Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.
Christine Nöstlinger sitzt am Esstisch in der hellen Wohnküche ihrer Dachgeschosswohnung. Vor ihr ein Glas Weißwein, an dem sie nur nippt. Daneben liegt eine schwarze Packung John Player, aus der sie während des Gesprächs zwei Zigaretten ziehen wird. Ab und zu schenkt sie ihren Gesprächspartnern Wolfgang Zwander und Alexander Fanta ein neckisches Lächeln.
PROGRESS: Sie sind eine der bekanntesten AutorInnen Österreichs. Werden Sie auf der Straße erkannt?
Nöstlinger: Hier im Bezirk (Brigittenau, Anm.) leben ja vor allem Migranten, da passiert das nicht sehr oft. Im Ersten Bezirk aber schon.
Wie finden Sie das Zusammenleben mit Ihren türkischen und ex-jugoslawischen NachbarInnen?
Mir macht das nichts. Die hiesigen Ureinwohner finden aber, dass alles furchtbar geworden ist.
Was finden sie daran furchtbar?
Ich rede mit diesen Leuten nicht so viel. Aber es ist nicht immer leicht, mit Leuten eng zusammenzuleben, die einem anderen Kulturkreis angehören. Ich habe es da leicht, ich sitze auf meinem Dach oben, fahre mit dem Lift auf und ab und brauch mich um nix zu scheren. Wenn aber sechs Leute auf Zimmerkuchl-Kabinett wohnen, dann gibt’s halt viel Dreck, und wenn das Scheißhaus am Gang ist, und das von sieben Leuten öfter benutzt wird und die Musik laut ist, da entstehen halt Animositäten. Es ist nicht lustig, wenn man dünne Mauern hat und dahinter läuft eine Musik, die einem nicht einmal gefällt. Und wenn ich gegen die Mauer pumper und „Aufhören“ schrei, der andere irgendetwas in einer fremden Sprache zurückschreit und nicht aufhört. Es ist überhaupt die Frage, wie viel Fremdes hält ein Mensch aus? Wann ist meine Frustgrenze erreicht?
War Ihre Frustgrenze schon einmal erreicht?
Wie gesagt, ich bekomme das nicht so mit. Was ich aber traurig finde: Die jungen Türken können oft weder Deutsch noch Türkisch.
Ihre Bücher werden auch ins Türkische übersetzt. Denken Sie, dass sie von den Kindern und Jugendlichen hier im Bezirk gelesen werden?
In unserem Haus und in der Gegend gibt es eine Regel: Was man nicht braucht, stellt man in einem Karton vor die Haustür. Die Sachen sind blitzschnell weg, binnen einer Stunde, ob das Heferln sind, oder Reindln (Töpfe, Anm.), oder ganze Sessel, das holen sich die Leut'. Ich hab einmal ein paar Heferln rausgestellt und türkische Übersetzungen meiner Bücher dazugegeben.Die sind vier Tage da unten gestanden. Dann habe ich sie wieder mitgenommen, weil ich mich geniert habe, es steht ja mein Name drauf. Bücher sind hier nicht sehr begehrt.
Man sagt über Sie, früher hätten Sie sehr viel Idealismus in ihre Kinderbücher gepackt, heute sei das aber nicht mehr so.
Das stimmt nicht, ich wähle nur einen anderen Zugang. Vielleicht kommt aber ein bisschen die Abgeklärtheit des Alters dazu, wenn ich mir denke, Kinder soll man nicht mit Sachen indoktrinieren, die sie eh nicht selber ändern können. Ich will die Kinder dann trösten und ihnen zeigen, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein sind, dass andere das auch haben. Das halte ich heute für wichtiger, als ihnen irgendwelche gesellschaftlichen Utopien vorzumachen.
Kann man Kindern bei der Erziehung überhaupt was vormachen?
Der Karl Valentin hat einmal gesagt, es bringt gar nichts, die Kinder zu erziehen, die machen einem eh alles nach. Dem stimme ich zu.
Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher?
Ich kann nur über das Schreiben, was ich kenne. Oft ist es mühsam. Da habe ich zwanzig verschiedene Ideen und bei neunzehn denke ich mir, das wird ein Schmarrn. Und die zwanzigste haut dann doch irgendwie hin. Ich ändere die Texte aber hinterher sehr oft. Wenn ich einen duftigen lockeren Text will, dann muss er duftig und locker werden. Manchmal gelingt das aber einfach nicht.
Werden Sie dann wütend?
