleichstellung kommt – also bis man bei 50 zu 50 Prozent steht.

Freidl: Es gibt jetzt schon inoffizielle 80 bis 90prozentige Männerquoten …

Kraushofer: …etwa unter den ProfessorInnen an der TU Wien. So sieht’s eben in der Realität aus. Wir können das Problem nicht einfach wegreden oder verleugnen. Es gibt ein Problem und es geht uns etwas an. Ich finde, dass sich die ÖH damit beschäftigen kann. Ich finde es polemisch zu sagen, es müssen alle gleich behandelt werden, ohne sich die Frage zu stellen, warum ist es so, dass eben nicht alle gleichberechtigt sind.

Lerchbammer: Dann sollten aber die Hindernisse abgebaut werden. Das heißt aber auch keine Hindernisse für Männer aufzubauen.

Bankel: Als Mann siehst du es dann vielleicht so, dass du diskriminiert wirst, aber es ist eine Art Umverteilung von Machtverhältnissen. Genauso wie Leute, die mehr verdienen auch höhere Steuern zahlen müssen, müssen auch Männer Abstriche machen.

„Die gesetzliche Grundlage muss für alle Hochschultypen einheitlich sein“

  • 08.05.2013, 12:14

In drei Teilen stellt progress euch die Positionen der bundesweiten SpitzenkandidatInnen aller Fraktionen mit Klubstatus in der ÖH-Bundesvertretung vor. Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) diskutierten im ersten Teil Fragen zur Bedeutung von Hochschulen, deren Finanzierung und Qualität im Studium. Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger moderierten die Runde.

In drei Teilen stellt progress euch die Positionen der bundesweiten SpitzenkandidatInnen aller Fraktionen mit Klubstatus in der ÖH-Bundesvertretung vor. Florian Lerchbammer (AG), Anna Lena Bankel (FEST), Florian Kraushofer (FLÖ), Marie Fleischhacker (GRAS), Claudia Gamon (JuLis) und Julia Freidl (VSStÖ) diskutierten im ersten Teil Fragen zur Bedeutung von Hochschulen, deren Finanzierung und Qualität im Studium. Oona Kroisleitner und Georg Sattelberger moderierten die Runde.

progress: Wir haben euch gebeten einen Gegenstand mitzubringen, den ihr mit Hochschule verbindet. Welche Bedeutung haben Hochschulen für euch? 

Marie Fleischhacker: Ich habe einen Kompass mitgebracht. Der passt für mich perfekt, da Orientierung an den Hochschulen oft fehlt. Die STEOP soll durch ein „Studium-Generale“ ersetzt werden, bei dem man sich während der ersten beiden Semester orientieren kann und Lehrveranstaltungen aus verschiedensten Bereichen absolvieren kann, um so verschiedene Studienrichtungen kennenzulernen. So sollen StudienanfängerInnen tatsächliche Orientierung bekommen.

Julia Freidl: Für mich und für uns als VSStÖ bedeutet Hochschule Bildung und vor allem kritische Bildung. An der Wirtschaftsuniversität habe ich erlebt, dass die Neoklassik am Serviertablett angeboten wird, es aber keinen Platz für andere Strömungen und Sichtweisen gibt. In der Wirtschaftskrise hat man gesehen, dass die Neoklassik nicht die Lösung für alles ist. Genau deswegen ist kritische Bildung wichtig. Ich habe Bücher von verschiedenen heterodoxen ÖkonomInnen mitgebracht. Besonders aus Sicht der Wirtschaftsuni soll heterodoxe Ökonomie kein Nischenangebot bleiben.

Florian Kraushofer: Ich habe ein Universitätsgesetz (UG) mitgebracht. Das ist meine deutlichste Assoziation mit Hochschulen. Am UG wird gerne sofort herumgedoktort, wenn man auch nur denkt einen Bruchteil einer Lösung zu haben. Das UG ist natürlich auch das Gesetz, das festlegt, wie Hochschulen funktionieren, was sie formt und dort muss man auch ansetzen. Hochschule bedeutet natürlich kritisches Denken, selbstständiges Lernen und sich Gedanken über das zu machen, was einem vorher nicht serviert worden ist – wo man etwas ausprobieren kann.

Florian Lerchbammer: Universität ist ein Ort von Bildung und nicht von Ausbildung. Wir sind aufgefordert die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass wir sorgenfrei studieren können. Für die AG habe ich eine überdimensional große Taschenlampe mitgebracht, weil wir einen Schwerpunkt auf Transparenz legen möchten. Wir wollen die Einbindung der Universitäten in das Transparenzgesetz, um eine effizientere Mittelverwendung zu erreichen, damit am Ende des Tages mehr Geld überbleibt und wir somit mehr ausfinanzierte Studienplätze haben. In Zukunft soll bei einer Mittelerhöhung nicht das Prinzip der Gießkanne zum Tragen kommen, sondern das Geld in den Hörsaal fließen, wo es hin sollte.

