Julia Prummer

Masterdesaster

  • 07.12.2013, 21:06

Monatelange Wartezeiten und unfaire Zusatzleistungen – wer sich mit dem Bachelor-Abschluss einer anderen Hochschule für einen Master an der Uni Wien bewirbt, muss mit vielen Widrigkeiten kämpfen. Denn weder die Verwaltung noch das Universitätsgesetz sind auf das Bologna-System ausgelegt.

Monatelange Wartezeiten und unfaire Zusatzleistungen – wer sich mit dem Bachelor-Abschluss einer anderen Hochschule für einen Master an der Uni Wien bewirbt, muss mit vielen Widrigkeiten kämpfen. Denn weder die Verwaltung noch das Universitätsgesetz sind auf das Bologna-System ausgelegt.

Simonas Studienbeginn an der Uni Wien hat etwas mit der Einführung des Bologna-Systems in Österreich gemein: Ein erfolgreicher Start sieht anders aus. Dabei schien vor einem halben Jahr alles noch so einfach. An ihr Bachelorstudium an der FH für Soziale Arbeit wollte Simona einen Master in Soziologie an der Uni Wien anhängen und damit von einer Möglichkeit Gebrauch machen, die seit der Implementierung des Bologna-Systems ständig beworben wird. Dass die Kombination Soziale Arbeit und Soziologie möglich ist, wusste sie von StudienkollegInnen, die bereits erfolgreich auf die Uni Wien gewechselt hatten. Diese mussten dafür 16 ECTS aus dem Soziologie- Bachelorstudium nachholen. Schließlich erhielt auch Simona ihren Zulassungsbescheid – allerdings mit erheblich höheren Auflagen: Obwohl sie exakt dieselben Voraussetzungen wie ihre KollegInnen mitbrachte, musste sie plötzlich 27 ECTS nachholen. „Ich habe eine Bachelorarbeit mit 80 Seiten Umfang geschrieben und Interviews geführt, jetzt muss ich Einführungskurse zum wissenschaftlichen Arbeiten machen.“

Studierenden, deren BA-Abschluss nicht zum Master passt, wird keine Zulassung gewährt. Was zu fachfremd ist, liegt im Ermessen der jeweiligen Studienprogrammleitung. Medizin-Studierende lässt das Soziologie-Institut etwa grundsätzlich nicht in den Master einsteigen. Darüber hinaus darf die Studienprogrammleitung bis zu 30 ECTS an Zusatzleistungen aus dem Bachelorstudium als Voraussetzung für eine Zulassung zum Master vorschreiben. Auch denjenigen, die alle Voraussetzungen für einen Uni- oder Fach-Wechsel zwischen BA und MA mitbringen, wird der Studienbeginn durch die Bürokratie erschwert; Simona ist mit ihrem Problem kein Einzelfall.

Die Rechtsmittelkommission. Wie alle Studierenden, die sich bei der Zulassung ungerecht behandelt fühlen, hätte auch sie innerhalb von zwei Wochen Berufung gegen die Auflage von 27 ECTS an Zusatzleistungen einlegen können. Dann ist die Rechtsmittelkommission des Senats zuständig, der dieses Problem nicht fremd ist: Schließlich ist die Masterzulassung Berufungsgrund Nummer eins. Die Rechtsmittelkommission hat auch durchaus schon Zulassungsauflagen reduziert, wenn sie ungerechtfertigt waren. In vielen Fällen müssen die Studierenden ihren Bescheid allerdings hinnehmen, sagt Nicola Roehlich, sachbearbeitende Juristin der Kommission: „Wenn sich die Studienprogrammleitung ändert, kann sich auch die Spruchpraxis ändern, denn letztendlich handelt es sich dabei um eine Ermessensentscheidung.“ Das heißt, dass zwei unterschiedliche SachbearbeiterInnen auch zu unterschiedlichen Bescheiden bezüglich der Frage, wie viel ECTS Studierende nachzuholen haben, kommen können, wenn diese sachlich gerechtfertigt sind: Der Bescheid selbst enthält aber kaum mehr als eine einzeilige Begründung. Darüber hinaus erkundigen sich die Studierenden häufig bei der falschen Stelle – denn wer im ersten Semester an einer neuen Uni ist, kennt sich mit den Zuständigkeiten meist nicht aus. Simona fragte etwa bei der StudienServiceStelle, statt bei der zuständigen Studienprogrammleitung Soziologie, bezüglich der hohen Auflagen nach. Sie könne schon Berufung einlegen, aber Freunde mache sie sich damit am Institut keine, teilte man ihr dort mit. „Und wenn Sie das alles schon so gut können, dann gehen Sie halt zur Prüfung und schreiben ein Sehr gut.“ Simona ließ sich entmutigen und akzeptierte ihren Bescheid.

