Buchrezension: Metaphysik der Gewalt
„Literaturwissenschaftler gegen Hitler“
„Literaturwissenschaftler gegen Hitler“ klingt nach dem Namen einer eher verwegenen Studiengruppe. Im Zweiten Weltkrieg war es aber ein reales Programm des britischen Geheimdienstes MI6. Gegen die Gräuel und das Lügen könne nur ankämpfen, wer selbst das Gespür für Geschichten und das Geschichten-Erzählen besäße, so dachten die Schlapphüte, und heuerten GeisteswissenschaftlerInnen und LiteratInnen an. Eine Geschichte solcher Figuren erzählt der spanische Großschriftsteller Javier Marías im heuer erschienenen dritten und letzten Teil seines Romans Dein Gesicht morgen.
Als der Romanist Jaime Deza wegen Streitereien mit seiner Frau aus dem Madrid der Gegenwart f lüchtet, ahnt er nicht, dass die Tradition der Geistesmenschen undercover nicht vorbei ist. Überzeugt, dass Jaime tief in die Seele anderer Menschen zu blicken vermag und ihre Absichten erraten kann, heuert ihn ein Mann namens Tupra an, vermittelt von seinem väterlichen Freund Wheeler, der einst im Krieg gegen die Nazis selbst für den Geheimdienst arbeitete. Wofür die Psychogramme dienen, die er für Tupra erstellt, erfährt Jaime jedoch nur selten.
Schon bald wird sein gutes Gewissen auf die Probe gestellt. In der ansonsten verwaisten Behindertentoilette einer Diskothek muss er zusehen, wie sein Chef einen spanischen Diplomaten brutal verprügelt und foltert. Später stellt sich heraus, dass ihm dies nicht nur sardonisches Vergnügen bereitet, sondern Teil seines Jobs ist.Videoaufnahmen dieser entmenschlichten Folterszenen, in die er reiche Geschäftsleute und PolitikInner hineinzwingt, schaffen für Tupra eine psychische Abhängigkeit bei seinen Opfern. Sie werden zu seinen willfährigen Instrumenten.
Dieses Wissen verändert Jaime. „Vielleicht empfindet man nie völlig ehrlichen Abscheu gegen sich selbst, und eben das ermöglicht uns, alles zu tun, sobald wir uns an die Gedanken gewöhnen, die in uns aufkommen“, räsoniert er, nachdem er der Disko-Szene passiv beiwohnt. Sein Schrecken lähmt ihn, hindert ihn am Eingreifen. Wenig später ist die Gewalt auch in ihn eingedrungen, wie eine Infektionskrankheit. Er terrorisiert und verprügelt einen Liebhaber seiner Frau, wird selbst zur Bestie.
In mäandernden, sich windenden Sätzen, die so typisch sind für Marías, beschreibt er die Indifferenz der menschlichen Empfindsamkeit gegenüber der Grausamkeit. Jaime Deza bleibt nicht bis zum Ende des Buches im Dienste des Folterknechts Tupra, aber lange genug, um mit Faustischer Rücksichtslosigkeit mehr über das Leben zu lernen, als es NormalbürgerInnen jemals könnten. Die Erforschung des Schmerzen-Bereitens verquickt im Roman gleichsam mit der Beschreibung der Geheimorganisation. Beides, so wird suggeriert, ist esoterisches, verbotenes Wissen, dass nur von Mund zu Mund verbreitet werden kann, unwiderstehlich für den Geist von Jaime. Genau diese verborgene Qualität ist es, die trotz ihrer bitteren Mischung aus Disziplin und Strafe auch in dem oder der LeserIn das perverse Verlangen weckt, in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden.