Alexander Fanta

Gottes Werk und Teufels Beitrag

  • 13.07.2012, 18:18

Erasmus-Kolumne: In Salamanca liegen das Heilige und die Sünde so nahe beieinander wie die Kathedrale und die Universität

Erasmus-Kolumne: In Salamanca liegen das Heilige und die Sünde so nahe beieinander wie die Kathedrale und die Universität

Die Stadt gleicht einem Blasebalg: Zu Beginn des Semesters saugt sie sich mit Studierenden an, und an dessen Ende schleudert sie sie mit Kraft in die Ferien. Salamanca, an der Grenze zu Portugal, hat etwa gleich viele EinwohnerInnen wie Linz. Rund ein Drittel davon sind jedoch Studierende. Die zweitälteste Universität in Spanien hat eine lange Tradition der Gastfreundlichkeit für Studis, besonders für die jungen „fahrenden Gelehrten“ aus dem Ausland, die jedes Jahr zu Semesterbeginn wie eine Urgewalt über den Ort hereinbrechen. Hunderte Kneipen, Diskotheken und spezielle Stamperl-Bars („Chupiterías“) bieten jede Gelegenheit, sich den Exzessen des Erasmuslebens hinzugeben.
Beim ersten Spaziergang durch die Stadt, deren Kern aus dem Barock stammt, wirkt das Potpourri an Ocker- und Brauntönen beinahe erdrückend. Neben der Kathedrale und zahllosen Kirchen sind auch die Universität und das Rathaus im selben Barockstil erbaut, der sich an die späte Gotik anlehnt. Die Monumente der Stadt sind mit tausend Winkeln und Schnörkeln verziert, und aus dem für die Stadt typischen, gleichen Sandstein gehauen.
Nicht zuletzt, um die barocke Schwere der Fassaden auszugleichen, haben sich RestaurateurInnen im Laufe der Jahrhunderte einige Frechheiten erlaubt. So versteckten sie etwa mitten unter Darstellungen der Mutter Gottes und von Heiligen einen Frosch, Ratten und sogar einen Astronauten. Eine besonders beliebte Serie von historischen Statuen am zentralen Universitätsgebäude zeigt die vier studentischen Sünden des 17. Jahrhunderts: Masturbation, Faulenzerei, Wein und Weiberei.

Essen wie Don Quijote. Wer sich in den kleinen, verwinkelten Gassen verliert, für den/die ist es leicht, sich spontan in die joviale Gastlichkeit der Stadt zu verlieben. Auf den Plätzen werden Schirme gespannt, um den angeblich heißesten Ort in Spanien vor Sonne und gelegentlichen Schauern zu schützen. Der Plaza Mayor, der für kastilische Städte typische Hauptplatz, ist dabei eher unter der Kategorie „Touristenfalle“ einzuordnen. Doch nur ein paar Straßen weiter bietet beinahe jedes Lokal zu einem für österreichische Verhältnisse sehr günstigen kleinen Bier gratis ein Häppchen Nahrung an, die traditionelle Tapa. Diese bildet das Rückgrat der äußerst bodenständigen spanischen Kulinarik.
In Olivenöl lasiertes Weißbrot und aromatischer Schinken, grüne und schwarze Oliven, Calamari mit ordentlich Öl und Knoblauch – Salamanca ist ein Ort der deftigen Sinnesfreuden. Hier, nicht unweit des Meeres, ist Fisch ebenso fixer Bestandteil der Cuisine wie Linseneintopf und Morcilla, die traditionelle Blutwurst, deren Geschmack man gegenüber nicht voreingenommen sein sollte. Nur als VegetarierIn hat man es schwer in Salamanca. Die Worte „ohne Fleisch“ klingen für viele Wirtsleute immer noch wie ein Fluch aus den Tagen, in denen Spanien arm und Fleisch ein seltenes Vergnügen war.
Heiß geliebt werden in Salamanca alle religiösen, und nicht ganz so religiösen, Feste und Feiertage. Während der Osterwoche tragen etwa Hermandades – Bruderschaften – überlebensgroße Heiligenstatuen durch die Stadt spazieren. Und praktisch das ganze Jahr über bieten eigene Herbergen Pilgern auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella Unterkunft und Unterhaltung. Im September machen die Ferías y Fiestas die ganze Stadt zu einem Rummelplatz aus Punschhütten und Konzertbühnen. Mitte Dezember finden sich Studierende aus ganz Spanien zur noche vieja universitaria zusammen, einer Art vorgreifenden Silvesterfeier, bevor es über die Ferien heim zu den Eltern geht.

Zündstoff in Kneipen. Wie andere StudentInnenstädte ist Salamanca auch ein politisch heißes Pflaster. Ist der Alltag in der dicht bebauten Stadt an und für sich locker per Fußweg zu bewältigen, finden sich dennoch regelmäßig dutzende Fahrrad-Aficionados der Gruppe Critical Mass zusammen, um im Automobilnarrischen Spanien für einen umweltfreundlicheren Verkehr zu protestieren. Wundester Punkt der grünen AktivistInnen ist aber der Río Tormes, der durch Salamanca fließt. Der Fluss schäumt bei Hochwasser vor lauter Verschmutzung. Darin zu baden ist undenkbar.
Für viele einheimische Studierende bietet die Uni erstmals Raum, sich kritisch mit der Landesgeschichte zu beschäftigen. Nur eine knappe Autostunde südlich, am Weg nach Madrid, liegt im Tal der Gefallen (Valle de los caidos) das gigantomanische Mausoleum von Spaniens verstorbenem Diktator Francisco Franco. Die Zeit seiner Herrschaft (1939-1975) sorgt in Spanien noch immer für Zündstoff, auch in den Bars und Kneipen der Stadt. „Franco hat viel Gutes getan; er war einfach nur zu lange an der Macht“, sagt die 18-jährige Maturantin Pilar. „Er war ein brutaler Diktator, und dass ihm immer noch gehuldigt wird, ist ekelhaft“, kontert Jaíme, ein 23-jähriger Geschichtsstudent.
Der politische Kontext Spaniens ist ausländischen Studierenden in der Stadt jedoch oft nicht bewusst. „Ich habe gehört, dass es hier die beste Party in ganz Spanien gibt“, sagt Dirk, ein deutscher Erasmus-Student aus Wolfsburg. Wie er denken viele. Das Leben hier ist für viele aus dem Ausland billig und sorglos. „Duschen kannst du, wenn du tot bist“, steht auf Dirks T-Shirt. Er wird heute noch durch die Vergnügungsmeilen der Stadt ziehen. Für andere wirkt ein Jahr der durchgehenden Feiern ernüchternd. „Ein Semester hier hat für mich gereicht“, sagt Clara, Kunstgeschichte-Studentin aus Wien. „Nachher brauche ich ganz fix Urlaub vom Alkohol.“

 

Die Linken haben das nicht geschafft

  • 13.07.2012, 18:18

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger sitzt am Esstisch in der hellen Wohnküche ihrer Dachgeschosswohnung. Vor ihr ein Glas Weißwein, an dem sie nur nippt. Daneben liegt eine schwarze Packung John Player, aus der sie während des Gesprächs zwei Zigaretten ziehen wird. Ab und zu schenkt sie ihren Gesprächspartnern Wolfgang Zwander und Alexander Fanta ein neckisches Lächeln.

PROGRESS: Sie sind eine der bekanntesten AutorInnen Österreichs. Werden Sie auf der Straße erkannt?

Nöstlinger: Hier im Bezirk (Brigittenau, Anm.) leben ja vor allem Migranten, da passiert das nicht sehr oft. Im Ersten Bezirk aber schon.

Wie finden Sie das Zusammenleben mit Ihren türkischen und ex-jugoslawischen NachbarInnen?

Mir macht das nichts. Die hiesigen Ureinwohner finden aber, dass alles furchtbar geworden ist.

Was finden sie daran furchtbar?