Anna Lena Bankel: Derzeit symbolisiert Hochschule für mich und für uns als FEST ein mit Ketten verschlossenes Buch. Hochschulen definieren sich darüber, wer nicht hinein soll, wer dementsprechend von den Hochschulen ausgeschlossen sein soll. Dabei wird dauernd die Kapazitätenfrage vorgeschoben, anstatt kreative Lösungen zu suchen. Hochschulen müssen das kritische Denken fördern. Das kann aber bereits im Kindergarten beginnen. Auf jeder Ebene von Bildung kann kritisches Denken gefördert werden, nicht erst bei Master und PHD.

Claudia Gamon: Ich habe von John S. Mill „Über die Freiheit“ mitgenommen. Die Uni ist für mich eine Bildungsstätte. Für mich als Landpomeranze war es eine tolle Erfahrung, andere Menschen kennenzulernen, mit denen man leidenschaftlich über Ökonomie diskutieren kann. Wissen bedingt die Freiheit und umgekehrt. Das Buch hat auch eine besondere Bedeutung: Ein Kurs über Ethik und Ökonomie war die einzige Wahlfreiheit, die ich in meinem Bachelor hatte. Dort habe ich das Buch das erste Mal gelesen. Im Nachhinein hätte ich mir mehr Freiheit im Studium gewünscht.

progress: . Zumindest zwei von Euch fordern verstärkte Hochschulfinanzierung aus dem privaten Sektor. Was sind die Für und Wider zusätzlicher Drittmittelfinanzierung?

Lerchbammer: Neben der Forderung, dass es mehr Geld von der Regierung braucht, gehen wir einen Schritt weiter: Wir sollten wirklich darüber nachdenken mehr private – also Drittmittel – in das Hochschulbudget zu integrieren. Es macht keinen Unterschied, ob der Hörsaal den Namen eines Unternehmens trägt, es macht aber sehr wohl einen Unterschied, wie viel Platz in einem Hörsaal ist und welche Infrastruktur wir vorfinden. Natürlich muss sichergestellt werden, dass sogenannte Orchideenfächer von der Regierung finanziert werden und nicht unter die Räder von wirtschaftlichen Interessen kommen.

Gamon: Solange die Regeln klar sind und Lehre und Forschung unabhängig sind, habe ich kein Problem damit. Ich glaube, dass Angst davor besteht, in eine Abhängigkeit zu fallen. Viele Studien können von einer größeren Involvierung der Wirtschaft und einem größeren Praxisbezug profitieren. Gerade in technischen Studien gibt es viele Möglichkeiten, bereits während dem Studium mit Unternehmen zusammenzuarbeiten. Auf der TU gibt es ja Beispiele für tolle Kooperationen und ich glaube, das könnte man weiter unterstützen.

Kraushofer: Prinzipiell ist für uns Drittmittelfinanzierung nicht das Feindbild schlechthin. Wenn die Unabhängigkeit der Universitäten garantiert ist, dann darf das ruhig auch passieren. Garantiert ist das aber natürlich nur, wenn die Universitäten bereits vom Staat ausfinanziert sind, was wir auch fordern. Dass man einen Hörsaal nach jemandem benennt und dafür Geld über Jahre hinweg Geld bekommt, ist illusorisch.

Lerchbammer: Das war ja nur ein plakatives Beispiel.

Kraushofer: Ja, eines wo offensichtlich ist, dass es harmlos ist. Wenn man aber an Forschung gebundene Drittmittel lukriert, dann sind die Ergebnisse oft nicht öffentlich und dürfen nur von dem Unternehmen, das die Forschung gesponsert hat, verwendet werden. Forschungsergebnisse, die auf einer Universität gewonnen werden, sollen aber der Gesellschaft zugutekommen.

Gamon: Das stimmt. Aber der Grund dafür ist die fehlende Grundfinanzierung. Deswegen fühlen sich Universitäten bis zu einem gewissen Grad gezwungen, solche Verträge einzugehen. Das ist eher das Problem und nicht die Drittmittelfinanzierung an sich.

Freidl: Es ist aber auch eine berechtigte Angst, dass durch Auftragsforschung die Grundlagenforschung zur Seite gedrängt wird und nur mehr jene Forschung, bei der Gewinn für Unternehmen rausschaut, im Vordergrund steht. Deshalb sollten wir uns in erster Linie um eine Ausfinanzierung der Hochschulen bemühen, dann können wir über Drittmittel sprechen.

