Wolfgang Zwander

Demokratie von unten

  • 29.09.2012, 03:21

Der westafrikanische Staat Mali wird von seinen BürgerInnen demokratisiert.

Der westafrikanische Staat Mali wird von seinen BürgerInnen demokratisiert.

Afrikanischen Regierungen wird gerne Korruption, Nepotismus und Kleptomanie zugeschrieben – eine Einschätzung, die von vielen Exil-AfrikanerInnen geteilt wird. Auch in Mali ist die Regierung äußerst unbeliebt. Aber das zu den ärmsten Ländern der Welt zählende Mali hebt sich von anderen afrikanischen Staaten deutlich ab. Die MalierInnen leben – trotz korrupter Eliten – in einer funktionierenden Demokratie und zeigen, dass Demokratie etwas ist, das von unten kommt.
Vor 16 Jahren fing alles an: Die damaligen Machthaber Malis ließen eine Demonstration niederschießen, woraufhin der Offizier Amadou Toumani Toure, genannt ATT, ins Lager der Aufständischen wechselte und die alte Regierung wegputschte. Kein ungewöhnliches Ereignis für die afrikanischen Länder schon hunderte Militärregierungen erlebten. Das besondere daran war, dass ATT kurze Zeit später seine frisch gewonnene Macht an eine zivile Regierung abgab. „Wenn der zivile Staatschef vereidigt ist, kann ich mich zur Ruhe setzen, Fußball spielen und Fallschirm springen“, sagte Toure.

Korruption reloaded. Wer glaubt, dass die zivilen MachthaberInnen daraufhin die Herzen der Bevölkerung eroberten, der irrt. Die Regierungen dümpelten vor sich hin, betrieben Klientelismus, die Beteiligung an den Wahlen war niedrig, die MalierInnen blieben bitterarm und die Pro-Kopf-Verschuldung stieg und stieg. 2002 trat der bei der Bevölkerung noch immer sehr beliebte ATT selbst noch einmal zum Rennen um das Präsidentenamt an und konnte 64 Prozent der Stimmen auf sich vereinen; aber trotz seiner Popularität gingen auch bei dieser Wahl nur drei von zehn MalierInnen zur Wahl. ATT ist auch heute noch im Amt – konnte dem parlamentarischen Staatssystem aber bis dato kein neues Leben einhauchen. Eher im Gegenteil: Vor kurzem wurde bekannt, dass der Staat im vergangenen Jahr 150 Millionen Euro unterschlug, diese Summe entspricht 70 Prozent aller staatlichen Gehälter. „Volksfeindlichen Vampirismus“, nannte das die Zeitung Les Echos.

Mutige Medien. Genau das ist aber der Punkt, der Mali von dutzenden anderen afrikanischen Staaten unterscheidet: Die Jahre der Demokratie brachten dem Land eine ansatzweise funktionierende Zivilgesellschaft und die Medien lassen sich vom Staat nicht gleichschalten und unterjochen. Amidu Diarra macht aus seinem Missmut über die herrschende Kaste kein Hehl: „Guten Tag, ihr korrupten Politiker! Guten Tag, ihr Diebe der öffentlichen Kassen! Guten Morgen ihr Arbeitsscheuen!“, beschimpft der populäre Radiomoderator die Machthaber in seiner Sendung. Vor kurzem wurde Diarra brutal zusammengeschlagen, aber in Mali gibt es an die 150 freie Radiostationen, die den Menschen nicht nur Unterhaltung bringen, sondern ihnen auch dabei helfen, ihr Leben zu organisieren und dabei auch politische Probleme thematisieren. Als vor kurzem fünf Journalisten verhaftet wurden, weil sie angeblich ATT beleidigt hatten, traten viele ihrer KollegInnen in Streik. Und das, obwohl die Strafe für die Verhafteten mit „Gefängnis auf Bewährung“ für afrikanische Verhältnisse relativ glimpflich ausfiel.
Die malische Demokratie hat auch den ständig von Hunger bedrohten Bauern etwas gebracht: „Sie sind nicht mehr stumm, sie haben eine Stimme: Vertretungen, Aktivisten, gewerkschaftsähnliche Verbände. Und die Bauern beginnen, wo es möglich ist, sich selbst zu organisieren, an der Basis“, schreibt die vor Ort berichtende Zeit-Journalistin Charlotte Wiedemann.

Eine Demokratie-Studie der Bertelsmann-Stiftung attestierte Mali eine schnellere Demokratisierung als Rumänien und 2006 fand der afrikanische Teil des Weltsozialforums, an dem 50 000 Menschen teilnahmen, in Malis Hauptstadt Bamako statt. Aber die Klagen der MalierInnen gegen ihre Regierung werden nicht leiser und Privatisierungen von einstigem Staatsbesitz heizen den Unmut weiter an: Als Antwort darauf, dass der Staat die malische Eisenbahn an ein französisch-kanadisches Konsortium verkauft hat, entstand ein „Bürgerkomitee für die Rückgabe der Eisenbahn“. „Wie kann ein Land, das sich souverän nennt, sein nationales Erbe verkaufen wie einen Sack Nüsse?“, fragt der promovierte malische Ingenieur und Schauspieler Tiscoura Traore.

„Seit damals sind wir die Nazis“

  • 13.07.2012, 18:18

In der Wiener Brigittenau wird seit Jahren um den Ausbau eines islamischen Kulturzentrums gerungen. Das Problem? BefürworterInnen und GegnerInnen leben in zwei getrennten Welten. Eine Reportage.

In der Wiener Brigittenau wird seit Jahren um den Ausbau eines islamischen Kulturzentrums gerungen. Das Problem? BefürworterInnen und GegnerInnen leben in zwei getrennten Welten. Eine Reportage.

Ein Mann springt auf eine Parkbank und hält eine Moschee aus Pappe in die Höhe. „Anzünden!“, tönt es vereinzelt, aber kräftig aus den Reihen der sechshundert Demonstrantinnen und Demonstranten. Die verstreuten Schreihälse haben etwas gemein: Sie tragen Glatzen, Bomberjacken und Springerstiefel. Ihr Geifer steckt die Masse an: „Anzünden!“, „Niederbrennen!“, schreien nun RentnerInnen und Hausfrauen mit Neo-Nazis um die Wette. Einige schnappen sich die Papp-Moschee, werfen sie zu Boden, trampeln sie platt.
Vor zwei Jahren trug sich dieses Schauspiel im Wiener Stadtteil Brigittenau zu. Es sollte das Zusammenleben im Bezirk verändern. Hannelore Schuster, 61, verzieht der Ärger das Gesicht, wenn sie an diesen Tag erinnert wird. „Seit damals sind wir die Nazis“, sagt sie. Schuster ist die Sprecherin der Bürgerinitiative Dammstraße, die damals zur Demonstration aufgerufen hat. Sie will verhindern, dass der türkische Kulturverein Atib sein Vereinshaus zu einem fünfstöckigen Veranstaltungszentrum ausbaut. Ein Platz für tausend Musliminnen und Muslime? Nicht in der Dammstraße.

Islamisierung. Die GegnerInnen des Ausbaus treffen sich monatlich zu einem Stammtisch, veranstalten Informationsabende und riefen bisher zu zwei Demonstrationen auf. Die BürgerInnen-initiative entstand im Sommer 2007, wenige Tage nachdem die Baubehörde der Stadt Wien der Vergrößerung des türkischen Vereinshauses zugestimmt hatte. Trotz eines alten Gegen-Antrags aller Parteien des Bezirksparlaments, der vor Parkplatznot und Lärmbelästigung warnt.
Schusters Wohnung ist eine von 1.400, die in der Nachbarschaft des Zentrums liegen. Ihr Balkon im fünften Stock gibt den Blick frei auf den Gebäudekomplex. Wer ihr zuhört, merkt schnell, dass es um mehr geht als bloß um Lärm und Parkplätze. Um eine Parallelgesellschaft, die keine Zweifel am Koran dulde und für Zwangsverheiratungen stehe, geht es dann. Schuster greift nach einem Ordner, darin sind die Unterschriften von 11.400 Menschen aufgelistet, die mit ihrem Namen gegen die Islamisierung der Brigittenau protestieren.
Die Dammstraße ist ein ruhiger Teil von Wien, Bäume und Sträucher lockern Asphalt und Beton auf. Die meisten der mehrstöckigen Wohnhäuser gehören der sozialdemokratisch verwalteten Stadt, die Wohnungen darin werden unter dem Marktpreis vermietet. Hier leben vor allem TürkInnen und ÖsterreicherInnen – Tür an Tür aneinander vorbei. „Die Türken tun einfach so, als ob wir nicht hier wären“, sagt eine Frau, die am Atib-Zentrum vorbeispaziert. Die Türkinnen und Türken auf der anderen Seite der Mauer wünschten, sie könnten dasselbe von den Österreicherinnen und Österreichern behaupten.