Ich rede mit diesen Leuten nicht so viel. Aber es ist nicht immer leicht, mit Leuten eng zusammenzuleben, die einem anderen Kulturkreis angehören. Ich habe es da leicht, ich sitze auf meinem Dach oben, fahre mit dem Lift auf und ab und brauch mich um nix zu scheren. Wenn aber sechs Leute auf Zimmerkuchl-Kabinett wohnen, dann gibt’s halt viel Dreck, und wenn das Scheißhaus am Gang ist, und das von sieben Leuten öfter benutzt wird und die Musik laut ist, da entstehen halt Animositäten. Es ist nicht lustig, wenn man dünne Mauern hat und dahinter läuft eine Musik, die einem nicht einmal gefällt. Und wenn ich gegen die Mauer pumper und „Aufhören“ schrei, der andere irgendetwas in einer fremden Sprache zurückschreit und nicht aufhört. Es ist überhaupt die Frage, wie viel Fremdes hält ein Mensch aus? Wann ist meine Frustgrenze erreicht?

War Ihre Frustgrenze schon einmal erreicht?

Wie gesagt, ich bekomme das nicht so mit. Was ich aber traurig finde: Die jungen Türken können oft weder Deutsch noch Türkisch.

Ihre Bücher werden auch ins Türkische übersetzt. Denken Sie, dass sie von den Kindern und Jugendlichen hier im Bezirk gelesen werden?

In unserem Haus und in der Gegend gibt es eine Regel: Was man nicht braucht, stellt man in einem Karton vor die Haustür. Die Sachen sind blitzschnell weg, binnen einer Stunde, ob das Heferln sind, oder Reindln (Töpfe, Anm.), oder ganze Sessel, das holen sich die Leut'. Ich hab einmal ein paar Heferln rausgestellt und türkische Übersetzungen meiner Bücher dazugegeben.Die sind vier Tage da unten gestanden. Dann habe ich sie wieder mitgenommen, weil ich mich geniert habe, es steht ja mein Name drauf. Bücher sind hier nicht sehr begehrt.

Man sagt über Sie, früher hätten Sie sehr viel Idealismus in ihre Kinderbücher gepackt, heute sei das aber nicht mehr so.

Das stimmt nicht, ich wähle nur einen anderen Zugang. Vielleicht kommt aber ein bisschen die Abgeklärtheit des Alters dazu, wenn ich mir denke, Kinder soll man nicht mit Sachen indoktrinieren, die sie eh nicht selber ändern können. Ich will die Kinder dann trösten und ihnen zeigen, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein sind, dass andere das auch haben. Das halte ich heute für wichtiger, als ihnen irgendwelche gesellschaftlichen Utopien vorzumachen.

Kann man Kindern bei der Erziehung überhaupt was vormachen?

Der Karl Valentin hat einmal gesagt, es bringt gar nichts, die Kinder zu erziehen, die machen einem eh alles nach. Dem stimme ich zu.

Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher?

Ich kann nur über das Schreiben, was ich kenne. Oft ist es mühsam. Da habe ich zwanzig verschiedene Ideen und bei neunzehn denke ich mir, das wird ein Schmarrn. Und die zwanzigste haut dann doch irgendwie hin. Ich ändere die Texte aber hinterher sehr oft. Wenn ich einen duftigen lockeren Text will, dann muss er duftig und locker werden. Manchmal gelingt das aber einfach nicht.

Werden Sie dann wütend?

Nein, das nicht. Ich war aber angeblich ein sehr wütendes Kind, aber seit ich erwachsen bin, werde ich eigentlich überhaupt nicht mehr wütend. Traurig kann ich werden, und wenn mir was nicht gelingt, dann kann es schon sein, dass ich so elegisch vor mich hin dumpfe und mir denke: Kannst auch nichts mehr.

Erleben Sie manchmal Schreibblockaden?

Ja, das gibt es schon, aber da muss man darüber hinweg, und zwar schreibend. Wird´s nix, schmeißt man´s halt in den virtuellen Papierkorb. Aber nur sitzen und warten, dass es wieder wird, das geht nicht.

Versuchen Sie manchmal, Ihrer Kreativität mit Alkohol auf die Sprünge zu helfen?

Beim richtigen Arbeiten eigentlich nicht. Aber wenn ich mich am Abend hinsetze und Mails beantworte, dann kann man sich schon ein Glas Wein nehmen. Das tue ich ohnehin nicht gerne. Ich muss immer lachen, weil die Leut´ ja glauben, dass man ein Mail sofort beantworten muss. Die rufen dann am nächsten Tag an, und fragen: Hast du meine Mail nicht bekommen? Wenn ich dann sage, ich habe meine Mails schon eine Woche lang nicht angeschaut, dann glauben sie, ich bin nicht von dieser Welt.

Unter welchen Bedingungen schreiben Sie?

Unter allen Bedingungen.

Sie haben keine spezielle Schreibstimmung?

Nein, das geht ja nicht. Dann würde ich ja zu gar nichts kommen, wenn ich warten müsste, bis ich in Stimmung komm'. Aber mit zunehmendem Alter leiste ich es mir, weniger zu arbeiten. Manchmal umschleiche ich den Computer, wie wenn er mein Feind wär', und stell ihn nicht an.

Haben Sie manchmal auch im Kaffeehaus geschrieben, wie es dem Klischee-Bild einer Wiener Schriftstellerin entsprechen würde?

Nein, das ist ja lächerlich, warum soll ich im Kaffeehaus schreiben?

Wie viel arbeiten Sie im Schnitt?

Heute an die dreißig, vierzig Stunden in der Woche.

Wird Ihnen das nicht zu viel?

Ich hab früher achtzig Stunden in der Woche gearbeitet, so gesehen ist es heute viel weniger.

Das hat Sie nie gestört?

Naja, es hat sich halt so ergeben. Ich bin ein arbeitsamer Mensch und viel anderes habe ich eigentlich nie zu tun gehabt außer. Kinder großziehen und halt sonst noch so Notwendigkeiten. Aber ich bin unsportlich, ich habe außer Lesen keine Hobbys, also bleibt mir ja nur das Arbeiten.

Wie gut lebt es sich mittlerweile von Ihrer Arbeit?

Als Schriftstellerin bekomme ich ja keine Pension, aber ich lebe ganz gut. Die genauen Zahlen weiß ich nicht so genau, aber ich glaube, im letzten Jahr betrug mein Einkommen vor Abzug der Steuern € 140.000. Früher, als ich noch für Zeitungen gearbeitet habe und eine Achtzig-Stunden-Woche hatte, habe ich aber sicher doppelt so viel verdient.

Was bedeutet Geld für Sie?

Geld macht das Leben einfacher.

Was ist das für ein Gefühl, dass viele Menschen sehr viel weniger verdienen als Sie?

Also ich hätte gar nichts dagegen, wenn es allen so gut ginge wie mir selbst. Oder sogar besser. Aus dem Unterschied ziehe ich keinen psychischen Gewinn, eher im Gegenteil. Wenn ich mir was Teures kaufe, dann versuche ich hinterher für andere Leute etwas Positives zu tun. Manche Ausgaben kommen mir auch frivol vor.

Welche denn?

Eine Handtasche um 2000 Euro kommt mir frivol vor, das kaufe ich nicht.

Wo ist für Sie der Unterschied zwischen einem guten Leben und luxuriöser Dekadenz?

Der Übergang ist natürlich fließend. Luxus ist ja nur das, was man sich schwer leisten kann, also ist Luxus für jeden etwas anderes.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie beim Einkaufen ungerne auf den Preis schauen.

Als Kind und als junger Mensch hatte ich nichts. Da freut man sich einfach, wenn man ein Geld hat, wenn du auf Kleinigkeiten nicht schauen musst. Das ist eine gewaltige Lebenserleichterung. Aber ich bin echt kein Luxusmensch. Das Angenehmste am Geld ist eine gewisse Sicherheit. Die man aber als Freischaffender sowieso nicht hat, vor allem in den heutigen Zeiten.

Ihre Kollegin Astrid Lindgren schickte einmal einen Brief an den schwedischen Finanzminister und beklagte sich über die vielen Steuern, die sie als Autorin zahlen müsse. Haben Sie sich auch schon einmal beim Finanzminister beschwert?