Fleischhacker: Das Problem bei Drittmitteln ist, dass die Studierenden ausgebeutet werden. Zum Beispiel auf Fachhochschulen erbringen Studierende über Ausbildungsverträge Leistungen, die an Konzerne gehen und nur von diesen verwendet werden dürfen. Die Studierenden haben dann bis zu zehn Jahre überhaupt kein Recht mehr etwas von dem, was sie in ein Projekt hineingesteckt haben, zu verwenden. So dürfen Hochschulen nicht finanziert werden.

Bankel: Das Problem liegt besonders dort, wo Unternehmen in Infrastruktur investieren wollen. Das sind eben keine Spenden sondern Investitionen, für die eine Gegenleistung erwartet wird. Studiengänge, die Unternehmen mehr interessieren als andere, werden so immer besser ausgestattet. Warum kann es nicht möglich sein, in einen Fond einzuzahlen, aus dem dann über alle Hochschultypen und Studiengänge verteilt wird? Dann wird plötzlich klar, dass Unternehmen ihren eignen Interessen nachgehen und dass das Hauptinteresse eben nicht Bildung ist, sondern gewisse Ausbildungsarten zu fördern.

progress: Wenn die Differenz auf die zwei Prozent des BIPs nicht aus Drittmittel kommen soll, woher dann?

Freidl (lacht): Vom Staat braucht es zunächst ein Einsehen, dass in Bildung investiert werden muss – 1,3 Prozent des BIPs für die Hochschulen sind zu wenig. Vermögensbezogene Steuern könnten etwa 3 Milliarden Euro zum Budget beitragen. Es gibt eine Berechnung der AK, die zeigt, dass durch die Wiedereinführung der Erbschafts- und Schenkungssteuer zusätzliche 500 bis 700 Millionen Euro in das Budget fließen könnten. Die Anpassung der Grundwerte bei der Grundsteuer, die seit den 1970er Jahren nicht mehr verändert wurden, könnte weitere 500 Millionen Euro bringen. Und dann die allgemeinen Vermögenssteuern.

Lerchbammer: Anstatt zu überlegen, wie wir irgendwelchen Leuten Geld wegnehmen, wäre es ein besserer Ansatz darüber nachzudenken, wie wir das Budget verteilen. Wir als ÖH könnten uns ja auch dafür einsetzen, dass Geld weg von den Pensionisten und Pensionistinnen hin zu den Studierenden kommt. Aber dass wir uns Gedanken über Vermögenssteuern machen, geht zu weit.

Freidl: Es geht nicht ums Geldwegnehmen sondern um Umverteilung, also um Verteilungsgerechtigkeit.

Kraushofer: Es sollte nicht Aufgabe der ÖH sein, sich ein Opfer zu suchen – seien es die Reichen oder die PensionistInnen. Bildung ist eine Investition, auch für den Staat Österreich. Es ist total bescheuert zu sagen, wir investieren in diesen Bereich nicht. Das wird auch Österreich teuer zu stehen kommen – in 30 oder 40 Jahren. Es muss für den Staat möglich sein dieses Geld aufzutreiben.

Gamon: Es muss um ein Bekenntnis für Wissenschaft und Bildung gehen, weil das die einzige nachhaltige Ressource ist, die der österreichische Wohlstand hat. Ich würde es aber ablehnen, dass die ÖH dazu Stellung bezieht, wo man das Geld abziehen soll. Vermögenssteuern würde ich aber ablehnen.

Fleischhacker: Es braucht den politischen Willen, mehr Geld in Bildung zu investieren. Bei den Vermögenssteuern gibt es mehrere Modelle. Es ist wichtig, dass umverteilt wird und dass das Geld in die Bildung fließt. Man kann das ja auch schön sehen an Ländern, in denen es progressivere Steuersysteme gibt, wo dann tatsächlich auch mehr in Bildung investiert wird.

progress: In der Hochschulfinanzierungsdebatte werden immer wieder Studiengebühren ins Feld geführt. Die JuLis fordern Studiengebühren, während die Koalitionsfraktionen die ersatzlose Abschaffung der noch bestehenden fordern. Von der AG gab es heuer keine deutliche Position.

Lerchbammer: Die AG lehnt Studiengebühren ab, weil nicht sichergestellt ist, dass ich in Mindestzeit studieren kann. Außerdem ist nicht sichergestellt, dass die Studiengebühren Studienplatz, -ort und –zweckgebunden verteilt werden. Verkürzt gesagt: keine Vignette ohne Autobahn. Dementsprechend lehnen wir Studiengebühren ab.