Nein, das nicht. Ich war aber angeblich ein sehr wütendes Kind, aber seit ich erwachsen bin, werde ich eigentlich überhaupt nicht mehr wütend. Traurig kann ich werden, und wenn mir was nicht gelingt, dann kann es schon sein, dass ich so elegisch vor mich hin dumpfe und mir denke: Kannst auch nichts mehr.
Erleben Sie manchmal Schreibblockaden?
Ja, das gibt es schon, aber da muss man darüber hinweg, und zwar schreibend. Wird´s nix, schmeißt man´s halt in den virtuellen Papierkorb. Aber nur sitzen und warten, dass es wieder wird, das geht nicht.
Versuchen Sie manchmal, Ihrer Kreativität mit Alkohol auf die Sprünge zu helfen?
Beim richtigen Arbeiten eigentlich nicht. Aber wenn ich mich am Abend hinsetze und Mails beantworte, dann kann man sich schon ein Glas Wein nehmen. Das tue ich ohnehin nicht gerne. Ich muss immer lachen, weil die Leut´ ja glauben, dass man ein Mail sofort beantworten muss. Die rufen dann am nächsten Tag an, und fragen: Hast du meine Mail nicht bekommen? Wenn ich dann sage, ich habe meine Mails schon eine Woche lang nicht angeschaut, dann glauben sie, ich bin nicht von dieser Welt.
Unter welchen Bedingungen schreiben Sie?
Unter allen Bedingungen.
Sie haben keine spezielle Schreibstimmung?
Nein, das geht ja nicht. Dann würde ich ja zu gar nichts kommen, wenn ich warten müsste, bis ich in Stimmung komm'. Aber mit zunehmendem Alter leiste ich es mir, weniger zu arbeiten. Manchmal umschleiche ich den Computer, wie wenn er mein Feind wär', und stell ihn nicht an.
Haben Sie manchmal auch im Kaffeehaus geschrieben, wie es dem Klischee-Bild einer Wiener Schriftstellerin entsprechen würde?
Nein, das ist ja lächerlich, warum soll ich im Kaffeehaus schreiben?
Wie viel arbeiten Sie im Schnitt?
Heute an die dreißig, vierzig Stunden in der Woche.
Wird Ihnen das nicht zu viel?
Ich hab früher achtzig Stunden in der Woche gearbeitet, so gesehen ist es heute viel weniger.
Das hat Sie nie gestört?
Naja, es hat sich halt so ergeben. Ich bin ein arbeitsamer Mensch und viel anderes habe ich eigentlich nie zu tun gehabt außer. Kinder großziehen und halt sonst noch so Notwendigkeiten. Aber ich bin unsportlich, ich habe außer Lesen keine Hobbys, also bleibt mir ja nur das Arbeiten.
Wie gut lebt es sich mittlerweile von Ihrer Arbeit?
Als Schriftstellerin bekomme ich ja keine Pension, aber ich lebe ganz gut. Die genauen Zahlen weiß ich nicht so genau, aber ich glaube, im letzten Jahr betrug mein Einkommen vor Abzug der Steuern € 140.000. Früher, als ich noch für Zeitungen gearbeitet habe und eine Achtzig-Stunden-Woche hatte, habe ich aber sicher doppelt so viel verdient.
Was bedeutet Geld für Sie?
Geld macht das Leben einfacher.
Was ist das für ein Gefühl, dass viele Menschen sehr viel weniger verdienen als Sie?
Also ich hätte gar nichts dagegen, wenn es allen so gut ginge wie mir selbst. Oder sogar besser. Aus dem Unterschied ziehe ich keinen psychischen Gewinn, eher im Gegenteil. Wenn ich mir was Teures kaufe, dann versuche ich hinterher für andere Leute etwas Positives zu tun. Manche Ausgaben kommen mir auch frivol vor.
Welche denn?
Eine Handtasche um 2000 Euro kommt mir frivol vor, das kaufe ich nicht.
Wo ist für Sie der Unterschied zwischen einem guten Leben und luxuriöser Dekadenz?
Der Übergang ist natürlich fließend. Luxus ist ja nur das, was man sich schwer leisten kann, also ist Luxus für jeden etwas anderes.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie beim Einkaufen ungerne auf den Preis schauen.
Als Kind und als junger Mensch hatte ich nichts. Da freut man sich einfach, wenn man ein Geld hat, wenn du auf Kleinigkeiten nicht schauen musst. Das ist eine gewaltige Lebenserleichterung. Aber ich bin echt kein Luxusmensch. Das Angenehmste am Geld ist eine gewisse Sicherheit. Die man aber als Freischaffender sowieso nicht hat, vor allem in den heutigen Zeiten.