Nein, ich zahle gerne Steuern, ich finde das richtig. Ich betrüge auch die Steuer nicht. Wenn man bei deutschen Verlagen verlegt, könnte man das auch gar nicht. Man muss sich ja an das Doppelbesteuerungsabkommen halten.

Denken Sie, dass der Mensch immer mehr will, egal wie viel er hat?

Mein Enkelsohn wird sicher sagen: Wenn ich groß bin, brauche ich einen Ferrari. Er hat auch nicht verstanden, warum ich keinen Ferrari habe.

Einen Ferrari könnten Sie sich leisten?

Nein, aber mein Enkelsohn wurde zum besten Fußballer von Belgien gewählt, er wird sich später einmal wahrscheinlich einen leisten können.

Was halten Sie von Fußball?

Das Fußballspielen ist ja etwas Schreckliches, das ist eine faschistoide Geschichte. Wenn mein Enkelsohn zu spät zum Training kommt, wofür er gar nichts kann, weil ihn ja die Mama oder Papa hinführen, müssen alle anderen derweil Liegestützen machen oder im Kreis rennen. So will man ihm das Zuspätkommen abgewöhnen. Das erinnert mich an die Hitlerjugend.

Sie haben sich selbst immer wieder als politisch links bezeichnet. Was bedeutet das für Sie?

Links sein ist heute ja nicht mehr so leicht zu bestimmen. Ich merke, je älter ich werde, dass ich trotz allem ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat bin. Ich nehme mir manchmal vor ich wähle was anderes, Grün, oder ..., naja, viel anderes haben wir ja eh nicht. Ich steh dann aber in der Wahlzelle und mach wieder brav mein Kreuzerl bei der SPÖ. In meinen Jugendjahren wollte ich eigentlich wesentlich linker sein, aber das gelang mir nicht ganz.

Sie wollten in Ihrer Jugend radikaler sein, haben das aber nicht geschafft?

Was heißt, ich habe es nicht geschafft? Die Linken haben das nicht geschafft.

Was haben die Linken nicht geschafft?

Gesellschaftsveränderung. Es ist ja alles schief gegangen.

Sie meinen den so genannten Realsozialismus?

Nein, ein Anhänger der Sowjetunion war ich nie, aber ich hatte Sympathien für die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland.

Auch für die RAF?

Für die RAF nicht, aber für gewisse Menschen, die in der RAF waren.

Was hätte die Außerparlamentarische Opposition erreichen sollen?

Das, was ich mir unter Sozialismus vorstelle.

Was stellen Sie sich darunter vor?

Na, da muss ich jetzt aber lang reden.

Wir bitten darum, wir haben Zeit.

Was soll ich alles aufzählen. Chancengleichheit, gerechte Entlohnung, also all das, was Sozialismus bewirken will. Aber ich habe ja im Laufe meines langen Lebens gesehen, dass die Systemveränderung einfach nicht funktioniert. Das ist todtraurig, aber es ist so: Immer wenn die Zeiten schlechter werden, tendieren die Menschen nach rechts und nicht nach links. Kann ich nicht ändern, aber so ist es.

Was denken Sie, warum ist es so?

Weil das Leben ziemlich kompliziert ist und für viele Menschen nicht sehr durchschaubar. Und weil man dann immer zu den simpelsten und einfachsten Schlagworten und Lösungen greift. Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin, die betreut Inländer, die in ihrem Leben überhaupt noch keinen Strich gearbeitet haben. Und die schimpfen auf Ausländer und sagen: „Die nehmen uns die Arbeit weg“. Wenn sie dann sagt: Du Trottel, hast du schon einmal was gearbeitet, dann sagt der: Nein, aber wenn die nicht wären, dann tät ich.

Können Sie es irgendwie nachvollziehen, wenn jemand politisch in Richtung rechts tendiert?

Mein Gehirn kann nachvollziehen, dass man zu den simpelsten Lösungen greift, und nicht selber nachdenken will, aber emotional kann ich es nicht nachvollziehen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich zum Urteil: Okay, Erziehung, Bildung, das haben manche Leut' nicht. Aber dann denkt man wieder: Verdammt, so deppert müssten's nicht sein. Das ist immer noch mein letzter Schluss, leider. Gerade bei den Jungen.

Denken Sie, junge Menschen wählen die destruktiven rechten Parteien, weil sie ihr eigenes Leben zum Kotzen finden?

Ich kenne mich mit den heutigen jungen Leuten nicht aus, aber wenn mir Lehrerinnen von Gymnasien erzählen, dass die in der Maturaklasse zur Hälfte den Strache wählen, und bei jeder Diskussion, die man mit ihnen deswegen eingehen will, sagen sie nur, der ist cool. Mehr kommt nicht. Das wird mir von mehreren Lehrerinnen glaubwürdig versichert. Da weiß ich auch nicht weiter.

Können Sie in Anbetracht dessen noch an politische Utopien glauben?

Früher haben mein Mann und ich immer gesagt: Unsere Ideen müssen überwintern, die kommen wieder. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich sehe keine Anzeichen dafür.

Das Oben und Unten, die sozialen Klassen, die wird es immer geben?

Dass sich die Zustände zum Positiven ändern werden, glaube ich nicht. Ich werde das sicher nicht mehr erleben, vielleicht meine Enkel.

Wie halten Sie es mit der Religion?

Nichts, überhaupt nichts.

Glauben Sie an Gott?

Nein.

Der Mensch muss sich also selbst helfen.

Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn die Leute sich die ganzen Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen. Wir haben ja alle keine Vorstellungen, was die Wirtschaftskrise noch alles auslösen wird. Würden Sie nicht sagen, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden die ganzen Ungerechtigkeiten gefallen lassen?

Mittlerweile ist ja nicht mehr allein die Unterschicht von Sozialabbau betroffen, sondern auch die Mittelschicht. Was werden die Griechen tun? Fünf Mal demonstrieren gehen, und dann resignieren? Oder kommt dann was anderes? Ich weiß es nicht.

Sehen Sie sich als Teil der Mittelschicht?

Die löst sich ja auf. Es gibt Leute, die sich selbst als Teil der Mittelschicht sehen, wo ich mir dann denken muss, naja, bitte, was soll bei denen Mitte sein? Die Menschen sehen sich alle als Bürger, haben aber keinen Besitz und sind daher in Wirklichkeit Proletarier. Und dieselben Menschen verwenden das Wort Prolet als Schimpfwort.

Ist das nicht genau das große Problem der SPÖ, dass die Mittelschicht wegzubrechen droht und die Unterschicht nach rechts rückt?

Naja, der durchschnittliche Strache-Wähler in Wien ist vom durchschnittlichen SPÖ-Wähler nicht so weit entfernt. Darum verhalten sich die Roten ja wie sie sich verhalten. Nur ist das auch keine Lösung. Am ärgsten wird es, wenn die Serben Strache wählen, nur weil er ein blau-weißes Bandl am Arm hat. Meine serbische Putzfrau sagt: „Kann nicht mehr wohnen in Veronikagasse, ist schon alles verturkt.“

Finden Sie, dass die SPÖ den Rechtsruck ihrer Wähler zu weit mitgemacht hat?

Es gibt auch in der SPÖ Leute, mit denen ich ziemlich d'accord bin, nur haben die halt nichts zu sagen. Wo ist denn der Caspar Einem (ehemaliger SP-Minister, Anm.) hin verschwunden? Wo ist der Ferdinand Lacina (ehemaliger SP-Finanzminister, Anm.) hingekommen? Sind ja alles Leute, die überhaupt keine Machtpositionen mehr haben.

Bringen Sie Verständnis für die heutigen sozialdemokratischen Führungsfiguren auf, wenn sie mit den rechten Wölfen heulen?

Nein, dafür bringe ich kein Verständnis auf. Ich meine, es ist ja lächerlich, da gibt es den alten Satz: Man geht nicht zum Schmiedl, wenn man zum Schmied gehen kann. Das alles, wo sich die SPÖ anpasst, kann die FPÖ wesentlich besser.

Kurzum, die SPÖ sollte nach Links rücken?

 Ja, das wäre nett.