Eine Fehlermeldung. Wer sich im umstrittenen Gebäude umsehen will, kommt nicht weit. Ein erster persönlicher Besuch scheitert, da sich unter den fünfzehn anwesenden Männern keiner findet, der Deutsch spricht. Atib hat eine Infotafel aufgestellt, die über die Ausbaupläne informieren soll. Wer eine E-Mail an die dort angegebene Adresse sendet, erhält eine Fehlermeldung: „I‘m sorry to have to inform you that your message could not be delivered.“ Erst gemeinsam mit einer türkischen Übersetzerin, die mit Atib nichts zu tun hat, lässt sich eine Besichtigung arrangieren. Die Männer machen für die türkische Studentin eine Ausnahme, eigentlich dürfe nur Pressesprecher Nihat Koca mit JournalistInnen reden.
Im Zentrum findet sich fast alles, was man zum täglichen Leben braucht. Ein Lebensmittelladen, ein Frisör, ein Gesellschaftsraum mit Fernseher und Billardtisch, eine Großküche, Klassenzimmer und zwei Gebetshäuser. Eines für Männer, eines für Frauen.
Das Gebetshaus der Männer ist ein hoher Saal, sechshundert Quadratmeter groß, die Wände werden von türkisfarbenen Keramikfliesen verziert – ein Import aus der fernen Heimat. Die gewölbte Decke wird von drei Bögen getragen, zwischen ihnen sind Dachfenster aus Glas eingelassen, die den Raum in ein angenehmes Licht tauchen.
Der Gebetsraum der Frauen sieht anders aus. Es ist ein dunkles, fensterloses Zimmer, keine hundert Quadratmeter groß. Die Decke und die Wände sind weiß, ohne jede Dekoration, in einer Ecke steht ein Radiator, an den Wänden lehnen Biergartentische. Es riecht muffig. Es gebe keinen besseren Platz, sagen die Männer.
Atib wird laut Pressesprecher Koca mit dem Ausbau nicht vor 2011 beginnen. Die Sprecherin der BügerInneninitiative, Hannelore Schuster, rechnet sich Chancen aus, das Projekt davor noch zu verhindern. Im kommenden Herbst finden in Wien Wahlen statt. Wenn der Bürgermeister seine absolute Mehrheit im Stadtparlament verliert, werden die Karten neu gemischt. „Tausende Menschen unterstützen uns“, sagt Schuster. Dass darunter auch Neo-Nazis sind, nimmt sie in Kauf? Sie will nicht daran erinnert werden.

Die Angst vor unserer Handlungsunfähigkeit

  • 13.07.2012, 18:18

Das vorliegende Heft ist ein Heft der Krise. Das war nicht geplant, ist aber offensichtlich.

Kommentar

Das vorliegende Heft ist ein Heft der Krise. Das war nicht geplant, ist aber offensichtlich: Christine Nöstlinger spricht im Cover-Interview über die Krise der SPÖ, Marion Bacher beschreibt in ihrer Reportage die Auswirkungen der Finanzkrise auf Griechenland, Anna Sawerthal umreißt in ihrem Beitrag die Krise der Mittelschicht und Heribert Prantl, einer der besten Leitartikler Deutschlands, veranschaulicht in seiner abgedruckten Rede die Krise von Journalismus und Pressefreiheit, die wiederum zu einer schweren Krise der Demokratie führen könnte.
Das beim Lesen der Geschichten entstehende Gefühl nimmt folgenden  Gedanken schon vorweg: Die beschriebenen Krisen sind allesamt keine isolierten Phänomene, sondern hängen miteinander zusammen. Es gibt zwischen ihnen eine Verbindung, die auf zwei Punkte heruntergebrochen werden kann: Angst und fehlender Glaube. Die Angst vor unserer eigenen scheinbaren Handlungsunfähigkeit. Und der fehlende Glaube in die Kraft unseres Handelns. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein so bequemer wie gefährlicher Gedanke in vielen Köpfen breit gemacht. Dass der Zug der Geschichte seine Endstation erreicht habe, wurde allerorten gefaselt. Nicht zuletzt auch an den Universitäten. Dass wir uns nicht mehr um das politische Ganze kümmern müssten, wurde uns erzählt, sondern nur noch um unser eigenes, privates Wohlergehen.
Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Das so genannte Ende der Geschichte hat gerade um ein Haar Griechenland in den Bankrott getrieben; das Ende der Geschichte ist gerade dabei, Zeitungsredaktionen und die Pressefreiheit zu zerstören; das Ende der Geschichte macht sich gerade daran, blutig erkämpfte Werte und Tugenden zu vernichten.
Das Gerede vom Ende der Geschichte ist kein Ende der Geschichte, sondern der Versuch, den Menschen allenthalben einzureden, dass politisch und journalistisch integres Handeln sinn- und zwecklos wären.
Wenn JournalistInnen selbst nicht mehr an den Journalismus glauben, wer bewacht dann die Demokratie? Wenn sich die Mittelschicht aufgibt, wer trägt dann den demokratischen Staat? Wenn sozialdemokratische Parteien in handlungsunfähigkeit verharren, wer verhindert dann, dass die Massen zu den antidemokratischen Rechtsradikalen abwandern?

 

Die Linken haben das nicht geschafft

  • 13.07.2012, 18:18

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger, 73, zählt zu den bedeutendsten KinderbuchautorInnen des deutschen Sprachraums. Mit ihren Büchern hat sie die Zukunft tausender Kinder beeinflusst. Im Interview mit dem PROGRESS spricht sie über Geld, Fußball, junge TürkInnen und die Leiden der SPÖ.

Christine Nöstlinger sitzt am Esstisch in der hellen Wohnküche ihrer Dachgeschosswohnung. Vor ihr ein Glas Weißwein, an dem sie nur nippt. Daneben liegt eine schwarze Packung John Player, aus der sie während des Gesprächs zwei Zigaretten ziehen wird. Ab und zu schenkt sie ihren Gesprächspartnern Wolfgang Zwander und Alexander Fanta ein neckisches Lächeln.

PROGRESS: Sie sind eine der bekanntesten AutorInnen Österreichs. Werden Sie auf der Straße erkannt?

Nöstlinger: Hier im Bezirk (Brigittenau, Anm.) leben ja vor allem Migranten, da passiert das nicht sehr oft. Im Ersten Bezirk aber schon.

Wie finden Sie das Zusammenleben mit Ihren türkischen und ex-jugoslawischen NachbarInnen?

Mir macht das nichts. Die hiesigen Ureinwohner finden aber, dass alles furchtbar geworden ist.

Was finden sie daran furchtbar?

Ich rede mit diesen Leuten nicht so viel. Aber es ist nicht immer leicht, mit Leuten eng zusammenzuleben, die einem anderen Kulturkreis angehören. Ich habe es da leicht, ich sitze auf meinem Dach oben, fahre mit dem Lift auf und ab und brauch mich um nix zu scheren. Wenn aber sechs Leute auf Zimmerkuchl-Kabinett wohnen, dann gibt’s halt viel Dreck, und wenn das Scheißhaus am Gang ist, und das von sieben Leuten öfter benutzt wird und die Musik laut ist, da entstehen halt Animositäten. Es ist nicht lustig, wenn man dünne Mauern hat und dahinter läuft eine Musik, die einem nicht einmal gefällt. Und wenn ich gegen die Mauer pumper und „Aufhören“ schrei, der andere irgendetwas in einer fremden Sprache zurückschreit und nicht aufhört. Es ist überhaupt die Frage, wie viel Fremdes hält ein Mensch aus? Wann ist meine Frustgrenze erreicht?

War Ihre Frustgrenze schon einmal erreicht?

Wie gesagt, ich bekomme das nicht so mit. Was ich aber traurig finde: Die jungen Türken können oft weder Deutsch noch Türkisch.

Ihre Bücher werden auch ins Türkische übersetzt. Denken Sie, dass sie von den Kindern und Jugendlichen hier im Bezirk gelesen werden?

In unserem Haus und in der Gegend gibt es eine Regel: Was man nicht braucht, stellt man in einem Karton vor die Haustür. Die Sachen sind blitzschnell weg, binnen einer Stunde, ob das Heferln sind, oder Reindln (Töpfe, Anm.), oder ganze Sessel, das holen sich die Leut'. Ich hab einmal ein paar Heferln rausgestellt und türkische Übersetzungen meiner Bücher dazugegeben.Die sind vier Tage da unten gestanden. Dann habe ich sie wieder mitgenommen, weil ich mich geniert habe, es steht ja mein Name drauf. Bücher sind hier nicht sehr begehrt.

Man sagt über Sie, früher hätten Sie sehr viel Idealismus in ihre Kinderbücher gepackt, heute sei das aber nicht mehr so.

Das stimmt nicht, ich wähle nur einen anderen Zugang. Vielleicht kommt aber ein bisschen die Abgeklärtheit des Alters dazu, wenn ich mir denke, Kinder soll man nicht mit Sachen indoktrinieren, die sie eh nicht selber ändern können. Ich will die Kinder dann trösten und ihnen zeigen, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein sind, dass andere das auch haben. Das halte ich heute für wichtiger, als ihnen irgendwelche gesellschaftlichen Utopien vorzumachen.

Kann man Kindern bei der Erziehung überhaupt was vormachen?

Der Karl Valentin hat einmal gesagt, es bringt gar nichts, die Kinder zu erziehen, die machen einem eh alles nach. Dem stimme ich zu.

Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher?

Ich kann nur über das Schreiben, was ich kenne. Oft ist es mühsam. Da habe ich zwanzig verschiedene Ideen und bei neunzehn denke ich mir, das wird ein Schmarrn. Und die zwanzigste haut dann doch irgendwie hin. Ich ändere die Texte aber hinterher sehr oft. Wenn ich einen duftigen lockeren Text will, dann muss er duftig und locker werden. Manchmal gelingt das aber einfach nicht.

Werden Sie dann wütend?

Nein, das nicht. Ich war aber angeblich ein sehr wütendes Kind, aber seit ich erwachsen bin, werde ich eigentlich überhaupt nicht mehr wütend. Traurig kann ich werden, und wenn mir was nicht gelingt, dann kann es schon sein, dass ich so elegisch vor mich hin dumpfe und mir denke: Kannst auch nichts mehr.

Erleben Sie manchmal Schreibblockaden?

Ja, das gibt es schon, aber da muss man darüber hinweg, und zwar schreibend. Wird´s nix, schmeißt man´s halt in den virtuellen Papierkorb. Aber nur sitzen und warten, dass es wieder wird, das geht nicht.

Versuchen Sie manchmal, Ihrer Kreativität mit Alkohol auf die Sprünge zu helfen?

Beim richtigen Arbeiten eigentlich nicht. Aber wenn ich mich am Abend hinsetze und Mails beantworte, dann kann man sich schon ein Glas Wein nehmen. Das tue ich ohnehin nicht gerne. Ich muss immer lachen, weil die Leut´ ja glauben, dass man ein Mail sofort beantworten muss. Die rufen dann am nächsten Tag an, und fragen: Hast du meine Mail nicht bekommen? Wenn ich dann sage, ich habe meine Mails schon eine Woche lang nicht angeschaut, dann glauben sie, ich bin nicht von dieser Welt.

Unter welchen Bedingungen schreiben Sie?

Unter allen Bedingungen.

Sie haben keine spezielle Schreibstimmung?

Nein, das geht ja nicht. Dann würde ich ja zu gar nichts kommen, wenn ich warten müsste, bis ich in Stimmung komm'. Aber mit zunehmendem Alter leiste ich es mir, weniger zu arbeiten. Manchmal umschleiche ich den Computer, wie wenn er mein Feind wär', und stell ihn nicht an.

Haben Sie manchmal auch im Kaffeehaus geschrieben, wie es dem Klischee-Bild einer Wiener Schriftstellerin entsprechen würde?

Nein, das ist ja lächerlich, warum soll ich im Kaffeehaus schreiben?

Wie viel arbeiten Sie im Schnitt?

Heute an die dreißig, vierzig Stunden in der Woche.

Wird Ihnen das nicht zu viel?

Ich hab früher achtzig Stunden in der Woche gearbeitet, so gesehen ist es heute viel weniger.

Das hat Sie nie gestört?

Naja, es hat sich halt so ergeben. Ich bin ein arbeitsamer Mensch und viel anderes habe ich eigentlich nie zu tun gehabt außer. Kinder großziehen und halt sonst noch so Notwendigkeiten. Aber ich bin unsportlich, ich habe außer Lesen keine Hobbys, also bleibt mir ja nur das Arbeiten.

Wie gut lebt es sich mittlerweile von Ihrer Arbeit?

Als Schriftstellerin bekomme ich ja keine Pension, aber ich lebe ganz gut. Die genauen Zahlen weiß ich nicht so genau, aber ich glaube, im letzten Jahr betrug mein Einkommen vor Abzug der Steuern € 140.000. Früher, als ich noch für Zeitungen gearbeitet habe und eine Achtzig-Stunden-Woche hatte, habe ich aber sicher doppelt so viel verdient.

Was bedeutet Geld für Sie?

Geld macht das Leben einfacher.

Was ist das für ein Gefühl, dass viele Menschen sehr viel weniger verdienen als Sie?

Also ich hätte gar nichts dagegen, wenn es allen so gut ginge wie mir selbst. Oder sogar besser. Aus dem Unterschied ziehe ich keinen psychischen Gewinn, eher im Gegenteil. Wenn ich mir was Teures kaufe, dann versuche ich hinterher für andere Leute etwas Positives zu tun. Manche Ausgaben kommen mir auch frivol vor.

Welche denn?

Eine Handtasche um 2000 Euro kommt mir frivol vor, das kaufe ich nicht.

Wo ist für Sie der Unterschied zwischen einem guten Leben und luxuriöser Dekadenz?

Der Übergang ist natürlich fließend. Luxus ist ja nur das, was man sich schwer leisten kann, also ist Luxus für jeden etwas anderes.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie beim Einkaufen ungerne auf den Preis schauen.

Als Kind und als junger Mensch hatte ich nichts. Da freut man sich einfach, wenn man ein Geld hat, wenn du auf Kleinigkeiten nicht schauen musst. Das ist eine gewaltige Lebenserleichterung. Aber ich bin echt kein Luxusmensch. Das Angenehmste am Geld ist eine gewisse Sicherheit. Die man aber als Freischaffender sowieso nicht hat, vor allem in den heutigen Zeiten.

Ihre Kollegin Astrid Lindgren schickte einmal einen Brief an den schwedischen Finanzminister und beklagte sich über die vielen Steuern, die sie als Autorin zahlen müsse. Haben Sie sich auch schon einmal beim Finanzminister beschwert?

Nein, ich zahle gerne Steuern, ich finde das richtig. Ich betrüge auch die Steuer nicht. Wenn man bei deutschen Verlagen verlegt, könnte man das auch gar nicht. Man muss sich ja an das Doppelbesteuerungsabkommen halten.

Denken Sie, dass der Mensch immer mehr will, egal wie viel er hat?

Mein Enkelsohn wird sicher sagen: Wenn ich groß bin, brauche ich einen Ferrari. Er hat auch nicht verstanden, warum ich keinen Ferrari habe.

Einen Ferrari könnten Sie sich leisten?

Nein, aber mein Enkelsohn wurde zum besten Fußballer von Belgien gewählt, er wird sich später einmal wahrscheinlich einen leisten können.

Was halten Sie von Fußball?

Das Fußballspielen ist ja etwas Schreckliches, das ist eine faschistoide Geschichte. Wenn mein Enkelsohn zu spät zum Training kommt, wofür er gar nichts kann, weil ihn ja die Mama oder Papa hinführen, müssen alle anderen derweil Liegestützen machen oder im Kreis rennen. So will man ihm das Zuspätkommen abgewöhnen. Das erinnert mich an die Hitlerjugend.

Sie haben sich selbst immer wieder als politisch links bezeichnet. Was bedeutet das für Sie?

Links sein ist heute ja nicht mehr so leicht zu bestimmen. Ich merke, je älter ich werde, dass ich trotz allem ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat bin. Ich nehme mir manchmal vor ich wähle was anderes, Grün, oder ..., naja, viel anderes haben wir ja eh nicht. Ich steh dann aber in der Wahlzelle und mach wieder brav mein Kreuzerl bei der SPÖ. In meinen Jugendjahren wollte ich eigentlich wesentlich linker sein, aber das gelang mir nicht ganz.

Sie wollten in Ihrer Jugend radikaler sein, haben das aber nicht geschafft?

Was heißt, ich habe es nicht geschafft? Die Linken haben das nicht geschafft.

Was haben die Linken nicht geschafft?

Gesellschaftsveränderung. Es ist ja alles schief gegangen.

Sie meinen den so genannten Realsozialismus?

Nein, ein Anhänger der Sowjetunion war ich nie, aber ich hatte Sympathien für die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland.

Auch für die RAF?

Für die RAF nicht, aber für gewisse Menschen, die in der RAF waren.

Was hätte die Außerparlamentarische Opposition erreichen sollen?

Das, was ich mir unter Sozialismus vorstelle.

Was stellen Sie sich darunter vor?

Na, da muss ich jetzt aber lang reden.

Wir bitten darum, wir haben Zeit.

Was soll ich alles aufzählen. Chancengleichheit, gerechte Entlohnung, also all das, was Sozialismus bewirken will. Aber ich habe ja im Laufe meines langen Lebens gesehen, dass die Systemveränderung einfach nicht funktioniert. Das ist todtraurig, aber es ist so: Immer wenn die Zeiten schlechter werden, tendieren die Menschen nach rechts und nicht nach links. Kann ich nicht ändern, aber so ist es.

Was denken Sie, warum ist es so?

Weil das Leben ziemlich kompliziert ist und für viele Menschen nicht sehr durchschaubar. Und weil man dann immer zu den simpelsten und einfachsten Schlagworten und Lösungen greift. Ich habe eine Freundin, die ist Bewährungshelferin, die betreut Inländer, die in ihrem Leben überhaupt noch keinen Strich gearbeitet haben. Und die schimpfen auf Ausländer und sagen: „Die nehmen uns die Arbeit weg“. Wenn sie dann sagt: Du Trottel, hast du schon einmal was gearbeitet, dann sagt der: Nein, aber wenn die nicht wären, dann tät ich.

Können Sie es irgendwie nachvollziehen, wenn jemand politisch in Richtung rechts tendiert?

Mein Gehirn kann nachvollziehen, dass man zu den simpelsten Lösungen greift, und nicht selber nachdenken will, aber emotional kann ich es nicht nachvollziehen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich zum Urteil: Okay, Erziehung, Bildung, das haben manche Leut' nicht. Aber dann denkt man wieder: Verdammt, so deppert müssten's nicht sein. Das ist immer noch mein letzter Schluss, leider. Gerade bei den Jungen.

Denken Sie, junge Menschen wählen die destruktiven rechten Parteien, weil sie ihr eigenes Leben zum Kotzen finden?

Ich kenne mich mit den heutigen jungen Leuten nicht aus, aber wenn mir Lehrerinnen von Gymnasien erzählen, dass die in der Maturaklasse zur Hälfte den Strache wählen, und bei jeder Diskussion, die man mit ihnen deswegen eingehen will, sagen sie nur, der ist cool. Mehr kommt nicht. Das wird mir von mehreren Lehrerinnen glaubwürdig versichert. Da weiß ich auch nicht weiter.

Können Sie in Anbetracht dessen noch an politische Utopien glauben?

Früher haben mein Mann und ich immer gesagt: Unsere Ideen müssen überwintern, die kommen wieder. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich sehe keine Anzeichen dafür.

Das Oben und Unten, die sozialen Klassen, die wird es immer geben?

Dass sich die Zustände zum Positiven ändern werden, glaube ich nicht. Ich werde das sicher nicht mehr erleben, vielleicht meine Enkel.

Wie halten Sie es mit der Religion?

Nichts, überhaupt nichts.

Glauben Sie an Gott?

Nein.

Der Mensch muss sich also selbst helfen.

Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn die Leute sich die ganzen Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen. Wir haben ja alle keine Vorstellungen, was die Wirtschaftskrise noch alles auslösen wird. Würden Sie nicht sagen, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden die ganzen Ungerechtigkeiten gefallen lassen?

Mittlerweile ist ja nicht mehr allein die Unterschicht von Sozialabbau betroffen, sondern auch die Mittelschicht. Was werden die Griechen tun? Fünf Mal demonstrieren gehen, und dann resignieren? Oder kommt dann was anderes? Ich weiß es nicht.

Sehen Sie sich als Teil der Mittelschicht?

Die löst sich ja auf. Es gibt Leute, die sich selbst als Teil der Mittelschicht sehen, wo ich mir dann denken muss, naja, bitte, was soll bei denen Mitte sein? Die Menschen sehen sich alle als Bürger, haben aber keinen Besitz und sind daher in Wirklichkeit Proletarier. Und dieselben Menschen verwenden das Wort Prolet als Schimpfwort.

Ist das nicht genau das große Problem der SPÖ, dass die Mittelschicht wegzubrechen droht und die Unterschicht nach rechts rückt?

Naja, der durchschnittliche Strache-Wähler in Wien ist vom durchschnittlichen SPÖ-Wähler nicht so weit entfernt. Darum verhalten sich die Roten ja wie sie sich verhalten. Nur ist das auch keine Lösung. Am ärgsten wird es, wenn die Serben Strache wählen, nur weil er ein blau-weißes Bandl am Arm hat. Meine serbische Putzfrau sagt: „Kann nicht mehr wohnen in Veronikagasse, ist schon alles verturkt.“

Finden Sie, dass die SPÖ den Rechtsruck ihrer Wähler zu weit mitgemacht hat?

Es gibt auch in der SPÖ Leute, mit denen ich ziemlich d'accord bin, nur haben die halt nichts zu sagen. Wo ist denn der Caspar Einem (ehemaliger SP-Minister, Anm.) hin verschwunden? Wo ist der Ferdinand Lacina (ehemaliger SP-Finanzminister, Anm.) hingekommen? Sind ja alles Leute, die überhaupt keine Machtpositionen mehr haben.

Bringen Sie Verständnis für die heutigen sozialdemokratischen Führungsfiguren auf, wenn sie mit den rechten Wölfen heulen?

Nein, dafür bringe ich kein Verständnis auf. Ich meine, es ist ja lächerlich, da gibt es den alten Satz: Man geht nicht zum Schmiedl, wenn man zum Schmied gehen kann. Das alles, wo sich die SPÖ anpasst, kann die FPÖ wesentlich besser.

Kurzum, die SPÖ sollte nach Links rücken?

 Ja, das wäre nett.

Bestünde da nicht die Gefahr, dass sich eine linkere SPÖ selbst marginalisieren würde, weil der Großteil ihrer WählerInnen nicht dabei wäre?

Ich gebe ja gerne zu, dass es die SPÖ nicht leicht hat.

Wenn Werner Faymann an Ihrem Tisch säße, was würden Sie ihm raten?

Nix, er macht was er kann, mehr kann er nicht. Soll ich sagen, lieber Werner, entwickle Utopien, entwickle Visionen? Der hat es ja auch nicht leicht, was soll er denn tun?

Das Interview führten Wolfgang Zwander und Alexander Fanta.

Der Fluch der Medien

  • 13.07.2012, 18:18

Die Hochschulproteste 2009 werden in die Geschichte Österreichs eingehen, das lässt sich sagen, obwohl sie noch gar nicht zu Ende sind. Nun besteht aber die Gefahr, dass die Studierenden den Aufstand zu sehr ins Audimax verlagern und die Hörsäle leer bleiben.

Die Hochschulproteste 2009 werden in die Geschichte Österreichs eingehen, das lässt sich sagen, obwohl sie noch gar nicht zu Ende sind. Nun besteht aber die Gefahr, dass die Studierenden den Aufstand zu sehr ins verlagern und die Hörsäle leer bleiben.

Als sich am 22. Oktober ein paar hundert Studierende neben dem Hauptgebäude der Universität Wien unangemeldet zu einer Demonstration versammelten, erhielt ein Mitarbeiter der Wochenzeitung Falter einen Anruf eines Aktivisten, der schon Tage zuvor daran gearbeitet hatte, den Protest zu schüren. „Bitte komm her! Ruf Kollegen an! Wir brauchen die Medien, sie sind der einzige Grund, warum wir das hier machen“, sagte der junge Mann dem Journalisten.
Wenige Minuten später vertreibt die Polizei die Studierenden mit Megaphonen. Die Sache scheint erledigt. Ein Teil der Demonstrierenden zieht sich ins benachbarte Gebäude der Uni Wien zurück. Einzelne Stimmen werden laut, im Auditorium Maximum, dem größten Hörsaal des Gebäudes, sei gerade Vorlesungspause. Kurz diskutieren die FührerInnen an der Spitze des Zuges: Sollen wir da wirklich rein? „Los geht’s“, brüllt da die Kleinste unter ihnen. Gesagt, getan – das Audimax ist besetzt.
Niemand kann recht fassen, wie einfach alles vonstattengeht. Immer mehr Studierende strömen in den Raum und alle versichern sich, bleiben zu wollen, was immer auch passiere. Eine Studentin, die darauf insistiert, ein Recht auf ihre Biologie-Vorlesung zu haben, erntet Spott, Gelächter und vereinzelte Buh-Rufe. Die junge Frau muss bald erkennen, dass ihr Versuch, die Studierenden zum Abziehen zu bewegen, chancenlos ist. Sie ist die Erste von vielen, die zu spüren bekommt, dass es den Besetzerinnen und Besetzern ernst ist.  

