MAKE THE FORTRESS EUROPE FALL
Die GEAS-Reform hat das Ausmaß des Rechtsrucks offenbart, der sich seit Jahren schleichend in der gesamten EU vollzieht. Da auch vermeintlich liberale und linke Parteien dafür gestimmt haben, zeigt sich, dass rechtspopulistische Politik mittlerweile kein Phänomen am rechten Rand mehr ist, sondern schon längst in der sogenannten “Mitte” verankert ist. Seit Jahren können wir europaweit eine Verschärfung des Diskurses um Flucht und Migration erleben, in der vor allem rassifizierte Menschen kriminalisiert und entmenschlicht werden. Diese gesellschaftliche Stimmung hat nun den Weg freigemacht für ein durch und durch rassistisches und menschenverachtendes Asylgesetz. Um das Ausmaß der Reform begreifen zu können, müssen wir jedoch zuerst verstehen, wie es dazu kam und was in der Reform beschlossen wurde.
Die GEAS-Reform kam nicht überraschend. GEAS steht für “Gemeinsames Europäisches Asylsystem” und hat dementsprechend zum Ziel, ein EU-weit einheitliches Asylsystem festzulegen. Die Forderung nach standardisierten Asylverfahren wurde im Kontext der starken Belastung der EU-Außenstaaten vor allem seit 2015/2016 lauter, da durch eine höhere Zahl an Ankommenden die Schwächen des sogenannten Dublin Systems offensichtlich wurden. Durch die Dublin-Verordnung von 1997 wurde festgelegt, dass jener EU-Staat, den Asylsuchende als erstes betreten, für die Bearbeitung des Asylantrags und gegebenenfalls die Asylgewährung zuständig ist. Dies führte zu einer Überlastung von Ländern wie zum Beispiel Griechenland und Italien, die darauf mit der Errichtung von “Auffanglagern” reagiert haben. Anstelle der proklamierten temporären Unterkünfte traten Lager, in denen tausende Menschen unter widrigsten Bedingungen teilweise jahrelang zusammengepfercht festgehalten wurden. Das berühmte Zitat der EU-Kommissarin Ylva Johansson “No more Morias”, mit dem auf den Brand im Lager “Moria” 2020 reagiert wurde, hat sich allerdings nicht in Form einer Verbesserung der Situation für die Ankommenden an den EU-Außengrenzen realisiert, sondern in der verstärkten Abschottung der gesamten Union.
Was ist ein “Sicherer Drittstaat”?
Als vermeintlich “sicher” gelten jene Nicht-EU-Staaten, in denen den Antragstellenden in Teilen des Landes keine Gefahr vor Verfolgung und/oder illegaler Zurückweisung droht. Den EU-Mitgliedstaaten ermöglicht dies, dass sie Asylanträge ablehnen und die Antragstellenden in diesen “sicheren Drittstaat” abschieben können. Für Länder, mit denen die EU ein Migrationsabkommen hat, gilt eine Sicherheitsvermutung.
GEAS legalisiert den rechtswidrigen Status Quo. Offiziell soll die GEAS-Reform einen besseren Umgang mit Migrationsbewegungen bewirken. Faktisch schafft sie einen rechtlichen Rahmen für Praktiken, die bereits seit Jahren an den Außengrenzen betrieben werden, obwohl sie gegen Asyl- und Menschenrechte verstoßen. Doch was beinhaltet sie konkret?
1. Ankommende sollen in Sammellagern an den EU-Außengrenzen festgehalten werden können. In diesen Lagern gelten die schutzsuchenden Personen offiziell als „nicht eingereist“ - obwohl sie sich bereits auf EU-Boden befinden. Diesen Status behalten sie, bis in einem für drei Monate geplanten Verfahren geprüft worden ist, ob sie eine „Aussicht auf Asyl“ haben oder nicht. Menschen, die aus einem Land kommen, in dem in den Vorjahren weniger als 20% der Menschen Asyl gewährt bekommen haben, sollen direkt abgeschoben werden können. Außerdem sollen Menschen, die aus einem sogenannten „sicheren Drittstaat“*(INFOBOX rauf) geflohen sind oder auf ihrer Flucht durch einen solchen gekommen sind, wieder in diesen abgeschoben werden können. GEAS sieht zudem vor, die Kriterien für „sichere Drittstaaten“ auszuweiten, was im Endeffekt bezweckt, dass es mehr Länder gibt, in die abgeschoben werden kann.
Damit wird den antragstellenden Personen ihr Recht auf ein individuelles Asylverfahren verwehrt. Pushbacks, das bedeutet das illegale und meist gewaltsame Zurückdrängen von Asylsuchenden über die Staatsgrenze, werden damit legalisiert und systematisch im großen Stil ermöglicht.