Bestünde da nicht die Gefahr, dass sich eine linkere SPÖ selbst marginalisieren würde, weil der Großteil ihrer WählerInnen nicht dabei wäre?

Ich gebe ja gerne zu, dass es die SPÖ nicht leicht hat.

Wenn Werner Faymann an Ihrem Tisch säße, was würden Sie ihm raten?

Nix, er macht was er kann, mehr kann er nicht. Soll ich sagen, lieber Werner, entwickle Utopien, entwickle Visionen? Der hat es ja auch nicht leicht, was soll er denn tun?

Das Interview führten Wolfgang Zwander und Alexander Fanta.

Der Saft ist draußen

  • 13.07.2012, 18:18

Red Bull war der Turbo einer Generation. Nun geht die Dekade der Energydrinks zu Ende.

Red Bull war der Turbo einer Generation. Nun geht die Dekade der Energydrinks zu Ende.

„Noch mehr von dem Gummibärchen- Saft“, sagt der Mann verächtlich, als er in meinen Einkaufskorb blickt, der rappelvoll mit Energydrinks gepackt ist. Mit einem Testeinkauf im Getränkemarkt wollte ich herausfinden, welche stimulierenden Brausen es am deutschen Markt zu kaufen gibt. Die überraschende Antwort: Immer weniger. Die Mischung aus Zucker und Koffein ist bei Jugendlichen ziemlich out.
„Nicht mit Alkohol mischen“, steht auf den Dosen von Red Bull. Für eine Generation von Barkeepern wirkte dieser Satz wie eine Aufforderung. Warnungen, dass Energygetränke gesundheitsschädlich sein könnten, gibt es seit Anfang der Neunziger. Verbote in Frankreich und Kanada gaben dem Produkt jedoch höchstens ein verruchtes Image und bestätigten gleichsam den potentiellen KonsumentInnen die Wirksamkeit des Trankes. Der Reiz des Verbotenen zog viele an, die nach billiger, schneller Energie hungerten. Dazu gehörten NachtschwärmerInnen ebenso wie BörsenmaklerInnen oder die jugendlichen SkateboarderInnen. Wodka Red Bull wurde bald zu einem Lifestyle-Getränk, von dem auch Mode-Ikone David Beckham gerne nippte. Aber auch ohne Alkohol fanden Energydrinks ihre AbnehmerInnen. Vor der Börse an der New Yorker Wall Street würden die Kioske Red Bull in Halbliterdosen an gestresste HändlerInnen verkaufen, berichtete die Financial Times Deutschland noch vor wenigen Jahren. Energydrinks galten als passendes Begleitprodukt zu den schnelllebigen Nullerjahren: Immer auf Achse, notfalls auch die ganze Nacht. Nun ist die Blase geplatzt.

Red Bull ist kein Saft mehr. Die Jugend von heute hat einen anderen Geschmack im Mund. Im vergangenen Jahr verkaufte sich Bionade in Deutschland erstmals besser als die verschiedenen Energydrink- Marken. Die HerstellerInnen werben dennoch aggressiv um ihre KundInnen. Eine Web-Suche nach „Red Bull“ offenbart wenig über das Getränk selbst. Vielmehr bietet sie einen kurzen Abriss der Geschichte blech-blauen Lifestyle-Sponsorings. Vom Red Bulletin-Magazin bis hin zu eponymen Eishockeyteams und dem Red Bull Racing Team in der Formel Eins: Nicht die bronzefarbene Brause des Herstellers ist in aller Munde, sondern ihr Marketing. Die Absätze dagegen stagnieren. Das gilt auch für die billigere Konkurrenz. Bereits jetzt sind 96 Prozent aller Energydrinks, die an Tankstellen verkauft werden, von der Marke Red Bull. Und deren Absätze sind seit zwei Jahren rückläufig.
Des Marktes letzter Seufzer ist Bifi Energy mit Guarana. Auch die Dauerwurst, die seit Januar verkauft wird, laboriert am selben „Energy“- Problem: Der Geschmack erinnert an Blutorange im Rauchbad und hat weder mit trinkbaren Gummibärchen noch mit herkömmlichem Schweinefleisch viel zu tun. Die Textur wirkt, als wäre Bifi Energy ein Abfallprodukt der Weltraumforschung. Es ist fraglich, ob die potentiellen KäuferInnen die Wurst jemals als Ausdruck ihres Lebensstiles empfinden werden, wie sie das einst mit Red Bull taten.
Vor allem Jugendliche tragen nicht mehr kistenweise Energydrinks aus den Läden. In der Altersgruppe der 15 bis 25 Jahre alten KonsumentInnen wird immer weniger davon getrunken. „Früher hat Red Bull für die Leute exotisch geschmeckt, heute wirkt es nur noch chemisch“, urteilt die 14 Jahre alte Sarah über Energygetränke. Diese veränderte Wahrnehmung hat für sie eindeutige Ursachen: „Damals haben Fruchtsäfte einfach noch nicht so lecker geschmeckt. Jetzt gibt es mehr mit Bio und so.“ „Red Bull schmeckt voll ekelig“, pflichtet ihr auch Freundin Charlotte bei. „Ich hab,s nur einmal getrunken – danach musste ich mir den Mund ausspülen.“

Behörden machen Werbung. Das Problem der Marke „Energydrink“ liegt nicht zuletzt in ihrer starren Konzeption. Der Begriff umfasst eigentlich jedes Getränk mit erhöhten Koffein-Werten oder aufputschenden Zutaten wie Taurin, Guaraná oder Maté. Für die meisten KonsumentInnen ist der Name jedoch synonym mit dem süßlichsynthetischen Geschmack von Red Bull. Diese geschmackliche Orthodoxie hat die Weiterentwicklung der Energygetränke schwierig gemacht. Was nicht nach Gummibärchen schmeckt, wird auch nicht als „Energy“ erkannt. Andere Getränke und Produkte wie Guaraná- Kaugummis und Bonbons, die versuchten, das kulinarische Spektrum zu erweitern, sind längst wieder vom Massenmarkt verschwunden. Ihr Geschmack war den KundInnen zu eigenwillig.
Die Behörden machen unterdessen weiterhin Werbung für die bunten Tränke. Erst Anfang Februar warnten deutsche Behörden vor dem neuesten Produkt der Firma Red Bull, dem Energy Shot. Für Jugendliche, die durch Warnhinweise und Verbote nicht von Nikotin und Cannabis ferngehalten werden, wirkt das eher ermutigend. Davor sorgte im Mai vergangenen Jahres das Verbotvon Red Bull Cola in einigen deutschen Bundesländern für Furore. Die hessische Lebensmittelbehörde gab bekannt, dass dem Getränk Kokain beigemischt sei, freilich in irrelevant kleinen Mengen. Dennoch musste das Getränk verboten werden, um den gesetzlichen Auflagen zu genügen. Cooler konnte das Getränk für viele Jugendliche nicht gemacht werden. Kurz nach Bekanntgabe explodierten die Verkaufszahlen von Red Bull Cola. Doch der große Boost ist nun vorüber.
Neuester Trend in den Getränkemärkten sind nicht Energydrinks, sondern Entspannungsgetränke. Brausen mit Kamille und Baldrian sollen helfen, den Schock von Wirtschaftskrise und steigendem Druck am Arbeitsmarkt zu verdauen. Produkte wie Slow Cow werden in Amerika als eine Art „Anti- Energydrink“ vermarktet. Wer durch die Regale eines größeren Supermarktes streift, wird heute auf eine Multitude an Produkten treffen, die lockeres und leichtes Leben versprechen, ganz ohne Belastung. Balance und Be.Light heißen die Produktreihen. Aldi hat über 50 solche Produkte im Angebot, von fettarmem Käse bis zum „probiotischen Fitnessdrink“.
Das passt zu einem größeren Trend: Wellness. Der Imperativ, schnell und leistungsfähig zu sein, auch auf Kosten der eigenen Gesundheit, hat ausgedient. Die Betonung der neuen Warenwelt liegt auf Nachhaltigkeit gegenüber dem eigenen Körper. Überzuckerte, hochkoffeinierte Energydrinks haben da keinen Platz. Red Bull mag zwar laut eigener Werbung Flügel verleihen. Längerfristige Höhenflüge können aber nicht mehr erwartet werden.