Große Egos auf der Bühne. Schnell teilt sich der Raum in zwei Gruppen. Die große Mehrheit bleibt passiv und setzt sich auf die HörerInnen-Bänke, der Rest schaltet und waltet rund um den Katheder und versucht, der Besetzung eine Struktur zu geben. Nicht, dass irgendwer davon abgehalten wird, auf dem Podium zu stehen, aber eine Bühne zieht immer die Art von Egos an, denen die bloße ZuschauerInnenrolle zu wenig ist. Die Menschen hinter dem Katheder heizen mit ihren Reden die Menge an und sonnen sich ergriffen im Applaus, der fast immer auf ihre Worte folgt. Die Stimmung ist gut und aufregend.
Nach drei Stunden Besetzung stellt sich der Student, der zuvor den Mitarbeiter vom Falter angerufen hat, hinter das RednerInnen-Pult, hebt triumphierend die zur Faust geballte linke Hand und schreit ins Mikrophon: „Ich habe eine gute Nachricht, wir sind beim Online-Standard ganz oben.“ Frenetisches Triumphgebrüll schallt ihm entgegen, der Raum verwandelt sich für Minuten in ein Fußballstadion, in dem ein Tor bejubelt wird. 
Gleichzeitig sammeln sich die ersten Freiwilligen, um die Pressearbeit der Besetzung zu koordinieren. Bald werden sie nur noch „Arbeitsgruppe Presse“ genannt, weil im besetzten Audimax jedeR und alles eine Arbeitsgruppe (AG) ist. Als eine ihrer ersten Taten klebt die AG Presse ausgedruckte Artikel verschiedener Online-Medien an die dunklen Holzwände des Hörsaals. Die Studierenden stehen nun vor den Artikeln und lesen, was sie gerade machen. „Echt flashig“, findet das eine junge Studentin.  

Freundliche Medien. Flashig ist das Wort, das oft gebraucht wird, um die ersten Tage im besetzten Audimax zu beschreiben. Da treffen sich zwei-, dreihundert verärgerte Studierende im Park neben der Universität und nur wenige Stunden später dominieren sie die Schlagzeilen in Österreich und finden letztlich NachahmerInnen in ganz Europa. Das fast noch größere Kuriosum: Den BesetzerInnen schlägt seitens der Medien kaum Ablehnung entgegen, sie ernten größtenteils Zuspruch. Außer in besonders einschlägigen Produkten war nichts zu lesen, zu hören oder zu sehen von „faulen linken Krawallmachern“, die die Hörsäle schleunigst wieder freigeben sollten. Sogar die populär-reaktionäre Kronen Zeitung wusste zwischenzeitlich nicht genau, ob sie die Besetzung dulden oder niederschreiben sollte. (Im Zweifel entschied sie sich doch für das Zweite.) Die Zeit im Bild 2, in der Marie-Claire Zimmermann Ex-Wissenschaftsminister Johannes Hahn verbal abwatschte, ist längst legendär. Am weitesten ging aber die Wiener U-Bahn-Zeitung Heute, die eigentlich ein ähnliches Klientel bedient wie die Krone und auch ihrem Einflussbereich zuzurechnen ist: Sie las sich zeitweise wie das offizielle Presseorgan des Protests. Mehrere MitarbeiterInnen der AG Presse versichern, Heute-Chefredakteur Richard Schmitt habe bei ihnen mehrmals angerufen, um logistische Hilfe anzubieten. Die BesetzerInnen und die Medien – sie gingen eine eigenartige Symbiose ein. Was ist passiert?

Ungleiches Echo. Das Audimax der Uni Wien war schon oft besetzt, daran kann es nicht gelegen haben. Im März und April 1996 harrten BesetzerInnen eineinhalb Monate darin aus, um gegen eine Verschärfung des Beihilfensystems zu protestieren. Das mediale Echo von damals steht in keinem Vergleich zu dem von heute. Wer Ende November in die Suchmaske der österreichischen Presseagentur APA in der Rubrik „Alle Quellen“ die Wortkombination „Audimax“ und „Besetzt“ eingab, erhielt für das Jahr 1996 vier Treffer, für das Jahr 2009 aber ganze 1085. Der Vergleich hinkt, die APA und die Medien haben seitdem aufgerüstet, dennoch bleibt ein Anstieg um mehr als 25.000 Prozent. Was hat sich verändert?
Auf diese Frage kann es natürlich nicht nur eine Antwort geben. Eine mögliche Erklärung ist die ausgezeichnete Öffentlichkeitsarbeit, welche die AG Presse geleistet hat. Martina Kraft (Name von der Redaktion geändert) aus Deutschland gehört gemeinsam mit acht anderen Personen zum harten Kern der AG. Sie war schon dabei, als das Team, wie sie sagt, „nur aus dreieinhalb Leuten“ bestand und noch nicht im schicken Prominentenzimmer untergebracht war.

Kommandozentrale. Die AG Presse koordinierte den Aufbau der Homepage, beantwortet täglich dreihundert Mails und dutzende Anrufe, twittert, facebooked, bloggt und streamt. Die Informationen über die Arbeit aller AGs laufen bei ihr zusammen, sie ist der Server des Protests. Zeitweise ist ihre Macht so groß, dass sie aus einer Liste von Freiwilligen diejenigen Personen aussucht, die als SprecherInnen gegenüber Fernsehen, Radio und Zeitungen fungieren. Wer am Abend in der Zeit im Bild oder im Club 2 als Gesicht der Bewegung auftritt, wurde von der AG Presse dorthin geschickt. „Viele bezeichnen uns als Kommandozentrale des Aufstands“, sagt Martina nicht ohne Stolz.
So viel Macht erfährt auch Widerspruch: „the revolution will not be facebooked. nor streamed or twittered” und „Seit wann ist Plenum wie Fernsehen?” stand auf Zetteln, die Studierende schon während der ersten Tage an den Wänden im Audimax anbrachten. Was meinen sie damit?
Thomas Hauptmann will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, trägt Bücher von Gilles Deleuze und Michel Foucault in den Taschen seiner weiten Strickweste und arbeitet in drei AGs mit. Er sagt: „Wenn alle über uns reden und schreiben, dann lähmt das die Bewegung. Ich kam mir am Anfang wegen der breiten Berichterstattung wie hypnotisiert vor. Jeder achtet nur auf die Außenwirkung der Proteste, aber die Außenwirkung wird das neoliberale Bologna-Programm nicht verändern. Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig, aber sie kann nicht das Wichtigste sein, sonst müssen wir von PR und nicht von Politik sprechen“

Inszenierung des Scheins. Hauptmann spricht ein Problem an, das weit über die Studierenden-Proteste hinausgeht. Das politische System richtet seine Arbeit immer stärker an den Medien und immer weniger an den wirklichen Problemen der Gesellschaft aus. Die „Inszenierung des Scheins“ anstelle der „Inszenierung der Wirklichkeit“ nennt das der deutsche Politologe Thomas Meyer, laut dem wir längst in einer Mediendemokratie leben. Was bedeutet das?
Traditionellerweise sollten die Medien die Politik beobachten, damit sich die StaatsbürgerInnen eine vernünftige Meinung von dieser bilden können. „In der Mediendemokratie aber beobachten die politischen Akteure das Mediensystem, um zu lernen, was sie und wie sie sich präsentieren müssen, um auf der Medienbühne einen sicheren Platz zu gewinnen“, schreibt Meyer in der Neuen Zürcher Zeitung. Die Politik unterwerfe sich den Regeln der Medien, um auf diesem Wege die Herrschaft über die Öffentlichkeit zu gewinnen. 

Der Protest verlagert sich. Ende November erschien im Standard ein Artikel, der das Dilemma der Mediendemokratie auf die Uni-Proteste ummünzte: „Generell sind die Medien für die Besetzer Segen und Fluch zugleich. Einerseits wurde durch die große mediale Aufmerksamkeit bisher eine Räumung erschwert, andererseits birgt die positive Berichterstattung die Gefahr, die Proteste zu schlucken. (…) Die Studierenden befinden sich in einem Dilemma: Sie wollen den positiven Rückhalt nicht verlieren, da ihnen die Medienpräsenz hilft. Doch deswegen bleiben sie zu brav, um negative Schlagzeilen zu vermeiden.“ Ob die Studierenden wirklich „zu brav“ sind, sei dahingestellt. Wahr ist, dass sich der Protest in seiner ganzen Form zunehmend von den Hörsälen in die Medien und das Internet verlagert hat.
Nach wie vor twittern, bloggen und streamen die BesetzerInnen. Die Qualität der Homepage wird immer besser, selbst IT-Profis zeigen sich angetan. Aber wer sich Ende November ins Audimax begab, fand meist leere Bankreihen vor. Nicht ohne Chuzpe zu beweisen, schlug Georg Winckler, Rektor der Universität Wien, deshalb sogar eine Teilzeit-Besetzung vor. Eine Stunde pro Tag dürften die Studierenden Aufstand spielen.
Es ist bizarr, der mediale Erfolg der Protestierenden ist so groß, dass er sich nun gegen sie zu wenden droht. Deshalb gehört es bereits jetzt zur wichtigsten Erkenntnis der ruhmreichen Studierenden-Proteste 2009, dass die Politik zwar Blogs und Homepages ignorieren kann, einen bummvollen, besetzten Hörsaal aber nicht.
 

Das Menschengeschlecht

  • 13.07.2012, 18:18

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte.