Ihre Kollegin Astrid Lindgren schickte einmal einen Brief an den schwedischen Finanzminister und beklagte sich über die vielen Steuern, die sie als Autorin zahlen müsse. Haben Sie sich auch schon einmal beim Finanzminister beschwert?
Nein, ich zahle gerne Steuern, ich finde das richtig. Ich betrüge auch die Steuer nicht. Wenn man bei deutschen Verlagen verlegt, könnte man das auch gar nicht. Man muss sich ja an das Doppelbesteuerungsabkommen halten.
Denken Sie, dass der Mensch immer mehr will, egal wie viel er hat?
Mein Enkelsohn wird sicher sagen: Wenn ich groß bin, brauche ich einen Ferrari. Er hat auch nicht verstanden, warum ich keinen Ferrari habe.
Einen Ferrari könnten Sie sich leisten?
Nein, aber mein Enkelsohn wurde zum besten Fußballer von Belgien gewählt, er wird sich später einmal wahrscheinlich einen leisten können.
Was halten Sie von Fußball?
Das Fußballspielen ist ja etwas Schreckliches, das ist eine faschistoide Geschichte. Wenn mein Enkelsohn zu spät zum Training kommt, wofür er gar nichts kann, weil ihn ja die Mama oder Papa hinführen, müssen alle anderen derweil Liegestützen machen oder im Kreis rennen. So will man ihm das Zuspätkommen abgewöhnen. Das erinnert mich an die Hitlerjugend.
Sie haben sich selbst immer wieder als politisch links bezeichnet. Was bedeutet das für Sie?
Links sein ist heute ja nicht mehr so leicht zu bestimmen. Ich merke, je älter ich werde, dass ich trotz allem ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat bin. Ich nehme mir manchmal vor ich wähle was anderes, Grün, oder ..., naja, viel anderes haben wir ja eh nicht. Ich steh dann aber in der Wahlzelle und mach wieder brav mein Kreuzerl bei der SPÖ. In meinen Jugendjahren wollte ich eigentlich wesentlich linker sein, aber das gelang mir nicht ganz.
Sie wollten in Ihrer Jugend radikaler sein, haben das aber nicht geschafft?
Was heißt, ich habe es nicht geschafft? Die Linken haben das nicht geschafft.
Was haben die Linken nicht geschafft?
Gesellschaftsveränderung. Es ist ja alles schief gegangen.
Sie meinen den so genannten Realsozialismus?
Nein, ein Anhänger der Sowjetunion war ich nie, aber ich hatte Sympathien für die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland.
Auch für die RAF?
Für die RAF nicht, aber für gewisse Menschen, die in der RAF waren.
Was hätte die Außerparlamentarische Opposition erreichen sollen?
Das, was ich mir unter Sozialismus vorstelle.
Was stellen Sie sich darunter vor?
Na, da muss ich jetzt aber lang reden.
Wir bitten darum, wir haben Zeit.
Was soll ich alles aufzählen. Chancengleichheit, gerechte Entlohnung, also all das, was Sozialismus bewirken will. Aber ich habe ja im Laufe meines langen Lebens gesehen, dass die Systemveränderung einfach nicht funktioniert. Das ist todtraurig, aber es ist so: Immer wenn die Zeiten schlechter werden, tendieren die Menschen nach rechts und nicht nach links. Kann ich nicht ändern, aber so ist es.
Was denken Sie, warum ist es so?
Weil das Leben ziemlich kompliziert ist und für viele Menschen nicht sehr durchschaubar. Und weil man dann immer zu den simpelsten und einfachsten Schlagworten und Lösungen greift. Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin, die betreut Inländer, die in ihrem Leben überhaupt noch keinen Strich gearbeitet haben. Und die schimpfen auf Ausländer und sagen: „Die nehmen uns die Arbeit weg“. Wenn sie dann sagt: Du Trottel, hast du schon einmal was gearbeitet, dann sagt der: Nein, aber wenn die nicht wären, dann tät ich.
Können Sie es irgendwie nachvollziehen, wenn jemand politisch in Richtung rechts tendiert?
Mein Gehirn kann nachvollziehen, dass man zu den simpelsten Lösungen greift, und nicht selber nachdenken will, aber emotional kann ich es nicht nachvollziehen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich zum Urteil: Okay, Erziehung, Bildung, das haben manche Leut' nicht. Aber dann denkt man wieder: Verdammt, so deppert müssten's nicht sein. Das ist immer noch mein letzter Schluss, leider. Gerade bei den Jungen.