Serieller Abgesang

  • 13.07.2012, 18:18

Willenskraft allein reicht in den USA nicht mehr zum Aufstieg. So scheinen es zumindest neue US-Serien zu suggerieren, die Amerika als tief gespaltene Gesellschaft zeigen.

Willenskraft allein reicht in den USA nicht mehr zum Aufstieg. So scheinen es zumindest neue US-Serien zu suggerieren, die Amerika als tief gespaltene Gesellschaft zeigen.

Der elektrische Stuhl ist die grausamste Art der Hinrichtung, die in den USA praktiziert wird. Langsam und unter Todesqualen wird der Verurteilte von innen gegrillt. Trotzdem fürchtet Walter White sich nicht. Denn sterben muss der unheilbar Krebskranke sowieso. An die 500 Kilo der Droge Crystal Meth hat der arglose High School-Chemielehrer binnen weniger Wochen produziert und auf den Markt geworfen, eine Tat, die ihm im Bundesstaat New Mexico locker die Todesstrafe einbringen könnte. Dabei ist Walter kein schlechter Kerl; ein bisschen verrückt vielleicht, aber das Publikum mag ihn.
Walter ist der Protagonist der neuen US-Serie Breaking Bad, ein Liebling der KritikerInnen. Schauspieler Bryan Cranston machte als Chaos-Vater Hal bereits Malcolm Mittendrin zu einem Publikumshit. Die Serie formuliert ein moralisches Dilemma: Muss Walter nun sterben, wenn er kein Meth verkauft, weil er keine gute Krankenversicherung hat? Dünn versteckt unter dem vermeintlichen Gangsta-Narrativ steckt harte Kritik am US-Gesundheitssystem. Die ZuseherInnen werden geduldig an die Anatomie des Verbrechens herangeführt. Ähnlich wie das kalifornische Marihuana-Drama Weeds, von dem Breaking Bad das Konzept geborgt hat, ist die Hauptfigur ein eigentlich sympathischer Mittelklasse- Bürger. Ähnlich wie auch die ProtagonistInnen im düsteren postindustriellen Drama The Wire wird Walter – beinahe wider Willen – in eine Welt des Werterelativisimus geworfen. Seine bourgeoisen Vorbehalte gegen RechtsbrecherInnen und ihre Lebensrealität muss er bald aufgeben – er wird einer von ihnen.

Tratschtanten und eiskalte Engel. An Walter und seinem Schicksal werden die tiefen Bruchlinien innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft deutlich. Seit dreißig Jahren wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Die Wirtschaftskrise, die mit der Implosion des Häusermarktes in den USA begann, setzte viele Mittelklassefamilien unter Druck, zu entscheiden, auf welcher Seite dieser Kluft sie stehen wollen. Statusparanoia ist eine wiederkehrende Erzählung im US-Fernsehen. Selbst einfach gestrickte Unterhaltungsdramen wie der New Yorker Schickeria-Schund Gossip Girl, der in jeder einzelnen Folge die Story von Eiskalte Engel nacherzählt, haben die Furcht vor dem sozialen Abstieg tief in ihre Erzählung eingewoben. Hauptfiguren, deren Namen den niederländischen Klang alter New Yorker Aristokratenfiguren haben, können ihre zumindest der oberen Mittelklasse angehörenden Duzfreunde mit schneidender Verachtung behandeln, ohne darum notwendigerweise die Gunst der ZuschauerInnen zu verlieren. Dieser Trick wird durch die formvollendete Schönheit der Hauptfiguren und ihre allzu geschliffenen Manieren erreicht, die sie als feinsinniger und cleverer darstellen, als die bloß strebsamen, braven BürgerInnenkinder, die sich mit Fleiß und Intelligenz den Eintritt in die Glitzerwelt erkaufen.
Das erschreckende Zerrbild, welches von Gossip Girl bis zum TeenagerInnendrama O.C. California reicht, ist das einer streng abgegrenzten Oberschicht, die es als unfein empfindet, an der „Masse“ anzustreifen. In letzterer Serie verlängerte sich die Klassenparanoia sogar bis in die reale Satire. Hauptfigur Ryan, der aus der Unterschicht in die reiche Familie Cohen reinadoptierte Prolet, kommt aus dem als Slum apostrophierten Problemviertel Chino. Der Schönheitsfehler an dieser Darstellung ist nur, dass im wirklichen Leben Chino ein absolut durchschnittlicher Ort in Suburbia ist, dessen BürgerInnenmeister vehement gegen die „Verunglimpfung“ durch die Serie protestierte. Doch diese „Slumifizierung“ hat System. In der neuen Dualität der Gesellschaft gibt es nur noch arm und reich.

Hochglänzend paranoid. Das Premiumsegment des neuen Para-noia-TV deckt die Hochglanz-Retrospektion der Serie Mad Men ab, die in den frühen Sechzigern spielt. Am Tag slicker Werbefachmann mit einem Auge für den teuren, guten Geschmack, wird der enigmatische Don Draper des Nachts von Erinnerungen an seine Jugend im Amerika der großen Depression geplagt. Indessen wartet seine Frau den ganzen Tag in ihrem brandneuen Einfamilienhaus inmitten einer nigelnagelneuen Siedlung darauf, ihm die ideale Hausfrau und Mutter zu sein. Alles an ihrem Leben wirkt wie frisch einstudiert, das Einkaufen in der Neuerfindung Supermarkt ebenso wie die suburbane Selbstisolation von Verwandten und FreundInnen. So wenig geübt sind Betty und Don Draper in ihrem neuen Status: Eine Mittelklassefamilie zu sein. Mad Men erinnert die ZuseherInnen daran, wie relativ neu die breite Mittelschicht ist, die der Wohlfahrtsstaat in den Fünfzigern und Sechzigern schuf. Und wie schnell sie wieder vergehen kann.
Bestes Spiegelbild einer Gesellschaft sind jedoch nicht ihre Selbstportraits, sondern ihre Utopien. War das Leitbild der USA unter Clinton noch das liberale Utopia von Star Trek, hat die böse neue Welt der Post-Bush-Ära im Kampfstern Galactica ihren Orbit erreicht, der bittersten Vision einer menschlichen Zukunft. Eine heldenmütige Schar von Überlebenden eines Todesroboterangriffs flieht im titelgebenden Raumschiff von Stern zu Stern, um gelegentlich den Roboter-Bastarden zu zeigen, wer das rote Blut hat. Die ExilantInnengesellschaft der Galactica ist ganz selbstverständlich eine Militärdiktatur, auf der eine „zivile Präsidentin“ mühsam versucht, ein wenig Rest-Zivilisation zu erhalten. Dieses zukünftige, letzte Bild der US-Gesellschaft zeigt eine Form der kollektiven Reflexion: Selbst die Göttinnen und Götter der Demokratie sind fehlbar geworden.

In welchem Universum lebt eigentlich Frau Knackal?