Gamon: Ich will das nicht so verkürzt sehen. Die Unis müssen natürlich ausfinanziert werden. Deswegen würde ich das, was wir fordern, als Selbstbehalt beschreiben, weil es ja auch nicht die gesamten Studienkosten decken soll, sondern ein gewisser Beitrag von 10 bis 30 Prozent der Studienkosten. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob z.B. jemand, der eine Lehre gemacht hat, unser Studium zur Gänze finanzieren muss – das ist auch der Grund für unser Plakat [„Deine Mutter finanziert mein Studium“ Anmk.]. Ich erachte Selbstbehalte als fair, weil ich auch überdurchschnittlich davon profitiere.

Freidl: Fair ist es nicht, wenn Kinder, deren Eltern nicht viel Geld haben, von den Hochschulen gedrängt werden. Oder ausländische Studierende, die über 700 Euro zahlen müssen. Das ist nicht fair. Was man auch sagen muss, ist das Studiengebühren keinen Beitrag zur Finanzierung der Hochschulen leisten können. Sie sind höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Außerdem zahlen AkademikerInnen später bis zum dreifachen wieder in den Steuertopf und damit an den Staat zurück.

progress: Stellen Studiengebühren eurer Meinung nach eine zusätzliche Barriere zum Hochschulzugang dar?

Gamon: Die Debatte darüber, dass Studiengebühren eine Hürde seien, ist ein wenig verkürzt, weil sie ignoriert, dass es genügend Studiengebühren- und Beihilfenkonzepte gibt. Diese stellen sicher, dass es trotzdem noch eine gute soziale Durchmischung an den Unis gibt. Ich kann grundsätzlich aber auch akzeptieren, dass die andere Seite sagt, dass Bildung gratis sein soll. Dann muss das aber auch konsequent gefordert werden und für alle Bildungswege gelten. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist, dass es verschiedene Hürden gibt, weil es doch genügend Evidenz dafür gibt, dass das eben nicht so ist, in den Ländern die das anwenden.

Kraushofer: Es ist unfair zu sagen, es gibt Länder, in denen funktioniert das, deswegen führen wir das auch bei uns ein. Wenn wir uns die Studierendensozialerhebung anschauen, dann sehen wir, anhand der Jahre, in denen die Studiengebühren eingeführt und abgeschafft wurden, dass es eben nicht funktioniert hat.

Gamon: In unserem Modell soll das Geld autonom eingehoben und direkt an die Unis ausgezahlt werden. Man kann sich Ideen von anderen Ländern hernehmen. Dass man diese dann aber für Österreich anpassen muss, steht außer Frage.

Fleischhacker: Skandinavische Länder zum Beispiel: Da gibt es ein progressives Steuersystem, keine Studiengebühren und fast keine Zugangsbeschränkungen. Also das funktioniert schon. Es ist kontraproduktiv zu sagen, man will Studiengebühren und trotzdem mehr Studierende. Es gibt Zahlen, die zeigen, dass Studiengebühren als Hürde gesehen werden. Und selbst wenn man von Studiengebühren befreit ist, muss man immer noch das Geld aufbringen, um sie zuerst einzubezahlen.

progress: Die FEST bekommt ihre Mandate vor allem von den FHs. Diese heben mehrheitlich Studiengebühren ein und haben alle Zugangsbeschränkungen. Wie steht ihr dazu?

Bankel:  Fachhochschulen fallen ins Privatrecht und sind keine öffentlichen Universitäten. Aber: Der Staat finanziert Fachhochschulen fast zur Gänze, die Beteiligung von Unternehmen liegt bei etwa 2 Prozent. Die Struktur einer Fachhochschule ist aber wie in einer Ausbildungsfirma. Die Rechtsform von Fachhochschulen ist extrem problematisch, wir fordern schon seit Jahren, dass es ein einheitliches Hochschulgesetz geben soll – darin kann es aber natürlich verschiedene Hochschultypen geben. Die Grundlage für alle Hochschultypen muss ein Gesetz sein und nicht drei.Aber grundsätzlich lehnen wir Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren ab. Bildung ist ein Menschenrecht und muss für jede und jeden frei zugänglich sein.

progress: Derzeit müssen, unter anderem, Drittstaatenangehörige doppelt so hohe Studiengebühren bezahlen. Wie steht ihr dazu?