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte. Halten wir fest: Die Bild-Zeitung nutzte den Hype der Political Incorrectness sofort aus, um festzustellen, was man alles „wohl noch sagen dürfen“ werde. Dass dabei gefordert wird, „wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein“, nehmen die LeserInnen des Blattes hoffentlich nicht zu wörtlich.
Die FPÖ geilte sich – wie nicht anders zu erwarten – an Sarrazins Thesen auf: Laut Hazeh Strache muss „man sich schon fast überlegen, diesem verdienstvollen Mann bei uns Asyl anzubieten“. Hierzu wäre interessant, welche neue Thesen über vererbbare Dummheit Sarrazin einfielen, wenn er mal den Hazeh-Mob am Viktor-Adler-Markt sehen würde. Sei´s drum.
Wirklich Anlass zum Aufhorchen sollte ohnehin etwas anderes geben: Wie stark Sarrazins „ethnische Thesen“ von Teilen des so genannten bürgerlichen Lagers rezipiert werden. Sarrazin schaffte es immerhin bis auf das Cover vom Spiegel. Die Ressentiments, die er schürt, finden ganz offenbar auch in Kreisen Widerhall, die Qualitätsmedien konsumieren. Und schneller als uns allen lieb sein kann, müssen wir uns nun wieder mit Fragen herumschlagen wie dieser: Ob eine junge „deutsche Akademikerin“ a priori wertvoller sein könnte als eine „ostanatolische Gebärmaschine“? Die Zeiten aber, in denen solche Fragen auch nur implizit gestellt wurden, sollten wir als Menschengeschlecht wirklich hinter uns gelassen haben.

Ich werde zurückkehren

  • 13.07.2012, 18:18

Shirin Ebadi eröffnete mit ihrer Rede das diesjährige Forum Alpbach. Die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin spricht über ihre Arbeit, wegen der sie ihre Heimat verlassen musste, über europäische Firmen im Iran und die Stabilität des Regimes.

Shirin Ebadi eröffnete mit ihrer Rede das diesjährige Forum Alpbach. Die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin spricht über ihre Arbeit, wegen der sie ihre Heimat verlassen musste, über europäische Firmen im Iran und die Stabilität des Regimes.

Zur Person

Shirin Ebadi (1947), die erste Richterin in der Geschichte des Irans, hat 2003 den Friedensnobelpreis bekommen, der mittlerweile aus ihrem Schließfach in Oslo verschwunden ist. Nach der Revolution 1979 wurde sie gezwungen, ihr Amt niederzulegen – weil sie eine Frau ist. Seit dem Ende der 90er Jahre übernahm sie als Anwältin im Zuge einer Mordserie an Intellektuellen immer mehr Fälle von politischen AktivistInnen. 2005 wurde sie trotz internationalem Protest vor das iranische Revolutionsgericht geladen. Ihr Menschenrechtszentrum in Teheran wurde 2008 von der Regierung wegen „Propaganda gegen das Regime“ geschlossen, kurz darauf musste sie den Iran verlassen.

PROGRESS: Frau Ebadi, fühlen Sie sich in Europa sicher?

Ebadi: Wieso stellen Sie mir diese Frage?

Weil in der Vergangenheit auch in Europa immer wieder iranische AktivistInnen ermordet wurden, die als KritikerInnen der Regierung aufgetreten sind.

Ich denke nicht sehr viel an Gefahren. Wenn ich mich zu sehr darauf konzentrieren würde, könnte ich meine Arbeit nicht fortsetzen.

Könnten Sie in den Iran heimkehren?

Ich werde dann, wenn ich mich dazu entscheide, in den Iran zurückkehren. Niemand kann mich daran hindern! Aber aufgrund der starken Zensur im Iran will ich jetzt nicht zurück, meine Stimme würde dort nicht gehört werden. Mein Büro wurde geschlossen und mein persönliches Hab und Gut beschlagnahmt. Im Iran kann ich im Moment für mein Volk nicht viel tun. Unter
diesen Umständen bin ich in Europa viel besser aufgehoben.

Wann mussten Sie erkennen, dass ihre Arbeit im Iran keinen Sinn mehr macht?

Die Lage für Menschenrechtsaktivisten war im Iran nie einfach. Aber seit den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 ist sie fast unmöglich geworden.

Wie gestaltet sich Ihre politische Arbeit fern Ihrer Heimat?

Ich sehe meine Hauptaufgabe darin, Informationen zur Verfügung zu stellen. Ich möchte, dass die Weltöffentlichkeit weiß, unter welchen Umständen und Zuständen meine Landsleute im Iran leben. Ich nehme an Seminaren teil, schreibe Artikel und Bücher. Mein letztes Buch mit dem Titel Der goldene Käfig beginnt mit dem Zitat: „Wenn du das Unrecht nicht aus dem Weg
schaffen kannst, dann stell die Verursacher des Unrechts bloß.“

Haben Europa und die USA im Umgang mit dem Iran zu sehr auf das Atomprogramm geachtet und die Reformbewegung zu wenig unterstützt?

Europa und die USA haben sich bislang im Umgang mit dem Iran nur auf ihre eigene Sicherheit konzentriert. Dabei haben sie vergessen, dass im Iran Menschen getötet werden. Ich möchte, dass den Menschenrechten in meiner Heimat mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Was halten Sie von europäischen Firmen, die Geschäfte mit dem Iran machen?

Eine Reihe von europäischen Firmen unterstützt den iranischen Staat bei der Zensur und der Überwachung. Das bekannteste Beispiel ist Eutelsat. Ich denke, dass die EU solche Firmen unter Aufsicht stellen müsste. Nicht nur Staaten, sondern auch private Firmen müssen Menschenrechte beachten. Eutelsat hat ja nicht nur in den Iran Überwachungstechnik geliefert, sondern auch nach Russland.

Wie sehr stehen beim Umgang Europas mit dem Iran humanitäre Werte im Vordergrund und welche Rolle spielen im Vergleich dazu die Geschäftskontakte?

Beides spielt eine Rolle, aber die wirtschaftlichen Kontakte sind bei den Beziehungen zum Iran zweifellos sehr wichtig. Für die Menschenrechte sehe ich da leider nicht so viel Interesse. Wäre das anders, würden die Europäer ja etwas gegen die Geschäfte von Eutelsat und Nokia machen. Nokia hat dem Iran eine Software zur Verfügung gestellt, mit der Mobiltelefone und auch das Internet zensuriert und überwacht werden können. Lassen Sie mich Ihnen noch ein anderes Beispiel geben: Von allen europäischen Staaten ist es Deutschland, das den Iran am stärksten kritisiert. Die deutsche Bundeskanzlerin nimmt sich da kein Blatt vor den Mund. Gleichzeitig hat der Handel zwischen Iran und Deutschland im Jahr 2009 floriert und ist im Vergleich zu den Vorjahren stark gewachsen. Fast das Gleiche gilt leider auch für Österreich. Wenn es um Geschäfte geht, werden die Menschenrechte schnell vergessen.

Würden Sie die Firmen wie Eutelsat und Nokia für die Verletzung und den Tod von Oppositionellen verantwortlich machen?

Diese Ausdrucksweise gefällt mir nicht. Ich bevorzuge, einfach nur zu sagen, dass diese Firmen den Iran bei der Zensur unterstützen.

Wegen der repressiven Stimmung wird die Arbeit für NGOs im Iran immer schwieriger. Die EU unterstützt sie dennoch mit Geldern. Wie viel Sinn hat das?

Die Arbeit der NGOs ist schwierig wenn nicht sogar zur Unmöglichkeit geworden. Der iranische Staat hat mittlerweile aber selber welche ins Leben gerufen. Das sind staatliche Organisationen, die sich als nicht-staatliche tarnen. Und ich weiß, dass die EU diesen Organisationen Gelder gegeben hat, damit sie rechtliche Bildung und Beratung im Iran durchführen. Echte NGOs würden sich nie trauen, diese Gelder aus dem Ausland anzunehmen. Es wird ihnen ja ohnehin schon vorgeworfen, dass sie Spionage für ausländische Mächte betreiben. Jeder Euro, den die EU investiert, geht an diese „staatlichen“ Organisationen.
 
Wie stabil ist das Regime heute?

Es gibt zur Zeit keine Stabilität. Der Abstand zwischen Regierung und Volk wird täglich größer und die Unterstützer sind gespalten. Viele der früheren Sympathisanten sind heute Kritiker. Das System ist heute seit seinem Bestehen in seiner schwächsten Phase.

Wie viel Zeit geben Sie ihm noch, ehe es zerbricht?

Politische Angelegenheiten kann man nicht mit Zeit messen.

Wie gefährlich wäre ein Iran mit Atomwaffen für den Rest der Welt?

Für den Weltfrieden und die politische Sicherheit der Welt ist ein undemokratischer Staat noch gefährlicher als eine Atombombe. Frankreich und England haben auch Atombomben, ist das etwa eine Bedrohung für die Welt? Was ist aber mit Pakistan, fühlen wir uns dort etwa sicher? Vor dieser Bombe scheint auch niemand besonders große Angst zu haben.

Hat die Revolution von 1979 dem Iran auch etwas Positives gebracht?

Vor der Revolution war der Staat sehr abhängig, vor allem von den USA. Diese Abhängigkeit ist heute nicht mehr vorhanden. Das heißt aber nicht, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert hat.

Was sind denn die Konzepte und wer sind die TheoretikerInnen der Grünen Bewegung im Iran?

Das ist eine demokratische Bewegung, keine ideologische Bewegung. Sie besitzt nicht die Struktur einer politischen Bewegung oder einer Partei. Das heißt, es gibt da keine Spitze, die Entscheidungen trifft. Das ist eine horizontale Netzwerkbewegung. Mussavi (Ex-Ministerpräsident Mir-Hossein Mussavi, Anm.) und Karrubi (Mehdi Karroubi, hoher shiitischer Kleriker, Anm.) sind Teil dieser Bewegung und verstärken sie durch ihre Teilnahme. Sie sind  aber keinesfalls die Führer der Bewegung. Die Bewegung wird durch die Netzwerke koordiniert.

Gibt es VordenkerInnen, die jetzt brauchbar für die Grüne Bewegung sind?

Wie gesagt, das ist eine demokratische und keine ideologische Bewegung, die vor allem ein Ziel hat: Demokratie. Deshalb kann es in dieser Bewegung auch keine Vordenker und Masterminds geben. Denken Sie zum Beispiel an den letzten Marsch: Mussavi und Karrubi haben die Menschen dazu aufgefordert, nicht auf die Straße zu gehen, nachdem die Demonstration vom Regime nicht bewilligt wurde. An diesem Tag sind die Menschen aber trotzdem auf die Straßen gegangen, und der Staat hat von 150 Festnahmen berichtet. Alleine diese Berichterstattung, dass 150 Menschen festgenommen wurden, ist ein Beweis dafür, dass die Menschen trotzdem auf die Straßen gegangen sind. Es gibt keinen Vordenker, es gibt keine Führer, es sind die Menschen, die da am Werk sind. Und das macht die Bewegung stärker.

Wie kann eine Bewegung, die so aufgebaut ist, wie Sie das beschrieben haben, die Regierenden zu Eingeständnissen bewegen?

Eine friedliche Bewegung erlaubt keine Gewaltanwendung von Seiten der Regierung. Die Grüne Bewegung ist eigentlich gut verbunden, was die Kommunikation untereinander anbelangt. Per Internet können sie gut kommunizieren. Das ist der Unterschied zwischen einer Bewegung und einer politischen Partei. Eine Bewegung stirbt nicht ab, die hat Höhen und Tiefen, aber sterben tut sie nicht. Die Grüne Bewegung im Iran lässt sich mit der Bewegung der Farbigen in den USA vergleichen. Angefangen hat das in den USA mit Martin Luther King, aber nach Martin Luther Kings Tod, war die Bewegung nicht am Ende. Wer war dort der Führer? Alle Farbigen! Und wie lange hat die Bewegung gedauert? Bis Präsident Obama ins weiße Haus einzog. So wird das auch mit der Grünen Bewegung im Iran sein, vielleicht dauert das viele Jahre, aber sie werden siegreich sein – ohne Führer.

Haben Sie einen Rat für die jungen IranerInnen, die aufbegehren?

Die iranische Jugend weiß sehr gut, was sie zu tun hat. Sie soll ihren Kampf fortsetzen. Ich bin stolz auf die iranische Jugend.

Was bedeutet für Sie Freiheit?

Das heißt, seine Meinung frei äußern zu können, ohne Angst vor dem Gefängnis haben zu müssen. Und dass man bei den Wahlen jeden wählen kann und dass man so leben kann, wie man es selbst für richtig hält. Dass man frei wie ein Vogel leben kann (lacht).

Der kommende Aufstand

  • 13.07.2012, 18:18

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Die Linke hat eine neue Bibel: Ein anarchistisches Manifest geht um die Welt, während der Staat seine AutorInnen jagt.

Es gibt Texte, die Geschichte schreiben. Durchaus im wörtlichen Sinn: Sie verbreiten Ideen, die noch nicht an der Macht sind, aber bereits in den Köpfen. Sie geben dem Unbehagen, das allenthalben gespürt wird, eine Form und einen Ausdruck.
Zur Zeit geht so eine Schrift auf der ganzen Welt um: Der kommende Aufstand ist ein Manifest, das Staat und Kapitalismus den Krieg erklärt. Es erschien vor drei Jahren in Frankreich im Anschluss der Krawalle in den Banlieues, als Verfasser zeichnet das Unsichtbare Komitee. Die französische Sonderpolizei stürmte eine Kommune auf dem Land, um einen mutmaßlichen Autor, den Philosophen Julien Coupat, festzunehmen, was das Ansehen des Textes nur noch steigerte und ihn international bekannt machte.
Der reaktionäre US-Fernsehstar Glenn Beck hielt die englische Übersetzung des Buches in die Kamera und nannte es „möglicherweise das Böseste, was ich jemals gelesen habe“. Die Linken riefen zur Bewaffnung auf, warnte er seine ZuseherInnen. Seit Sommer dieses Jahres ist der Text auch auf Deutsch erhältlich, woraufhin er die deutschen Zeitungen eroberte. Die wichtigsten FeuilletonistInnen widmeten dem Pamphlet ihre Gedanken und versetzten es in den Rang einer neuen „Bibel der Linken“.

Attac wird verspottet. Was hat dieser Text zu bieten, dass er in versifften Studierendenheimen gleichermaßen fasziniert gelesen und diskutiert wird wie in den Glaspalästen der großen Redaktionen? Zuallererst stimmt, dass er wirklich gut geschrieben ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber die Essenz des kommenden Aufstands ist etwas anderes. Was das Werk so faszinierend macht, ist die so simple wie radikale Feststellung, dass sich der real existierende Kapitalismus nicht zähmen lässt. Dass es den Reichen immer gelingen wird, den Netzen des Steuerstaats zu entwischen. Attac, Grüne, Gewerkschaften, SozialdemokratInnen: Das Unsichtbare Komitee verhöhnt und verspottet sie alle. Sie trügen nur dazu bei, den verhassten Staat und seine bewaffneten Arme, die das Kapital schützen, am Leben zu halten.
Aber müsste nicht zumindest der Wohlfahrtsstaat verteidigt werden? „Der Behinderte ist das Vorbild der kommenden Bürgerlichkeit. Es ist nicht ohne jede Vorahnung, dass die Vereine, die ihn ausbeuten, ein existenzsicherndes Grundeinkommen für ihn fordern“, antwortet das Unsichtbare Komitee.
Aber sollte nicht zumindest versucht werden, das System von innen zu verändern? „Es gibt keinen Grund, sich in diesem oder jenem Bürgerkollektiv zu engagieren, in dieser oder jenen Sackgasse der radikalen Linken, in der letzten vereinten Hochstapelei“, schreiben die unsichtbaren KommunardInnen.
Ihre Haltung ist nicht ganz neu, KommunistInnen verfochten im 20. Jahrhundert eine ähnliche Sicht. Neu sind aber die Antworten, die Der kommende Aufstand bietet, um den Besitzenden die Macht zu entreißen. Nicht mehr Einparteien-Diktatur und Verstaatlichung der Produktionsmittel sollen der Linken den Sieg bringen, sondern Sabotage, Rückzug, Anonymität und „Partisanenkampf“.

Der Partisan im Wald. Wie das Erfolg bringen soll? „Georges Guingouin, der ‚erste Partisan in Frankreich‘, hatte als Ausgangspunkt 1940 nur die Sicherheit seiner Ablehnung der Besatzung“, schreiben die AutorInnen. Damals sei er für die Kommunistische Partei „nur so ein Spinner, der im Wald lebt“ gewesen; bis es „zwanzigtausend Spinner waren, die im Wald lebten“ und die eine Stadt von den Nazis befreit hätten.
Der Partisan im Wald zeigt vor, wie die Logik des Kapitals überwunden werden soll. Es gehe darum, Gruppen zu bilden und sich selbst zu organisieren, um der Hybris des Staates, der alles kontrollieren will, zu entkommen. Hier wird klar, warum Der kommende Aufstand so vielen und gerade auch konservativen FeuilletonistInnen leise zuspricht: Die extreme Linke stimmt ein in das konservative Unbehagen am Staat, der einer Krake gleich mit seinen Tentakeln immer tiefer in unser Leben eindringt, um die „öffentliche Sicherheit“ und letztlich sich selbst zu erhalten. Er operiert mit Videoüberwachung, Rasterfahndung und unscharf formulierten „Mafiaparagraphen“, die jeden Kegelverein ins Gefängnis bringen können.
Wobei Repression aber nur einer der beiden Janusköpfe der Staatlichkeit ist: Der Ausweitung der Überwachung auf der einen Seite entspricht der Ausbau des Wohlfahrtsstaates auf der anderen. Der Sozialstaat trat in der Geschichte immer als Alter Ego des Kontrollstaates auf. Wer gibt, macht das nicht ohne Preis – der Staat tauscht seit jeher Freiheit gegen die Sicherheit seiner BürgerInnen. So muss es nicht wundern, dass die linksliberale Berliner tageszeitung weit hysterischer als die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung ( FAZ ) auf ein Manifest reagiert, das den Staat vernichten soll.

Schwarze Geländewägen. Wie würde aber die Welt aussehen, wenn Der kommende Aufstand gelänge? Die AutorInnen schreiben, „eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels“ und jegliche Kommune könne „nur zwangsläufig nach Selbstversorgung streben und in ihrem Innern Geld als etwas Lächerliches und genau gesagt Deplaziertes empfinden“.
Der FAZ schwebt für den Fall eines Sieges des Unsichtbaren Komitees etwas anderes vor: „Die unsichtbaren linken Militanten überschätzen ihre Kraft: Eine kollabierende öffentliche Ordnung würde (…) durch eine Mafia regiert. Wenn die Züge nicht mehr fahren, folgt nichts Besseres. Nach dem kommenden Aufstand kommen die schwarzen Geländewagen.“

Der Fluch der Partisanen

  • 13.07.2012, 18:18

Bosnien und Herzegowina ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Warum – und was tun? Eine Schule zeigt den Weg.

Bosnien und Herzegowina ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Warum – und was tun? Eine Schule zeigt den Weg.

Die Dosen und Flaschen, der Schutt und die durch die Luft wirbelnden Plastiksäcke in der „Stadt der Toten“ erzählen mehr über Mostar als jeder Stadtführer. Bogdan Bogdanovićs monumentalstes Kunstwerk, eine in die Hügel gesprengte „Partisanennekropole“, ist verkommen zu einer Müllhalde. Die 810 im Weltkrieg gefallenen Partisanen, deren Seelen hier über Jahrzehnte ruhten, wurden aus ihrem Totenschlaf gerissen durch die Maschinengewehrsalven und Artilleriegeschosse des Bosnienkriegs. Nun, da einmal aufgeweckt, müssen ihre Seelen inmitten des Drecks das Dasein von Untoten fristen. Als Rache dafür, so heißt es, haben sie Bosnien und Herzegowina verflucht. Sie konnten ihren Nachfahren nicht verzeihen, dass diese sich untereinander die Schädel einschossen und einschlugen. Die Geschichte lastet auf den Partisanen so schwer, weil sie einst selbst ihre Brüder und Schwestern ermordet haben, voller Glauben, ein Land zu schaffen, das frei von Blutvergießen sein wird. Durch den säuselnden Wind fragen nun die verlorenen Seelen: Warum habt ihr nichts von uns gelernt? Warum habt ihr uns vergessen?

Die Folgen sind übel. Bosnien und Herzegowina, um es kurz zu sagen, ist ein Land, das die Hoffnung verlassen hat. Und wie sie wieder zurückkommen soll, das ist das große Rätsel dieses unregierbaren Staatenteppichs. Die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina, die zusammen eine Nation bilden sollten, verbindet längst nur noch ihr Interesse am destruktiven Status quo. Die Regierungen der Teil-Republiken blockieren und misstrauen sich, keine der beiden ist bereit, ihre Macht gegen die Zukunft des Landes zu tauschen. Und der pro forma mächtigste Mann in Bosnien, der Hohe Repräsentant Valentin Inzko, täte nichts lieber, als sein eigenes Amt abzuschaffen. Nur, dass er das nicht kann, weil das Land dann wohl endgültig auseinanderfiele und womöglich sogar die Flammen des Krieges neu aufflackern würden. Die Folgen dieser Pattstellung sind übel: Hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jungen; die Kinder werden nur schlecht ausgebildet; die Annäherung an die EU stockt; nur wenige Menschen interessieren sich für Politik, die meisten suchen Zuflucht im Privaten und bei der Religion, die das gesellschaftliche Leben immer bestimmter dominiert. Zutaten, mit denen kein prosperierender Staat zu machen ist.
Wer Sarajevo, Mostar oder Banja Luka vor fünf Jahren bereiste, konnte einen feinen, leisen Hauch von Aufwind spüren; wer dieselben Städte heute besucht, sieht eine Gesellschaft, die nur von Agonie stabilisiert wird. Der bosnische Journalist Pedrag Kukic, dem man keinen Gefallen machte, seinen richtigen Namen in die Zeitung zu schreiben, sitzt auf  der Dachterrasse einer Bar in Mostar und erzählt dem ehemaligen EUKommissar Franz Fischler, was falsch läuft in Bosnien und Herzegowina. Kukic sagt, es gebe eine kleine Kaste von PolitikerInnen und GeschäftemacherInnen, nicht selten alte KP-Kader und ihre Nachfahren, die die Macht usurpiert halten würden. Jede Reform würde diese Mafia vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob sie damit an Privilegien einbüßten. Und die einzige Kraft, die dieses Trauerspiel durchbrechen könnte, die Mittelschicht, sei in ihrer Mehrzahl noch zu geblendet von religiöser und nationalistischer Bigotterie, um gegen den Missstand aufzustehen.

Samen des Hasses. Fischler hört aufmerksam zu und begleitet Kukics Analyse mit stetem Nicken. Der ehemalige EU-Kommissar ist zu Besuch in Mostar, um ein Projekt zu besuchen, das im Kleinen das erreichen soll, was Kukic implizit einfordert: Die Entstehung einer widerständigen und selbstbewussten bosnischen Mittelschicht. Fischler ist Unterstützer der United World College Initiative Bosnia. Dabei handelt es sich um eine internationale Privatschule, die 2006 in Mostar mit dem Ziel eröffnet wurde, „Frieden durch Erziehung“ zu schaffen. Es ist die einzige Schule Mostars, wo BosniakInnen, KroatInnen und SerbInnen zusammen in der Klasse sitzen. Und der beste Beweis, wie wichtig dieses Projekt ist, sind die SchülerInnen. Fast allen der knapp 80 bosnischen StipendiatInnen ist der ethnische Scheuklappenblick auf ihr Land so fremd geworden, dass sie nicht mehr verstehen, wie vor knapp zwanzig Jahren dieses unheimliche Schlachten ausbrechen konnte. Mehrere solche Schulen wären der beste Garant für ein friedliches, prosperierendes Bosnien, sagen die SchülerInnen. Das Problem? Die PolitikerInnen winken ab. Sie behaupten, solch ein Schritt käme zu früh, die Menschen seien noch nicht reif dafür. Warum wird ihnen geglaubt?

Tito-Utopie. Der slowenische Psychoanalytiker Slavoj Žižek schreibt, der Balkan sei das Unbewusste von Europa. Wenn dem so ist, dann ist Bosnien das Unbewusste des Balkans. Bosnien war die Seele von Titos Versuch, in den Granitblock der Geschichte eine sozialistische Utopie zu hauen. Hier vermischten sich die Ethnien und Religionen unter dem Dach der Fabrikshallen – und dem der kommunistischen Partei; hier liebten Christen Muslimas und führten sie zum Traualtar – und umgekehrt. Das Bosnien der sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, glaubt man den Menschen nur die Hälfte ihrer Huldigungen, muss ein Ort der Prosperität gewesen sein, der den alten Marx im Grabe lächeln ließ. Doch unter dem Acker der Harmonie, auf dem Titos Utopie spross, lagen die Leichen der FeindInnen der KommunistInnen. Gesprochen durfte über sie nicht werden, sie waren der blinde Fleck Jugoslawiens. Der Partei genügte es nicht, ihre Opfer unter der Erde in Massengräbern verscharrt zu wissen, nein, aus schlechtem Gewissen trachtete sie danach, die Ermordeten mit krimineller Energie aus dem Bewusstsein der Geschichte zu drängen. Weil sich diese aber auf lange Sicht kein Schnippchen schlagen lässt, wurden die Mordopfer zu unsichtbaren, tief unter der Erde liegenden Samen des Hasses, die im jugoslawischen Unbewussten prächtig keimten. Und ehe sich das Land versah, waren die Geister der alten, für immer verschwunden geglaubten Ermordeten aufgetaucht – und überzogen das Land mit Terror.
Jugoslawien, so schien es in den 1990er Jahren, hatte von allen Staaten Europas aus dem Zweiten Weltkrieg am wenigsten gelernt, obwohl, oder gerade weil es das einzige Land Mitteleuropas war, dass sich aus eigener Kraft von der Nazifaschistenbande befreien konnte. Und weil sich dieser große Sieg in eine so beschämende Niederlage verwandelte, müssen die untoten Partisanen weiterhin inmitten des Mülls in Bogdanovićs „Stadt der Toten“ umhergeistern, und können ihren Nachfahren als leisen Trost nur zuflüstern, dass es sich aus Niederlagen oft leichter lernen lässt, als aus großen Triumphen. Es scheint aber so, als ob ihnen nur noch der Wind zuhören würde.