  • 13.07.2012, 18:18

„So falsch, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist.“

„So falsch, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist.“ So kanzelte eine Figur in Friedrich Torbergs Tante Jolesch einst einen Gegenspieler ab. In diese Richtung driftet auch das österreichische Fernsehen in seinem verzweifelten Versuch, die Alltagsrealität des Landes abzubilden. Am Schauplatz scheitert an dieser Aufgabe eigentlich am absurdesten, wie unlängst der Skandal um zwei Skinheads, den FPÖ-Chef und eine um sechzig Jahre veraltete Grußform zeigte. AusländerInnen, Spielsüchtige und  lkoholikerInnen sind in der Mediengalaxie des ORF am äußeren Rand der Milchstraße angeordnet, in einer Art Hundstage-Dystopia. Währenddessen verharrt das innere „Wir“ immer noch in einem flurbereinigten „Mittel- Österreich“, in dem soziale Probleme vor der eigenen Haustür enden.
Während die USA, angeblich das Land der „dummen, weißen Männer“ (wie es in Michael Moores Bestseller heißt), sich mit Serien wie The Wire selbst einer Psychotherapie unterzieht (sihe S. 26), fehlt der  inwohnerInnenschaft der Alpenrepublik immer noch ein modernes mediales Selbstbild. Im Kontinuum vom echten Wiener „Mundl“ bis zum Kaisermühlenblues wird endlos der Mythos einer Wohlstandsgemeinschaft wiederholt, in der – im Sinne der sinnesfrohen MA 2412 – nicht einmal richtig gehackelt werden muss. Ganz einfach eine Insel der Seeligen. Was wie Ein echter Wiener geht nicht unter einst stilistische Anleihen am sozialistischen Realismus nahm, ist längst zu einer Art grau-beigen Folklore verramscht worden.
Anleihen kann der ORF beim privaten Konkurrenten ATV suchen. Tausche Familie oder Teenager werden Mütter mögen degoutant sein, dumm oder überhaupt abgekupfert. Aber es stellt seine Narren nicht in ein separates Narrenkastl namens „Neonazi-Szene“, oder irgendeine andere scheinbare Halbwelt, sondern setzt sie intensiv mit dem herkömmlichen „Mittel- Österreich“ in Beziehung. Damit erreicht es eine beinahe phantastische Gesellschaftsutopie: Die Integration der verschiedenen Sorten von Öster- Menschen.

Teuer bezahlte Meinungen

  • 13.07.2012, 18:18

Lobbyismus ist praktisch die einzige Möglichkeit, um in der EU-Politik mitzureden, sagt die Politologin Pia Eberhardt. Wie das funktioniert? Ein Interview.

Lobbyismus ist praktisch die einzige Möglichkeit, um in der EU-Politik mitzureden, sagt die Politologin Pia Eberhardt. Wie das funktioniert? Ein Interview.

PROGRESS: LobbyistInnen vertreten Firmeninteressen in der Kommission und im EU-Parlament. Was ist so schlimm daran?

EBERHARDT: Lobbyismus ist nicht per se schlimm. Er bedeutet im Grunde nur die organisierte Vertretung von Interessen – also bestimmte Meinungen in das politische System einzubringen. Das hat es schon immer gegeben. Problematisch ist aber, welche Rolle der Lobbyismus auf EU- Ebene in Brüssel spielt. Dort spielt die Wirtschaft eine überdimensionale Rolle, sehr viel stärker als auf nationaler Ebene. Es gibt keine öffentliche Debatte auf europäischer Ebene, denn die spielt sich fast nur auf nationaler Ebene ab. Lobbyismus wird damit praktisch zur einzigen Möglichkeit, Inputs in das politische System einzubringen.

Aber versuchen nicht auch Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft die EU-Politik zu beeinflussen?

Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände sind zwar auch präsent, aber nicht so stark wie in der österreichischen Sozialpartnerschaft. Es gibt keine genaue Zahl, aber rund 70 Prozent der Lobbyisten in Brüssel vertreten Kapitalinteressen, das ist schon ein krasses Ungleichgewicht der Kräfte. Die andere Frage ist, um welche Interessen sich der EU-Apparat überhaupt kümmert. Gehört zu werden, spielt eine große Rolle. In vielen Politikfeldern bindet die Kommission die Gewerkschaften einfach nicht ein, oder erst, wenn alles schon entschieden ist.

Die Interessen von Industrie und Finanz dominieren also in Brüssel. Auf welche Art nehmen die LobbyistInnen dieser Branche in Brüssel Einfluss?

Sie haben ein breites Arsenal an Instrumenten. Das geht von ganz normalen Treffen mit Beamten, Netzwerke aufbauen, Leute anrufen bis zum Verfassen von Positionspapieren. Gerade im Parlament ist es wichtig, Informationen auf wenig Raum und gut verständlich zusammenzufassen. Die Abgeordneten werden mit einem Wust an Entscheidungen konfrontiert; die Lobbyisten erklären ihnen kompakt auf einer DIN-A4-Seite, worum es bei dieser oder jener Abstimmung ihrer Meinung nach geht. Das macht außer ihnen sonst kaum jemand in Brüssel. Diese Informationen werden auch von den Beamten in der Kommission genützt.
In ihrer Arbeit organisieren Lobbyisten zudem Vorträge und Veranstaltungen und geben vermeintlich wissenschaftliche Studien in Auftrag, die in Insider-Medien im Umfeld der EU besprochen werden. Sie gestalten damit öffentliche Diskurse und bestimmen mit, was an den Stammtischen im Brüsseler EU-Viertel geredet wird.

Auf welche Art unterscheiden sich solche Geflechte denn noch von Korruption?

Wir wissen von einigen Fällen von Korruption. Etwa einem deutschen Beamten in der Generaldirektion Handel, dem britische Journalisten undercover hunderttausend Euro angeboten haben. Das ergab dann eine große Aufdecker-Story in der Sunday Times. Solche Fälle sind aber die Ausnahme. Es geht meist um ganz legale, institutionalisierte Einflussnahme. Trotzdem, in beiden Fällen spielt der Faktor Geld eine Rolle. Alle Lobbyisten arbeiten für Geld. Und natürlich haben diejenigen, die mehr Geld zur Verfügung haben, auch mehr Einfluss. So scharf würde ich die Grenze zwischen Korruption und Lobbyismus nicht ziehen.

Die EU-Kommission formuliert die Gesetze, wird aber ständig von LobbyistInnen hofiert. Ist die Politik deswegen ein Opfer dieser Interessensvertretungen?

Nicht immer, die Kommission organisiert sich zum Teil ihre eigenen Lobbystrukturen, dafür gibt es konkrete Beispiele. Etwa hat die Kommission bei großen Konzernen angerufen und europaweite Treffen von Industriebereichen ins Leben gerufen, die es vorher nicht gab. Denn wenn sie die Industrie im Boot haben, haben sie ein ganz wichtiges Druckmittel gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten, um ihre Vorschläge durchzusetzen. In vielen Fällen muss man sich das so vorstellen, dass die Kommission fast kollegial mit Lobbyisten von Konzernen zusammenarbeitet. Oft entstehen gemeinsame Positionen einer Branche erst, indem die EU-Kommission sie abfragt.

Manchmal werden die PolitikerInnen nach ihrer Amtszeit selbst zu LobbyistInnen. Etwa sitzt nun der österreichische Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel im Aufsichtsrat des deutschen Atomkonzerns RWE. Gibt es das auch in Brüssel?

Solche „Drehtür-Effekte“ gibt es in Brüssel noch viel häufiger als auf nationaler Ebene, weil es keinen öffentlichen Aufschrei gibt. Hohe Kommissionsbeamte regulieren oft heute noch einen bestimmten Bereich und arbeiten morgen schon im selben Feld für die Industrie. Das ist problematisch. Man fragt sich: Was hat der in seiner Zeit als Beamter getan, um den Job zu bekommen. Diese Leute nehmen ihre Netzwerke mit, die wissen genau, wer welche Kompetenzen hat und wie der Apparat funktioniert. Die Industrie will diese Leute haben.

Die KapitalvertreterInnen haben aber nicht nur konkrete Interessen. Sie entwickeln auch Vorstellungen, wie es mit der Europäischen Union als ganzes weitergeht. Wie sehen die aus?

Es gibt bestimmte Gruppen, die strategisch planen. Die bekannteste ist der European Round Table of Industrialists, ein informeller Zirkel, der aus vier Dutzend Konzernchefs und einer Konzernchefin besteht. Er war ein entscheidender Vordenker für die Währungsunion, für die folgenden Marktliberalisierungen und für die Lissabon-Strategie. Er hat aber schon Jahre vorher begonnen, die Wettbewerbsfähigkeit als zentrales Konzept für Europa zu platzieren. Gruppen wie diese haben die Kapazität, darüber nachzudenken, wo die Union in zwanzig Jahren stehen soll und ihre Botschaft in den politischen Raum zu streuen. Die Konzernchefs arbeiten ganz strategisch am Projekt Europa. Sie haben erkannt, dass es wichtig ist, Ressourcen für die langfristige Planung freizumachen. Bei linken Parteien und Gewerkschaften gerät das oft im Alltagsgeschäft unter die Räder.