Dieser Filtermechanismus ist im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl laut Genfer Flüchtlingskonvention! Denn in einem Asylverfahren haben die Antragsstellenden das Recht, die eigene individuelle politische Verfolgung darzulegen. Sie sind nicht dazu verpflichtet, eine gesetzlich festgeschriebene Vermutung über die Situation im Herkunftsland zu widerlegen. Die GEAS-Reform bedeutet deshalb, dass das Recht auf Asyl praktisch ausgehebelt wird. NGOs kritisieren schon lange, dass Menschen, die in den Lagern an den Außengrenzen eingesperrt sind, keinen Zugang zu rechtlicher Unterstützung haben und sie befürchten, dass sich dies mit dieser geplanten Vorverlagerung der Grenzverfahren verschärfen wird.
2. Mit der GEAS-Reform wurde auch die sogenannte “Krisen-Verordnung” verabschiedet. Diese soll es in Szenarien von “Krise, höherer Gewalt oder Instrumentalisierung” ermöglichen, die bereits niedrigen Schutzstandards noch weiter zu senken. Die Szenarien sind in den Verordnungen allerdings so vage definiert, dass Mitgliedsstaaten sehr flexibel von der Verordnung Gebrauch machen können.
3. Um die Staaten an den europäischen Außengrenzen vermeintlich zu entlasten, enthält die GEAS-Reform außerdem einen sog. „Solidaritätsmechanismus“. Durch diesen können Länder bei „erhöhtem Migrationsdruck“ verlangen, dass andere EU-Staaten Asylsuchende aufnehmen. Diese können dann entweder der Forderung Folge leisten – oder sich freikaufen, indem sie Personal in die betreffenden Länder entsenden oder 20.000€ pro ankommende Person zahlen. Dieses Geld soll dann in die weitere Migrationsabwehr fließen. Das heißt zum Beispiel in die Grenzüberwachung durch Frontex, einer europäischen Agentur für “Grenzschutz”, oder die sog. libysche “Küstenwache”[1].
Dass der Begriff der “Solidarität” in der Reform verwendet wird, verweist auf die Doppelmoral der EU. Denn diese vermeintliche Solidarität bezieht sich auf die gemeinsamen Unternehmungen in der rassistischen Abschottung der EU vom Rest der Welt, nicht auf die Solidarität mit Menschen aus Ländern des Globalen Südens. Mit GEAS stimmten vermeintlich nicht-rechte Regierungen dem zu, was das rechte Lager seit Jahren fordert: eine “Festung Europa” zu errichten. GEAS ist ein Beschluss, der schockieren sollte, da er die rassistische Politik der EU ans Tageslicht bringt.
Wo blieb der Protest? Doch ein großer Aufschrei gegen die GEAS blieb aus. In Wien fand am 10. April eine Demonstration gegen die Reform statt, an der gerade mal rund 300 Personen teilnahmen. Wo waren die 35.000, die bei der „Demokratie verteidigen“-Demo im Jänner gegen Rechts auf die Straße gegangen sind? Wo blieb die zivilgesellschaftliche Kritik? Wo blieb die zivilgesellschaftliche Kritik daran, dass die die österreichische Bundesregierung die Reform mitgetragen hat?
“Die humanitäre, menschenrechtliche Skandalisierung scheint ausgedient zu haben”, so eine Rednerin auf der Kundgebung in Wien. Aktuell wird sichtbar, wie sehr rechte Einstellungen inzwischen im Diskurs normalisiert und in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Doch auch in linken Organisierungen ließen die Proteste gegen die GEAS-Reform zu wünschen übrig, auf die frühen Warnungen von NGOs über die geplante Reform folgte keine nennenswerte Reaktion. Was sagt uns das über den Zustand der Linken, wenn eine Kritik am Abbau des Asylrechts und ein gemeinsamer Kampf gegen die rassistischen und menschenunwürdigen Zustände an den EU-Außengrenzen ausbleiben?