Freidl: Das ist eine Katastrophe. Zu uns sind Studierende in die Sozialberatung gekommen und haben uns erzählt, dass sie nicht mehr wissen, wie sie ihr Studium finanzieren sollen. Wenn man schon von einem Hochschulraum und einer europäischen Hochschulpolitik redet, braucht es auch europäische Lösungen und da ist der Wissenschaftsminister ganz klar gefordert, sich für Ausgleichszahlungen zwischen jenen Ländern, zwischen denen es Studierendenströme gibt, einzusetzen. Es gibt ja beispielsweise bereits den nordischen Rat, wo das mit Ausgleichszahlungen ganz gut funktioniert. Da sollten wir ansetzen, anstatt Studierende, die sich ohnehin in einer sehr prekären Situation befinden, dann auch noch mit doppelten Studiengebühren zu belasten.

Kraushofer: Prinzipiell kann ich mich da anschließen. Was man vielleicht aber noch dazu sagen sollte ist, dass die doppelten Studiengebühren nicht das einzige Problem sind. Drittstaatsangehörige haben andere Aufnahmebedingungen. Sie dürfen zum größten Teil nur sehr wenig arbeiten. Oder etwa das passive Wahlrecht, das wäre nochmal ein eigenes Thema. Sie werden auf vielen Ebenen der österreichischen Hochschulen diskriminiert und das ist eine Frechheit.

Lerchbammer: Wir lehnen Studiengebühren unter diesen Studienbedingungen ab, auch die doppelten. Wir sollten uns nicht davor fürchten, dass jemand zu uns zum Studieren kommt, sondern die Rahmenbedingungen schaffen, dass er dann auch hier bleibt.

Bankel: Ergänzend muss man noch sagen, dass es nicht nur die rechtlichen Hürden, die doppelten Studiengebühren oder etwa Probleme bei Zulassungsprüfungen gibt. Drittstaatenangehörige müssen auch jedes Mal, wenn es darum geht, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, zittern, wem sie da jetzt am Amt gegenüber sitzen. Da wird oft mit reiner Willkür entschieden. Es braucht das Bekenntnis der ÖH sich gegen Rassismus zu engagieren, und zwar nicht nur auf legistischer Basis, sondern auf allen Gebieten – eben als gesellschaftspolitisches Programm.

Gamon: Die doppelten Studiengebühren gehen auf keinen Fall, das ist einfach diskriminierend. Es ist volkswirtschaftlich und menschlich ein Blödsinn jemanden hier studieren, aber später nicht in Österreich leben und arbeiten zu lassen.

Fleischhacker: Ich glaube, wir stimmen alle überein, dass die doppelten Studiengebühren eine große Diskriminierung darstellen. Wie auch schon gesagt, sind sie aber auch nur ein Faktor in einer Reihe von Diskriminierungen.

 

 

Überfordert und alleingelassen

  • 20.11.2012, 10:37

Madeleine* hat schon früh die Erfahrung einer Therapie gemacht. progress erzählt die 26-jährige ihre Geschichte und wie die Therapie ihren Studienalltag beeinflusst hat.

Madeleine* hat schon früh die Erfahrung einer Therapie gemacht. progress erzählt die 26-jährige ihre Geschichte und wie die Therapie ihren Studienalltag beeinflusst hat. 

progress: Wann bist du erstmals zur Therapie gegangen. Wie kam es dazu?

Madeleine: Mit der Situation, dass man einer fremden Person gegenübersitzt und ihr persönliche Dinge erzählt, war ich schon sehr früh konfrontiert. Als ich 12 Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden und meinten, dass ich in dieser Situation Unterstützung bräuchte – aber das war nicht freiwillig, sondern ihre Entscheidung. Der erste Entschluss zu einer Therapie, der von mir selbst ausging,  kam erst, als ich nach Wien gezogen bin. Damals war es meine Idee, alles, was in meiner Kindheit und Jugend passiert ist, aufzuarbeiten. Davor wurde ich eben nur „hingeschickt“.

progress: Was war deine erste Anlaufstelle?

Madeleine: Ich habe mir verschiedene Angebote in Wien angesehen und bin so erstmals zur psychologischen Studierendenberatung gekommen. Das war jedoch nicht besonders hilfreich. Sie bieten zwar schon an, dass man öfter zu ihnen gehen und mehrere Gespräche mit ihnen führen kann, aber das haben sie bei mir nicht gemacht.

progress: Wie bist du zu deinem Therapieplatz gekommen?

Madeleine: Es war schwierig jemanden zu finden. Ein Bekannter hat mir später jemanden empfohlen – mit der Therapeutin hat das dann auch ganz gut geklappt. Nach zwei Jahren ist sie aber aus Wien weggezogen und ich habe eine Zeit lang mit der Therapie aufgehört. Gegen Ende meines Studiums habe ich aber wieder angefangen. In einer Praxis, die mir von meiner alten Therapeutin empfohlen wurde.

progress: Wieso hast du deine aktuelle Therapie begonnen?

Madeleine: Ich habe die Therapie gegen Ende meines Studiums begonnen. Das Diplomarbeit Schreiben war für mich keine schöne Zeit. Ich hatte großen Stress fertig zu werden. Das Betreuungsverhältnis war zwar in Ordnung, aber ich habe mich oft alleingelassen und überfordert gefühlt. Es ist mir nicht so gut gegangen. Ich hatte den Eindruck, alle anderen wissen genau, was sie machen und ich komm einfach nicht weiter. Natürlich merkt man irgendwann aber, dass es den anderen ganz genau gleich geht.

progress: Wie unterscheidet sich deine aktuelle Therapie von früheren?

Madeleine: Meine erste Therapie war eine Gestalttherapie, die schon eher lösungsorientiert war. Damals musste ich so Dinge machen, wie ein Bild zeichnen oder mit Kegeln meine soziale Konfiguration aufstellen. Jetzt mache ich eine Psychoanalyse –meine Therapeutin, sagt mir eigentlich nie was ich zu tun habe. Ihrer Meinung nach würde es auch nicht viel bringen, weil ich das nicht annehmen würde. Und das stimmt glaub ich auch. Die Psychoanalyse ist einfach eine ganz andere Form von Therapie: Manchmal fühle ich mich alleine gelassen, aber das ist man letztendlich auch. Trotzdem ist es unterstützend und hilft einem die Sachen klarer zu sehen – ich würde sagen, sie ist einfach erwachsener.

progress: Wie ist es dazu gekommen, dass du jetzt eine Psychoanalyse machst?

Ich war schon immer an der Psychoanalyse interessiert, gerade auch durch die theoretische Beschäftigung mit Freud. Aber es war auch ein bisschen zufällig, ich habe von meiner alten Therapeutin ein paar Nummern bekommen. Ich habe einfach durchgerufen und hatte dann ein Erstgespräch – dann bin ich geblieben.  Es war aber auch die Entscheidung, dass ich jetzt mal etwas anderes machen möchte, als immer die gleiche Therapieform.

progress: Wie waren Therapie und Studium miteinander vereinbar?

Madeleine: Die finanzielle Situation ist natürlich ein großes Problem. Gerade jetzt hat die Wiener Gebietskrankenkasse (WGK) einen Aufnahmestopp verhängt und gibt keine Plätze für vollfinanzierte Stellen aus. Daraus ergibt sich eine sehr große Diskrepanz, je nachdem bei welcher Kassa man ist. Bei der WGK ist es durch das Kontingent und den Aufnahmestopp sehr schwer.

progress: Hast du deine Therapien über die Krankenkasse finanziert?                                       

Madeleine: Erst einmal nicht. Es ist total schwer einen Platz zu finden. Die Therapeutin, bei der ich eben das erste Mal war, hat das schwarz gemacht und nur 40 Euro pro Stunde verlangt. Das hat mir meine Familie bezahlt. Jetzt finanziert mir die Krankenkasse zwei Therapiestunden pro Woche.

progress: Wie hat sich deine Therapie auf dein Studium ausgewirkt?

Madeleine: Man redet dann eben dort auch über das Studium. In der Therapie wird dann besprochen, was das Studium für einen bedeutet, wie man sich die Zeit einteilt, einfach wie man mit dem ganzen Stress umgeht und woher der Stress überhaupt kommt. Die ganzen Unsicherheiten vor der Diplomarbeit habe ich dort bereden können. Und umgekehrt hat es das Studium insofern beeinflusst, dass ich zwei oder drei Mal in der Woche einen fixen Termin hatte. Da können keine Lehrveranstaltungen besucht werden – dann ist Therapie und die kann nicht verschoben werden.

progress: Wie war dein Umgang mit dem Thema, hast du Leuten davon erzählt?

Madeleine: Ich glaube, ich bin immer relativ offen damit umgegangen. Aber Studienkolleg_innen bindet man das jetzt auch nicht unbedingt auf die Nase.

progress: ­Ist die Therapie an der Uni ein Tabu?

Madeleine: Ich kenne generell sehr viele Leute, die eine Therapie machen, um mit ihren Problemen umzugehen. Nein, ich glaube nicht, dass es tabuisiert wird. 

*Name von der Redaktion geändert

Zwischen Homosexualität und Migration

  • 19.11.2012, 13:52

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). PROGRESS erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität.
Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

Ewa Dziedzic ist Mitgründerin des Vereins zur Integration und Förderung von homosexuellen Migrant_innen (MiGaY). progress erzählt sie von der Arbeit des Vereins und über die Unsichtbarkeit migrantischer Homosexualität. Die Fragen stellte Oona Kroisleitner.

progress: MiGaY wurde 2009 gegründet. Was waren damals eure Motive?

Ewa Dziedzic: Ich habe bereits 2004 mit einem Freund aus Istanbul einen Verein für lesbische, schwule und Transgender-Migrant_innen mit dem Namen Vienna Mix gegründet. Bis dahin gab es zwar LGBT- und Migrant_innenvereine, aber keine Anlaufstelle für Menschen, die in diese Schnittstelle zwischen Sexualität und Migrationshintergrund fallen. Wir wollten sichtbar machen, dass Migrant_innen, wenn sie homosexuell oder Transgender sind, oft mit anderen Diskriminierungserfahrungen zu kämpfen haben.

progress: Mit welchen Problemen wurdet ihr konfrontiert?

Dziedzic: Bei einigen Migrant_innenvereinen wurde uns gesagt: „Das gibt es bei uns nicht, wir haben keine Homos“. Bei den LGBT-Vereinen fand man, dass der Migrationshintergrund egal sei, sie wären für alle Lesben, Schwule und Trans-Personen da. Insofern war die Situation schwierig. Und aus Vienna Mix wurde schnell eine Art Beratungsstelle. Aber eine Beratungsstelle auf ehrenamtlicher Basis ohne Subventionen zu führen war nicht einfach und wir haben Vienna Mix dann 2006 aufgelöst. Es haben sich aber weiterhin Menschen gemeldet, die Hilfe oder nur Austausch suchten. Wir wussten also, dass es in Österreich einen Verein zu dieser Thematik braucht. 2008 rief mich dann Yavuz an und präsentierte mir die Idee, eine Zeitschrift herauszubringen.

progress: Was sind die Probleme, mit denen Leute zu euch kommen?

Dziedzic: Allgemein ist die Unsichtbarkeit dieser Schnittstelle ein großes Problem. Wir betreuen auch immer wieder Asylfälle, denn Homosexualität gilt nicht explizit als Asylgrund. In vielen Ländern ist die Situation für homosexuelle Frauen und Männer sowie Transgender Personen unerträglich, aber sie haben oft keinerlei Basis, einen Asylantrag zu stellen. Dann kommt dazu, dass viele Angst davor haben, ihre Orientierung anzugeben, weil sie wissen, dass die Gefahr, dass es im „Heimatland“ jemand erfährt sehr groß ist. Aber auch innerhalb der Communities in Österreich ist die Situation oft nicht einfach.

prgress: Macht die Kategorie Geschlecht auch einen Unterschied aus?

Dziedzic: Fakt ist, dass wir auch in Europa nach wie vor patriarchale Strukturen haben, Lesben leben irgendwo am Rande. Sehr viele Frauen die zu Vienna Mix oder MiGaY kamen, sahen aufgrund ihrer ökonomischen Lage oder der Migrationsgeschichte kaum eine Möglichkeit als Frau alleine oder mit einer anderen Frau gemeinsam zu leben. Denn sie kommen schnell in eine Argumentationsnot gegenüber ihren Familien. Außerdem haben viele einen starken Bezug zu ihren Herkunfts-Communities hier in Österreich, wo sie das auch permanent argumentieren müssen. Nach dem Motto: eine Frau über 30, die nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, ist keine richtige Frau.

progress: Und männliche Homosexualität ist sichtbarer?

Dziedzic: Ja, aber schwule Männer werden dafür oft als die größere „Bedrohung“ angesehen. Wenn man ein „aktiver“ schwuler Mann ist,  bleibt er vielleicht immer noch der Mann und behauptet seine Maskulinität. Wenn er hingegen „passiv“ ist, gilt er schnell als verweiblicht; allein daran sieht man, wie stark verankert die Vorstellung von Geschlechtergrenzen ist. Bei Transgender-Personen kommt durch die Geschlechtsüberschreitung eine Grenzüberschreitung dazu, die dann nochmal andere Probleme aufwirft. Allein das Aufbrechen einer angeblichen Dichotomie zwischen Mann und Frau, wird als Bedrohung wahrgenommen. Und Tatsache ist, dass Menschen nach wie vor aufgrund ihrer Geschlechteridentität eingesperrt werden.

progress: Hat sich seit ihr Vienna Mix gegründet habt die Wahrnehmung der Probleme geändert?