Karl hat viele Versprechen einzulösen

  • 13.07.2012, 18:18

Beatrix Karl wird in manchen Zeitungen mit Claudia Schiffer verglichen. Ein Vergleich, der die neue Wissenschaftsministerin nicht stört, wie sie sagt.

Beatrix Karl wird in manchen Zeitungen mit Claudia Schiffer verglichen. Ein Vergleich, der die neue Wissenschaftsministerin nicht stört, wie sie sagt. Weniger gerne wird Karl wohl mit ihrem Vorgänger verglichen, dem glücklosen Johannes Hahn. Ob dieser auch wegen dem Druck der Audimax-BesetzerInnen nach Brüssel geschickt wurde, ist eine Frage für ZeithistorikerInnen. Fest steht jedoch: Beatrix Karl wurde ins Amt bestellt, um die Ruhe auf den Universitäten wieder herzustellen. Ob ihr das gelingt, hängt von ihrem Geschick ab, und von uns, den Studierenden.
Karls Vorstellung davon, wie die Hochschulen aussehen sollten, ist klassische ÖVP-Ware. Die Fachhochschulen denkt sie als bessere Lehrstellen. An den Universitäten sollen Zugangshürden die Reihen der StudentInnen lichten. Auch kritisierte Karl in Interviews kurz nach ihrer Amtseinführung die Besetzung von Hörsälen als illegitim. Dennoch muss die Wissenschaftsministerin ein Interesse daran haben, mit den Studierenden zu verhandeln und ihre demokratische Vertretung zu stärken: Sie wird die Studis von der Straße wegholen wollen, und an den Verhandlungstisch bringen. Scheitert sie damit, wird sie ihr Amt ebenso geschlagen verlassen wie ihr Vorgänger.
Die Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen sind durchaus gegeben. Zwischen der Ministerin und der Studierendenbewegung gibt es Schnittmengen. Studienplätze will die Ministerin in Zukunft ausfinanzieren, also den Unis für jeden einzelnen Studierenden Geld geben. Bisher gab es für die Hochschulen nur einen Pauschalbetrag, egal wie viele inskribierten. Auch sollen die durch die Einführung des Bachelors vollgestopften Studienpläne wieder entrümpelt werden. Die Studierenden könnten dann mehr freie Wahlfächer machen und damit Raum für die freie Entfaltung ihrer Interessen haben. Sollten das nicht nur liberale Duftmarken zum Amtsantritt sein, sondern ernst gemeinte Versprechen, bleibt von Beatrix Karl womöglich einmal mehr in Erinnerung als ihre Ähnlichkeit mit Claudia Schiffer.

Hunger ist kein Asylgrund

  • 13.07.2012, 18:18

Viele Asylsuchende stehen unter dem Verdacht, nicht aufgrund politischer Verfolgung, sondern aus Armut nach Österreich zu kommen. Oft ist es schwer, zu unterscheiden, wessen Leben in der ursprünglichen Heimat bedroht ist, und wer aus wirtschaftlicher Not kommt.

Viele Asylsuchende stehen unter dem Verdacht, nicht aufgrund politischer Verfolgung, sondern aus Armut nach Österreich zu kommen. Oft ist es schwer, zu unterscheiden, wessen Leben in der ursprünglichen Heimat bedroht ist, und wer aus wirtschaftlicher Not kommt.

Ein illegal nach Österreich gekommener Afrikaner betritt erstmals die Straßen von Wien. Er ist vor Arbeitslosigkeit, Hunger und Korruption in seinem Heimatland geflüchtet, er sah für sich keine Perspektive mehr. Ein Drittel der Erwachsenen in seinem Land sind mit HIV infiziert. Er hat sein gesamtes Erspartes für die Flucht nach Europa ausgegeben und sich sogar verschuldet. Jetzt steht er in Österreich und bekommt zu hören; Asyl - das sei für ihn nicht drin.
Dieses Szenario mag Vielen unrealistisch erscheinen – ist es aber nicht. MigrantInnen verlassen ihre Heimat mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, was auch heißen kann, dass sie auf der Flucht vor Hunger sind. Asyl bekommt aber nur, wer im Heimatland verfolgt wird. 

Das Recht auf Asyl für Verfolgte ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben. Österreich hat sie unterschrieben, ebenso wie alle Staaten der EU. Als Flüchtlinge laut Konvention gelten Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, Religion, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,  ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Nationalität verfolgt werden. Auch Menschen, die vor Naturkatastrophen oder Krieg flüchten, erhalten Asyl. Deren Aufenthaltsrecht bleibt jedoch zeitlich begrenzt.
Die Wirklichkeit hält sich aber nicht an solche Definitionen, die Grenzen zwischen Asyl und Migration sind sehr oft fließend. Rund 60.000 Menschen wanderten laut einem EU-Bericht im vergangenen Jahr illegal in die Europäische Union ein. Viele davon stellten einen Asylantrag, um bleiben zu dürfen. Arbeitslosigkeit und Armut in den Herkunftsländern sind die häufigsten Gründe für den vorgetäuschten Flüchtlingsstatus. Eine Rolle spielt auch, dass viele EU-Länder – darunter auch Österreich – kaum legale Einwanderung zulassen.

Einmal Fingerabdruck bitte. Um Missbrauch zu verhindern, rüsten die EU-Staaten kontinuierlich auf. Seit dem Jahr 2000 werden allen Asylsuchenden in der EU Fingerabdrücke abgenommen. Die „Eurodac-Datenbank“ bietet Behörden einzelner Ländern einen europaweiten Vergleich aller Abdrücke. Dieses Hilfsmittel soll verhindern, dass Flüchtlinge in mehr als einem Land einen Asylantrag stellen.
Seit der Änderung des Fremdenrechts im Oktober dieses Jahres hat auch die österreichische Polizei neue  Mittel, um gegen scheinbare Flüchtlinge vorzugehen. Mit Hilfe von DNA-Analysen stellt sie fest, ob Asylsuchende tatsächlich mit ihren vorgeblichen Kindern verwandt sind. Zudem sollen Röntgen-Untersuchungen zur Altersfeststellung verwendet werden.
Die Änderungen in der Asylrechtsnovelle erlauben der Polizei außerdem, Flüchtlinge aus Gründen wie „Fluchtgefahr“ in Schubhaft zu halten. Asylsuchende erhalten keine Arbeitserlaubnis, sondern sie dürfen lediglich Saison- und Erntearbeit verrichten oder teilweise als neue Selbstständige fungieren. Diese Einschränkung drängt die Betroffenen in die Kriminalität und Schattenwirtschaft, weibliche Flüchtlinge vielfach in die Prostitution.
Dennoch ist der Status als Asylsuchender für viele ZuwandererInnen wünschenswerter als die Illegalität ohne Dokumente. Menschen ohne Aufenthaltsrecht können jederzeit verhaftet und in ihr Heimatland zurückgeschickt werden, wie dies im Fall der aus dem Kosovo geflüchteten und in ihr Heimatland abgeschobenen Arigona Zogaj geschah. Oft haben sich die Betroffenen vieles in ihrem neuen Heimatland aufgebaut, eine Schule besucht, vielleicht sogar Eigentum erworben. Trotzdem können sie als unerwünschte und illegale „MigrantInnen“ jederzeit alles verlieren.

 

Rechtsdrall in EUropa?

  • 13.07.2012, 18:18

Konservative dominieren Parlament und Kommission der Europäischen Union. Welche Aussichten hat eine progressive EU-Politik?

Konservative dominieren Parlament und Kommission der Europäischen Union. Welche Aussichten hat eine progressive EU-Politik?

„Wenn man die Globalisierung regulieren will, da kann man mir erzählen, was man will, wenn man da nicht Europa als Hebel hat, dann hat man gar keinen“, sagte vor kurzem Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Europäischen Grünen, der bekannt ist für seine pro-europäischen Positionen. Hat er Recht?
Im Juni haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein neues Parlament gewählt. Dieses wird von konservativen und rechten Parteien dominiert – deutlicher als jemals zuvor. Die einst starken SozialdemokratInnen wurden auf ein Viertel der Sitze reduziert, aus dem linken Lager legten nur die Grünen zu. 