Denken Sie, junge Menschen wählen die destruktiven rechten Parteien, weil sie ihr eigenes Leben zum Kotzen finden?
Ich kenne mich mit den heutigen jungen Leuten nicht aus, aber wenn mir Lehrerinnen von Gymnasien erzählen, dass die in der Maturaklasse zur Hälfte den Strache wählen, und bei jeder Diskussion, die man mit ihnen deswegen eingehen will, sagen sie nur, der ist cool. Mehr kommt nicht. Das wird mir von mehreren Lehrerinnen glaubwürdig versichert. Da weiß ich auch nicht weiter.
Können Sie in Anbetracht dessen noch an politische Utopien glauben?
Früher haben mein Mann und ich immer gesagt: Unsere Ideen müssen überwintern, die kommen wieder. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich sehe keine Anzeichen dafür.
Das Oben und Unten, die sozialen Klassen, die wird es immer geben?
Dass sich die Zustände zum Positiven ändern werden, glaube ich nicht. Ich werde das sicher nicht mehr erleben, vielleicht meine Enkel.
Wie halten Sie es mit der Religion?
Nichts, überhaupt nichts.
Glauben Sie an Gott?
Nein.
Der Mensch muss sich also selbst helfen.
Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn die Leute sich die ganzen Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen. Wir haben ja alle keine Vorstellungen, was die Wirtschaftskrise noch alles auslösen wird. Würden Sie nicht sagen, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden die ganzen Ungerechtigkeiten gefallen lassen?
Mittlerweile ist ja nicht mehr allein die Unterschicht von Sozialabbau betroffen, sondern auch die Mittelschicht. Was werden die Griechen tun? Fünf Mal demonstrieren gehen, und dann resignieren? Oder kommt dann was anderes? Ich weiß es nicht.
Sehen Sie sich als Teil der Mittelschicht?
Die löst sich ja auf. Es gibt Leute, die sich selbst als Teil der Mittelschicht sehen, wo ich mir dann denken muss, naja, bitte, was soll bei denen Mitte sein? Die Menschen sehen sich alle als Bürger, haben aber keinen Besitz und sind daher in Wirklichkeit Proletarier. Und dieselben Menschen verwenden das Wort Prolet als Schimpfwort.
Ist das nicht genau das große Problem der SPÖ, dass die Mittelschicht wegzubrechen droht und die Unterschicht nach rechts rückt?
Naja, der durchschnittliche Strache-Wähler in Wien ist vom durchschnittlichen SPÖ-Wähler nicht so weit entfernt. Darum verhalten sich die Roten ja wie sie sich verhalten. Nur ist das auch keine Lösung. Am ärgsten wird es, wenn die Serben Strache wählen, nur weil er ein blau-weißes Bandl am Arm hat. Meine serbische Putzfrau sagt: „Kann nicht mehr wohnen in Veronikagasse, ist schon alles verturkt.“
Finden Sie, dass die SPÖ den Rechtsruck ihrer Wähler zu weit mitgemacht hat?
Es gibt auch in der SPÖ Leute, mit denen ich ziemlich d'accord bin, nur haben die halt nichts zu sagen. Wo ist denn der Caspar Einem (ehemaliger SP-Minister, Anm.) hin verschwunden? Wo ist der Ferdinand Lacina (ehemaliger SP-Finanzminister, Anm.) hingekommen? Sind ja alles Leute, die überhaupt keine Machtpositionen mehr haben.
Bringen Sie Verständnis für die heutigen sozialdemokratischen Führungsfiguren auf, wenn sie mit den rechten Wölfen heulen?
Nein, dafür bringe ich kein Verständnis auf. Ich meine, es ist ja lächerlich, da gibt es den alten Satz: Man geht nicht zum Schmiedl, wenn man zum Schmied gehen kann. Das alles, wo sich die SPÖ anpasst, kann die FPÖ wesentlich besser.
Kurzum, die SPÖ sollte nach Links rücken?
Ja, das wäre nett.
Bestünde da nicht die Gefahr, dass sich eine linkere SPÖ selbst marginalisieren würde, weil der Großteil ihrer WählerInnen nicht dabei wäre?
Ich gebe ja gerne zu, dass es die SPÖ nicht leicht hat.
Wenn Werner Faymann an Ihrem Tisch säße, was würden Sie ihm raten?
Nix, er macht was er kann, mehr kann er nicht. Soll ich sagen, lieber Werner, entwickle Utopien, entwickle Visionen? Der hat es ja auch nicht leicht, was soll er denn tun?
Das Interview führten Wolfgang Zwander und Alexander Fanta.