Dziedzic: In den „migrantischen“ Vereinen war es von Anfang an schwieriger. Wir haben hier z.B. die Erfahrung gemacht, dass wir unsere Zeitung bei ihnen vorbeigebracht haben und kaum haben wir uns umgedreht, wurde sie schon in den Mistkübel entsorgt. Die Verneinung von Sexualität ist immer aktuell und ich habe viele verheiratete Migrant_innen kennen gelernt, die meinten, dass sie sich nie trauen würden, zu einem etablierten „migrantischen“ Verein zu gehen und dort über ihre Sexualität zu reden. Und was die  LGBT-Vereine anbelangt:  so groß die Skepsis Vienna Mix und MiGaY gegenüber anfangs war, sind sie heute froh, dass es uns gibt. Also einen Verein, der genau diese Schnittstelle anspricht. Es gibt also viel Unterstützung, aber es existieren auch noch immer Lokale, die schwule Männer, die „migrantisch“ aussehen, nicht reinlassen. Junge Männer zwischen 17 und 30 stehen oft unter Generalverdacht, dass sie Stricher seien.

progress: Wie lässt sich die Situation homosexueller Migrant_innen in Stadt und Land vergleichen?

Dziedzic: Ich glaube, es ist schon als Migrant_in in Wien leichter, als in einem kleinen Kaff in Niederösterreich. Als meine Familie 1992 in so ein „Kaff“ gezogen ist – zuvor wohnten wir nach Umzug aus Polen zwei Jahre in Wien – waren wir die erste migrantische Familie dort. Als ich mich mit 16 geoutet habe, habe ich das vor meiner Familie und ein paar guten Freund_innen getan. Aber es war für mich damals noch unvorstellbar, sich öffentlich zu outen. Vielleicht war es die Angst zu hören: „Jetzt ist sie eh schon eine Ausländerin und dann auch noch eine Lesbe“.  Sehr viele Leute kommen nach Wien, weil sie hier mehr Freiräume wittern, weil es urbaner ist und eine Großstadt mehr Anonymität bietet. Und die Wahrscheinlichkeit bei zwei Millionen Menschen mehr Gleichgesinnte zu finden, ist größer als in einem Steiermärkischen Dorf.

progress: Ist es in migrantischen Communities und Familien schwerer, sich zu outen?                 

Dziedzic: Man muss aufpassen, dass man nicht alles auf den Migrationshintergrund schiebt. Es herrscht leider ein sehr homogenes Bild von Migrant_innen vor. Oft macht es einen Unterschied, ob es sich um die zweite oder dritte Generation der so genannten Gastarbeiter_innenfamilien, die aus sehr traditionellen Strukturen kommen, handelt, oder um Migrant_innen, die in Istanbul gelebt haben oder am Sankt Georg Kolleg waren. Und dann gibt es  noch das Phänomen, dass das durch die Migration hervorgerufene Gefühl der „Entwurzelung“ für einige ein Grund mehr ist, umso verstärkter auf bestimmte Traditionen und Werte des Herkunftslandes zu beharren.

                                                                                                                                                                                                                                                       

progress: Wie zeigt sich das?    

Dziedzic: Ein Beispiel: Als ich meiner Mutter gesagt habe, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, war sie vor allem froh, dass ich nicht schwanger bin. Sie meinte dann, dass es nicht so schlimm ist, aber in Polen durfte das niemand erfahren. Jahre später war meine Mutter völlig überrascht, weil das Thema Homosexualität auch im polnischen Fernsehen besprochen wurde. Sie hat bis `89 nichts davon gehört. Die Frage „Ist es einfacher, sich in Kärnten zu outen oder doch in Wien leichter als in Krakau“ ist nicht pauschal zu beantworten. Das hängt manchmal davon ab, ob deine Familie seit Jahren den katholischen Familienverband unterstützt und du in Wien lebst oder du in Kärnten aus einer Familie kommst die sagt: „Naja, kann man nix machen“.

progress: Was muss sich in Zukunft ändern? Welche Forderungen habt ihr?

Dziedzic: In unterschiedlichen Bereichen so einiges. Zum Beispiel muss garantiert sein, dass es ein selbstständiges Aufenthaltsrecht für Migrantinnen gibt. Es kann nicht sein, dass Frauen wegen des Aufenthaltsrechts ihres Mannes an ihn gebunden sind.
Klar wirkt sich auch jede Verschärfung im Fremdenrecht auf Migrant_innen, egal welcher sexuellen Orientierung, aus. Auf der anderen Seite sind es die LGBT-Rechte. Seit 2010 gibt es die eingetragene Partner_innenschaft in Österreich, es existieren aber noch immer über 50 Ungleichbehandlungen gegenüber der Ehe. Angefangen davon, dass man den Nachnamen verliert, wenn man sich eintragen lässt, bis dahin, dass gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder adoptieren dürfen.
Grundsätzlich geht es darum, dass jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, gleichberechtigt an der Gesellschaft partizipieren zu können, sichtbar zu sein, ohne mit physischer oder psychischer Gewalt konfrontiert zu werden.

 

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