Auf nationaler Ebene, die bei der Ernennung der EU-KomissarInnen wichtig ist, sieht es für die Linke nicht besser aus: Nur sieben von 27 RegierungschefIinnen in der EU werden von ihr gestellt. (in Spanien, Portugal, Griechenland, Österreich, Ungarn, Slowakei, Großbritannien).
Bis Mitte der neunziger Jahre stellte die Fraktion der SozialistenInnen und SozialdemokratInnen die Mehrheit im EU-Parlament – doch diese Zeiten einer linken Hegemonie sind vorbei, die Rechten haben nun das Sagen in Europa. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem der EU-Vertrag von Lissabon kurz vor der Ratifizierung steht, was die EU sehr viel mächtiger machen wird.
Mit der positiven Abstimmung in Irland scheint der Lissabon-Vertrag – also de facto die EU-Verfassung – greifbar. Die Union wird mit dem Vertrag eine Rechtspersönlichkeit, die die Kompetenzen der Nationalstaaten noch enger beschneiden wird. Eine Persönlichkeit, deren Wesen vom Wunsch nach „freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ bestimmt sein wird. Wie mit einem solchen Charakterzug die „Globalisierung reguliert“ werden soll, ist sehr fraglich.
Auf andere Charakterzüge wurde dafür verzichtet, als die Lissabonner „Rechtspersönlichkeit“ erschaffen wurde, sagen KritikerInnen des Vertrags. „Grundsätzliche Dinge wie ein europaweiter Mindestlohn und ein Streikrecht fehlen in der europäischen Gesetzgebung“, kritisiert der Innsbrucker Politologe Arno Tausch. EU-Staaten könnten sich weiterhin gegenseitig Konkurrenz um die niedrigsten Löhne und Sozialstandards machen, um Unternehmen eine Niederlassung schmackhaft zu machen. „Die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen wird so immer größer, das ist ein Tanz ums goldene Kalb“, sagt Tausch.
Befürworter des neuen Grundvertrages beharren trotz solcher Kritik, dass der Vertrag von Lissabon Europa demokratischer und sozialer machen wird. Die Rechte des Parlaments gegenüber der EU-Kommission und dem Rat der EU würden gestärkt werden. Das vom Volk direkt gewählte Parlament hätte nun erstmals die Möglichkeit, in vielen entscheidenden Politikbereichen seine Meinung durchzusetzen. Soziale Mindeststandards könnten durch den Vertrag erstmals in der ganzen EU durchgesetzt werden.
Gegner des Vertrags wollen das nicht glauben. Sie orten bei der dem EU-Parlament angedachten Rolle demokratische Defizite. Auch in naher Zukunft wird es nicht das Recht haben, eigene Gesetze vorzuschlagen. Die Initiative liegt weiter bei der Kommission, die von den einzelnen Regierungen bestellt wird. Auch das „Europäische Volksbegehren“, das im Vertragswerk vage angesprochen wird, blieb bislang undefiniert.

Besonders betroffen von einem auf Wettbewerb aufgebauten Europa sind die neuen Mitgliedsländer des ehemals kommunistischen Osteuropas. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand sieht die Öffnung neuer Märkte in den östlichen Beitrittsländern als wesentliches Motiv für die EU-Osterweiterung. Versprechungen vom Segen der Marktwirtschaft hätten zu einer wirtschaftlichen „Kolonialisierung durch den Westen“ im Osten Europas geführt. „Es gab zwar einen Wohlstandszuwachs im Osten, aber es öffnete sich auch die Schere zwischen Arm und Reich“, sagt Brand. In zehn Jahren werde die Wende anders diskutiert werden, ist der studierte Betriebswirt sicher. „Es wird gefragt werden: Welche Alternativen sind verpasst worden?“ Mit der Privatisierung von Staatsbetrieben sei jedenfalls „Volksvermögen“ verschleudert worden.
Daniel Cohn-Bendit kann das nicht gegen den Lissabon-Vertrag aufbringen, er setzt auf eine Veränderung von innen. Die Europäischen Grünen müssten es schaffen, „die notwendige Transformation des Kapitalismus zu verbinden mit einer europäischen Positionierung“, sagte er vor kurzem einer österreichischen Tageszeitung.
Wie er sich damit gegen die rechte Mehrheit behaupten will? „Es geht mir auf den Geist, dass es immer nur gegen Nicolas Sarkozy geht, ich bin für Europa“, sagte Cohn-Bendit.

 

Buchrezension: Metaphysik der Gewalt

  • 13.07.2012, 18:18

„Literaturwissenschaftler gegen Hitler“

„Literaturwissenschaftler gegen Hitler“ klingt nach dem Namen einer eher verwegenen Studiengruppe. Im Zweiten Weltkrieg war es aber ein reales Programm des britischen Geheimdienstes MI6. Gegen die Gräuel und das Lügen könne nur ankämpfen, wer selbst das Gespür für Geschichten und das Geschichten-Erzählen besäße, so dachten die Schlapphüte, und heuerten GeisteswissenschaftlerInnen und LiteratInnen an. Eine Geschichte solcher Figuren erzählt der spanische Großschriftsteller Javier Marías im heuer erschienenen dritten und letzten Teil seines Romans Dein Gesicht morgen.
Als der Romanist Jaime Deza wegen Streitereien mit seiner Frau aus dem Madrid der Gegenwart f lüchtet, ahnt er nicht, dass die Tradition der Geistesmenschen undercover nicht vorbei ist. Überzeugt, dass Jaime tief in die Seele anderer Menschen zu blicken vermag und ihre Absichten erraten kann, heuert ihn ein Mann namens Tupra an, vermittelt von seinem väterlichen Freund Wheeler, der einst im Krieg gegen die Nazis selbst für den Geheimdienst arbeitete. Wofür die Psychogramme dienen, die er für Tupra erstellt, erfährt Jaime jedoch nur selten.
Schon bald wird sein gutes Gewissen auf die Probe gestellt. In der ansonsten verwaisten Behindertentoilette einer Diskothek muss er zusehen, wie sein Chef einen spanischen Diplomaten brutal verprügelt und foltert. Später stellt sich heraus, dass ihm dies nicht nur sardonisches Vergnügen bereitet, sondern Teil seines Jobs ist.Videoaufnahmen dieser entmenschlichten Folterszenen, in die er reiche Geschäftsleute und PolitikInner hineinzwingt, schaffen für Tupra eine psychische Abhängigkeit bei seinen Opfern. Sie werden zu seinen willfährigen Instrumenten.
Dieses Wissen verändert Jaime. „Vielleicht empfindet man nie völlig ehrlichen Abscheu gegen sich selbst, und eben das ermöglicht uns, alles zu tun, sobald wir uns an die Gedanken gewöhnen, die in uns aufkommen“, räsoniert er, nachdem er der Disko-Szene passiv beiwohnt. Sein Schrecken lähmt ihn, hindert ihn am Eingreifen. Wenig später ist die Gewalt auch in ihn eingedrungen, wie eine Infektionskrankheit. Er terrorisiert und verprügelt einen Liebhaber seiner Frau, wird selbst zur Bestie.
In mäandernden, sich windenden Sätzen, die so typisch sind für Marías, beschreibt er die Indifferenz der menschlichen Empfindsamkeit gegenüber der Grausamkeit. Jaime Deza bleibt nicht bis zum Ende des Buches im Dienste des Folterknechts Tupra, aber lange genug, um mit Faustischer Rücksichtslosigkeit mehr über das Leben zu lernen, als es NormalbürgerInnen jemals könnten. Die Erforschung des Schmerzen-Bereitens verquickt im Roman gleichsam mit der Beschreibung der Geheimorganisation. Beides, so wird suggeriert, ist esoterisches, verbotenes Wissen, dass nur von Mund zu Mund verbreitet werden kann, unwiderstehlich für den Geist von Jaime. Genau diese verborgene Qualität ist es, die trotz ihrer bitteren Mischung aus Disziplin und Strafe auch in dem oder der LeserIn das perverse Verlangen weckt, in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden.

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