Raus aus der Isolation. Uns muss bewusst sein, dass es sich bei der Situation an den europäischen Außengrenzen, der Klimakrise und der erstarkenden Rechten nicht um isolierte Probleme handelt. Vielmehr fällt hier an verschiedenen Stellen die Krisenanfälligkeit des gesamten Systems auf. Rassismus erfüllt bis heute eine funktionale Rolle für das kapitalistische Produktionssystem, da dadurch Ausbeutungs- und Ausgrenzungsverhältnisse legitimiert werden. Dies zeigte sich offensichtlich in der Ausbeutung BIPoCs im Kolonialismus und hält in weniger sichtbarer Form bis heute an, wenn Menschen ohne europäischen Pass am Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert werden, um Unternehmen als billige Arbeitskräfte den Profit zu sichern. Durch rassistische Ideologie werden die materiellen Vorteile der Menschen im globalen Norden gegenüber Migrant_innen aus Ländern des globalen Südens verteidigt. Zudem erfüllen Neiddebatten und das Narrativ um begrenzte Ressourcen, die von Zuwanderung bedroht wären, sozialpsychologische Funktionen. Denn bei allgegenwärtigen Abstiegsängsten und der Frustration über vermeintlich unveränderbare Verteilungsverhältnisse, wird Konkurrenz geschürt, die von rechten Parteien auf eine konstruierte Bedrohung von außen projiziert wird. Rassismus als ein auf Vorurteilen basierendes Bewusstseinsproblem zu verstehen, wie es in liberalen Antirassismus-Debatten der Fall ist, greift also zu kurz. Es wird nicht reichen, die katastrophale Situation an den EU Außengrenzen lediglich mit der Forderung nach "mehr Toleranz" zu bekämpfen. Wer in diese Falle tappt, ist auch nicht in der Lage, die verschiedenen Krisen, denen wir aktuell gegenüberstehen, zu fassen. Die Kritik am Rassismus der EU und in der europäischen Gesellschaft muss mit der Kritik an kapitalistischen Verhältnissen einhergehen.
Doch auch in den radikaleren linken Organisierungen scheint die Verbindung der Kämpfe gegen Rassismus und Kapitalismus ein bloßes Lippenbekenntnis zu bleiben. Wir tendieren dazu, uns als einzelne Gruppen mit spezifischen Problemen auseinanderzusetzen und verlieren dabei den Blick für den gemeinsamen Nenner unserer Bestrebungen. Das wäre jedoch angesichts der multiplen Krisen, denen wir heute als Gesellschaft gegenüberstehen - von steigenden Lebenshaltungskosten über Kriege bis zum Klimakollaps - dringend notwendig. Diese lähmen augenscheinlich einen großen Teil der Linken und führen bis zur Resignation aufgrund vermeintlicher Aussichtslosigkeit. Umso wichtiger wäre es daher, entgegen der Perspektiv- und Hilflosigkeit, die einzelnen Kämpfe in der Praxis zu verbinden und solidarisch nebeneinander zu stehen.
Wenn wir hinsichtlich der EU-Wahlen im Juni und der Nationalratswahlen im Herbst gegen das Erstarken rechter Kräfte arbeiten wollen, müssen wir uns eingestehen, dass es, so wie es gerade läuft, nicht funktionieren wird. Unserer Meinung nach ist eine gemeinsame Diskussion darüber nötig, was wir der rassistischen Abschottungspolitik der EU entgegensetzen können und wie wir diese Arbeit mit lokalen Kämpfen langfristig vereinen können. Wir brauchen ein konsequentes Zusammendenken von Herausforderungen, das sich auch in der Praxis niederschlägt. Es reicht nicht zu fordern, dass die GEAS-Reform nicht eingeführt wird (obwohl das natürlich ein riesiger Erfolg wäre). Wir müssen die Utopie einer solidarischen Gesellschaft jenseits kapitalistischer Logiken einfordern, in der Bewegungsfreiheit und offene Grenzen zusammen mit leistbarem Wohnraum, Gesundheitsversorgung und einem guten Leben für Alle existieren.
Susanna und Sandrine studieren Soziologie an der Universität Wien und beschäftigen sich in ihrer politischen Arbeit mit der Situation an den EU-Außengrenzen.
Foto © Vanessa Hundertpfund
Über einen materialistischen Antirassismus Begriff: Mendívil, E. R. & Sarbo, B. (2022). Die Diversität der Ausbeutung: Zur Kritik des herrschenden Antirassismus.
Für mehr Infos zur GEAS-Reform: PRO ASYL. (o. D.). PRO ASYL – Der Einzelfall zählt. www.öh.at/G1
Sicherere Drittstaaten: PRO ASYL. (2023, 10. März). Das Ende vom Flüchtlingsschutz in Europa? Die Gefahr von »sicheren Drittstaaten« | PRO ASYL. www.öh.at/G2
[1] Wir stellen „Küstenwache“ unter Anführungszeichen, weil ihre Aktivitäten wenig mit Seenotrettung zu tun haben. Die sogenannte libysche “Küstenwache” führt regelmäßig Pullbacks durch, das heißt, Menschen wird die Ausreise verwehrt. Libyen, das nach Bürgerkriegen seit 2022 zweigeteilt ist, gilt als Transitland für Menschen aus ganz Afrika. Doch in den „Auffanglagern“ herrschen fatale Missstände, die von Menschenhandel bis zu Folter und Mord reichen.