Neben der wenig hilfreichen Beratung haben viele andere Studierende ein noch größeres Problem: Zur Rechtsmittelkommission kann nur gehen, wer überhaupt schon einen Zulassungsbescheid hat. Ist der Antrag noch in Arbeit, bleibt den Betroffenen nur abzuwarten, denn die Zulassungsstelle nimmt bis zur Ausstellung des Bescheids keine Rückfragen entgegen. Im schlimmsten Fall wird der Bescheid erst nach Ende der Inskriptionsfrist ausgestellt und der/die StudentIn verliert ein ganzes Semester. Da Betroffene in diesem Zeitraum offiziell keine Studierenden sind, wird auch keine Familien- und Kinderbeihilfe ausbezahlt.

Diese Erfahrung haben Stefi und Sarah gemacht. Sie mussten bangen, ob sich die Zulassung vor Ende der Inskriptionsfrist ausgeht. Die beiden haben im Sommer dieses Jahres ihren BA an der FH für Journalismus mit einer Prüfung abgeschlossen und sich dann für einen MA in Politikwissenschaft an der Uni Wien beworben. „Das Einzige, was ich mir vorzuwerfen habe, ist, dass ich bei der BA-Prüfung zum zweiten Termin angetreten bin. Der war erst im September“, sagt Stefi. Dann hat sie ihre Bewerbung sofort persönlich auf die Uni gebracht – trotzdem dauerte es eine Woche, bis das Referat für Studienzulassung den Eingang ihrer Dokumente bestätigte. Um nichts vom laufenden Semester zu verpassen, nehmen die beiden Studentinnen bereits an Lehrveranstaltungen teil. Doch regulär können sie sich ohne den notwendigen Zugang zum Online-Anmeldesystem nicht registrieren. „Ich bin hingegangen und habe gebettelt, dass ich trotzdem teilnehmen darf. Bei einem Seminar hat’s funktioniert“, erzählt Sarah. Einer ihrer Studienkollegen wartete ganze 14 Wochen auf die Zulassung zum Master, für die eigentlich nur rund zehn Wochen vorgesehen sind. Als er sich bei der Studienprogrammleitung Politikwissenschaft beschwerte, wurde ihm mitgeteilt, dass dies sinnlos sei, „weil eh alle wissen“, dass es lange dauert. Da man ohne Bescheid nicht bei der Zulassungsstelle nachfragen darf, wandte er sich an das Beschwerde- und Verbesserungsmanagement“ der Uni Wien. Die Stelle ist mit einer Person besetzt – für 80.000 Studierende.

Bolognas Erbe. Die langen Wartezeiten und unterschiedlichen Zulassungsbedingungen sind nicht nur Resultate der fehlenden finanziellen Mitteln, sondern auch der Einführung des Bologna-Systems: Mit dem Universitätsgesetz 2002 (UG02) wurden Magister- Studien auf das internationale Bachelor-Master-System umgestellt. Schrittweise wurden Studienpläne geändert und die Studierenden dazu ermuntert, das zu tun, was im englischsprachigen Raum gang und gäbe ist: im Master das Fach oder die Uni zu wechseln. Auf der anderen Seite sieht das UG aber die Individualisierung der Studien vor. Jede Uni sollte möglichst einen anderen Schwerpunkt setzen. „Das ist mit Bologna schwer kompatibel“, erklärt Professorin Bettina Perthold, Vorsitzende der Rechtsmittelkommission.

Während sich das Studiensystem drastisch änderte, blieb die Form der Verwaltung aber weitgehend gleich: 25 MitarbeiterInnen arbeiten im Referat Studienzulassung der Uni Wien; gerade einmal fünf davon sind für die Masterzulassung zuständig. Das heißt für all jene Studierenden, die schon an der Uni Wien ihren Bachelor abgeschlossen haben und ihr Studium nun im Master fortsetzen, seit Bologna müssen sie sich dafür nochmal extra inskribieren. Hinzu kommen 4.200 weitere Anträge pro Semester auf Zulassung mit Abschluss einer anderen Hochschule oder in einem anderen Fach. „Die MitarbeiterInnen des Referats für Zulassung stehen vor allem in den Inskriptionsfristen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit“, sagt Roehlich. Zum Ende der Zulassungsfrist stellt die Uni zwar freie MitarbeiterInnen zur Unterstützung ein, trotzdem warten Studierende oft länger als zehn Wochen auf ihren Bescheid.

Ähnliche Probleme haben die einzelnen Institute, die entscheiden, ob und welche Lehrveranstaltungen für die Masterzulassung nachgeholt werden müssen. Auch wenn schon einmal jemand mit exakt demselben Abschluss zugelassen wurde, muss jeder Antrag einzeln geprüft werden. Für diese Prüfung ist genau eine Person aus der Studienprogrammleitung zuständig – selbstverständlich neben ihrer regulären Arbeit. Dass dabei Anträge monatelang zwischen Zulassungsreferat und den Instituten hängenbleiben ist nicht verwunderlich. Stefi und Sarah können davon ein Lied singen. Etliche Male waren sie im StudienServiceCenter, haben sich über den Verbleib ihrer Bewerbung erkundigt und beschwert. Und siehe da: Nach langem Warten wurden die Anträge schließlich vorgereiht und noch innerhalb der Frist abgelehnt, mit der Begründung, dass ihr Bachelor zu fachfremd sei. Eine Bekannte wurde aber mit dem selben Bachelor noch vor einem halben Jahr zugelassen. Stefi und Sarah werden nun in Berufung gehen. Bis dahin bekommt Stefi keine Kinderbeihilfe mehr und verliert ohne die Inskription auch ihre Mitversicherung. 

Magdalena Liedl studiert Zeitgeschichte und Anglistik, Julia Prummer Rechtswissenschaften an der Uni Wien.
 

4 Tipps für deinen Einstieg in den Master

Wer sich an der Uni Wien mit einem Abschluss von einer anderen Hochschule für einen Master bewirbt, muss sich zuerst durch den Zulassungsprozess kämpfen. Hier ein paar Tipps, wie der Studienwechsel gelingen kann:

Vor der Antragstellung … ist es wichtig, sich umfassend zu informieren. Neben dem Einholen von Infos verschiedener Servicestellen sollte man auch bei der jeweiligen Studienprogrammleitung nachfragen, ob der Einstieg in das gewünschte Masterstudium grundsätzlich möglich ist. Da das Zulassungsreferat überlastet ist, sollten auch mehr als zehn Wochen Bearbeitungsfrist eingeplant werden.

Die Bewegung … sollte mit beglaubigten Dokumenten erfolgen. Das kostet zwar Geld, doch so kann man seine Originalzeugnisse behalten und sich gegebenenfalls auch woanders bewerben. Neben Zeugnissen sollten auch kurze Beschreibungen der absolvierten Lehrveranstaltungen beigelegt werden. Das beschleunigt den Prüfungsprozess der Unterlagen und beugt Anrechnungsproblemen vor. Zusätzlich empfiehlt es sich auch für das jeweilige Bachelorstudium zu inskribieren. Sollte der Bescheid zu spät ausgestellt werden, können Lehrveranstaltungen aus dem Master im ersten Semester über das Interessensmodul des Bachelorstudiums absolviert werden. Achtung: Die Anmeldefrist für BA-Studien endet früher als die für MA-Studien!

Die Wartezeit … dauert etwa 10-12 Wochen; das Zulassungsreferat gibt während dieser Wartezeit keine Auskunft über den Stand der Bearbeitung. Wer nach 12 Wochen noch nichts gehört hat, kann sich an das StudienServiceCenter des betreffenden Instituts wenden. Eine weitere Anlaufstelle ist das Beschwerde- und Verbesserungsmanagement der jeweiligen Uni.

Der Zulassungsbescheid … entspricht oft nicht den Erwartungen. Wer nicht oder nur mit ungerechten Auflagen zugelassen wurde, sollte zunächst bei der zuständigen Studienprogrammleitung rückfragen. Kommt es zu keiner Lösung, steht den AntragstellerInnen die Berufung bei der Rechtsmittelkommission offen. Achtung! Hier gilt eine Frist von zwei Wochen. Ab 1.1.2014 ist dann nicht mehr die Rechtsmittelkommission zuständig, sondern die neu eingeführten Verwaltungsgerichte.

Allgemeine Anlaufstellen für Probleme sind die jeweilige Studienvertretung sowie das Referat für Bildungspolitik der ÖH. Die Broschüre „Dein MAstertudium“ mit umfassenden Infos zum Masterumstieg finden sich im Downloadbereich auf oeh.ac.at.

Erasmus für alle?

  • 22.06.2013, 23:59

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Mit Erasmus reisen Studierende seit über 25 Jahren ins europäische Ausland. Jetzt gibt es eine neue Generation. Ob „Erasmus für alle“ halten kann, was es verspricht?

Wie lernen sich ein steirischer Bauernsohn und ein Citygirl aus Birmingham kennen? Im Normalfall gar nicht – sie kommen aus allzu unterschiedlichen Welten. So wäre es auch Reini Moschitz ergangen, hätte er nicht an jenem Tag vor elf Jahren in einem Portugiesisch-Kurs in Coimbra gesessen und seine künftige Frau Diana das erste Mal gesehen. Und Julius, Isi und die kleine Amadea, die heute in einem versteckten Garten hinter den Mauern des Schloss Belvedere herumtollen und einander ein buntes Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch zurufen, gäbe es auch nicht.

„Im normalen Leben hätten wir uns nie kennengelernt“, sagt Diana. Erasmus machte es möglich. Das Paar verliebte sich und verbrachte ein aufregendes gemeinsames Jahr in Portugal. Nach vorübergehender Trennung, jahrelanger Fernbeziehung und gemeinsamen Auslandsaufenthalten haben sie 2008 geheiratet. Die Hochzeitsgäste reisten aus 26 verschiedenen Ländern an. Im September erwarten sie ihr viertes Kind.

Geschichten wie die von Reini und Diana machen Erasmus seit gut 25 Jahren zum Vorzeigeprogramm der EU. Hier werden junge Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zu Europäerinnen und Europäern. Kein Wunder also, dass das Programm auch in Österreich immer beliebter wird. Im Studienjahr 2011/12 haben insgesamt 5590 österreichische Studierende einen Erasmus-Aufenthalt absolviert. Die Zahlen steigen seit 1992, als die ersten Studierenden aus Österreich ins europäische Ausland geschickt wurden, stetig an. Dem taten auch Änderungen in den Studienplänen, die mit der Bologna-Umstellung einhergingen, keinen Abbruch.

Bei einer solchen Erfolgsgeschichte war es für viele ein Schock, als vor einigen Monaten die Medien berichteten, dass die Erasmus-Förderungen gekürzt werden sollen. Gerhard Volz, der beim Österreichischen Austauschdienst (OEAD) Bereichsleiter für Erasmus ist, kann beruhigen: „Da ist wohl in der Pressearbeit der Kommission etwas fehlgeschlagen.“ Ein verunglückter Marketing-Gag: Die europäische Kommission wollte wohl durch diese Ankündigungen Aufmerksamkeit erregen, gerade weil Erasmus ein solches Prestigeprojekt darstellt. Geführt hat die Pressearbeit aber vor allem zu Verwirrung. Die tatsächliche Finanzierung des Programms sei laut Volz nie in Gefahr gewesen. „In Österreich wäre notfalls auch das Wissenschaftsministerium eingesprungen, um die versprochenen Stipendien auszahlen zu können“, sagt er.

Über das Erasmus-Budget ab 2014 werde aber sehr wohl noch verhandelt. Denn dann startet das neue Bildungsprogramm der EU mit dem Titel „Erasmus für alle“. Zwar soll es insgesamt zu einer Aufstockung der Mittel in diesem Bereich kommen, wie sich das Budget auf die einzelnen Programme verteilen wird, ist aber noch nicht klar. Auch inhaltliche Änderungen sind angedacht, jedoch noch nicht beschlossen. So sollen etwa weitere Länder in den Erasmus-Raum aufgenommen werden. Es gibt also noch einiges zu klären und die Zeit drängt, denn schon im nächsten Studienjahr soll es losgehen.

Diana und Reini Moschitz lernten sich in Coimbra auf Erasmus kennen. Foto: Luiza Puiu

Der Arbeitstitel des neuen Programms verspricht „Erasmus für alle“. Ob man das wohl halten kann? „Leider nein“, sagt Volz: „Die Erfahrung zeigt, dass ein Auslandssemester für Studierende umso wahrscheinlicher ist, je höher der berufliche Status und der akademische Ausbildungsgrad der Eltern angesiedelt sind.“ Derzeit ist das Erasmus-Stipendium, das den Studierenden zur Verfügung steht, an die Lebenserhaltungskosten des Gastlandes gekoppelt. So bekommt eine Erasmus-Studentin, die nach Schweden geht, einen Zuschuss von 368 Euro im Monat. Ihr Kollege, der in Paris studiert, erhält nur 300 Euro, weil Frankreich in eine niedrigere Kategorie fällt. Dass damit in Städten wie Paris nicht einmal ansatzweise die Miete für ein kleines Zimmer gedeckt ist, wird nicht berücksichtigt. In jedem Fall reicht das Stipendium nicht als einzige Finanzierungsquelle. Die meisten Erasmus-Studierenden werden deshalb von ihren Eltern unterstützt, müssen auf Erspartes zurückgreifen oder sich um zusätzliche Fördermittel bemühen.

Und auch wer die nötigen familiären und finanziellen Voraussetzungen erfüllt, hat immer noch einige Hürden zu überwinden. Am Beispiel der Wienerin Manuela wird das besonders deutlich: Sie macht einen Master an der TU Wien und ist eine prädestinierte Erasmus-Teilnehmerin – sie hat sehr gute Noten und sogar einen studienbezogenen Nebenjob. Schon jetzt hat sie das Auslandssemester 250 Euro gekostet: TOEFEL-Sprachtest mit Vorbereitungsbuch, eingeschriebene Eilbriefe und Telefonate ins europäische Ausland. Und das, ohne Wien überhaupt verlassen zu haben.

Dabei fing alles gut an: Fristgerecht gab Manuela ihre Bewerbung mit den nötigen Unterlagen ab. Ihre erste Wahl war Helsinki. Sie wurde abgelehnt. Eine andere Studentin habe schon mehr ECTS gesammelt als sie, hieß es von der zuständigen Koordinatorin an der TU. „Mehr ECTS als ich kann man fast nicht haben, denn dann ist man mit dem Studium fertig“, sagt Manu. Für ihre zweite Wahl bekam sie erst gar keine Absage. Der zuständige Koordinator nominierte zwar einen Studierenden, lehnte aber die anderen BewerberInnen nicht ab. So blieb Manu im System hängen, ihre Bewerbung wurde nicht weitergeleitet. Nach Ablauf aller Fristen stand sie ohne Erasmus-Platz da. Nach einigen Beschwerden und vielen „wir können da nichts mehr machen“ seitens der KoordinatorInnen und des Erasmus-Büros wurde sie für einen Restplatz in Dänemark nominiert – eine fixe Zusage hat sie bis heute nicht.

Erasmus ist eben nicht nur eine großartige Erfahrung, sondern auch ein unglaublicher Papieraufwand. Die Gelder kommen von der EU-Kommission, werden von den jeweiligen Nationalagenturen verwaltet und an die Studierenden verteilt. Wer aber auf Erasmus gehen darf, entscheidet jeder Studiengang mit seinen FachkoordinatorInnen selbst. Das sind Uni-ProfessorInnen, die sich neben ihrer Forschung und Lehrverpflichtung zusätzlich – und unentgeltlich – um die Vergabe der Erasmus-Plätze kümmern; tun sie das nicht, passiert das zum Schaden der Studierenden, wie der Fall von Manu zeigt.

Erasmus endet auch nicht mit dem Rückflug. Zuhause angekommen, wird mit den FachkoordinatorInnen weiterverhandelt. Es muss geklärt werden, ob die Lehrveranstaltungen, die an der Gastuni besucht wurden, auch für das eigene Studium angerechnet werden. Obwohl jedeR Erasmus Studierende dies bereits in Form eines Learning Agreements vor Abreise mit seiner eigenen Uni und der Gastinstitution vereinbart, kommt es immer wieder zu Problemen. Müssen Prüfungen nachgemacht oder sogar ganze Lehrveranstaltungen wiederholt werden, kann sich das Studium verlängern – im schlimmsten Fall müssen sogar Studiengebühren bezahlt werden. „Das sind aber nur Einzelfälle“, beruhigt Karin Krall vom Büro für internationale Beziehungen der Uni Wien. Das bestätigt auch die PRIME-Studie des Erasmus Student Network (ESN) aus dem Jahr 2010, die sich mit Anrechnungsproblemen auseinandersetzt. Von fast 9000 europäischen Studierenden gaben lediglich 12,9 Prozent an, dass sich ihr Studium durch den Auslandsaufenthalt verlängert hat. Auch Reini, der seine Studienzeit neben Graz und Coimbra noch an drei weiteren internationalen Unis verbrachte, kennt die Probleme bei den Anrechnungen: „Ja, es kostet jede Menge Mühe und Zeit“, sagt er: „Trotzdem wäre es mir den Aufwand immer wieder wert.“

Und er ist nicht der Einzige, der so denkt. Auch Claudia Walouch wurde während ihres Semesters in Göteborg mit dem Erasmus-Virus infiziert. „Als ich zurückkam, hatte ich richtig Panik, dass ich mit keinen internationalen Studierenden mehr in Berührung komme“, erzählt sie. Drei Jahre lang war sie deshalb ehrenamtlich für ESN tätig. Das Netzwerk gibt es mittlerweile in 36 Ländern. Mit Ausflügen, heimischen PartnerstudentInnen (sogenannten „Buddys“) und Partys hilft es den Ankömmlingen, im Gastland Anschluss zu finden. Dass es bei Erasmus nur ums Feiern geht, wie dem Programm öfter vorgeworfen wird, stimmt nicht. Claudia hat durch ihre Zeit in Göteborg und ihre Arbeit bei ESN herausgefunden, was sie machen will: Heute arbeitet sie für die Studienzulassung im Auslandsreferat der WU und hat täglich mit internationalen Studierenden zu tun. Es scheint, als würde die interkulturelle Kompetenz, die ein Auslandsstudium mit sich bringt, immer noch eine spezielle Auszeichnung für das spätere Berufsleben sein.

Interkulturelle Kompetenz – die verlangt nicht nur die Berufswelt, sondern auch der Alltag in einer Union mit 500 Millionen BürgerInnen mit verschiedensten Wurzeln. Es gibt wohl kein zweites Programm, das diese Fähigkeit so gut vermittelt. Erasmus ist aber keineswegs für alle; noch richtet sich das Programm an eine akademische Elite. Aber jeder fängt klein an: Im allerersten Erasmusjahr 1987 nahmen 3244 Studierende aus elf Ländern am Programm teil. Mittlerweile sind es jährlich über 230.000. Wie viele werden es wohl sein, wenn im Jahr 2020 „Erasmus für alle“ ausläuft? Und wie viele erst, wenn Julius, Isi und Amadea auf Erasmus gehen? Aber denen wurde die interkulturelle Kompetenz ja sowieso schon in die Wiege gelegt.

Zwei Erfahrungsberichte:

Daniel Wenda (22) studiert an der Fachschule Kufstein Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement

Daniel Wenda (22), Fachschule Kufstein, Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement. Foto: Luiza Puiu

Daniel ist anders. Anders als die meisten anderen österreichischen Erasmus-Studierenden: Die sind weiblich, studieren an der Uni Geschichte oder Jus und gehen nach Madrid oder Paris. „Was soll ich dort? Da war doch schon jeder auf Urlaub“, dachte sich Daniel. Er entschied sich für die litauische Hauptstadt Vilnius. Während viele Studis es schwer haben, Einheimische in den Gastländern kennenzulernen, wurde Daniel von seiner Mentorin Akvile Skurkaite vom Flughafen abgeholt. Sie zeigte ihm schon in den ersten Wochen, wie die baltische Hauptstadt tickt, und begleitete ihn während seines ganzen Aufenthalts. Auch hatte er keine Schwierigkeiten, sich sein Leben zu finanzieren: Mit der Erasmus-Förderung konnte er sich ein geräumiges WG-Zimmer direkt im Zentrum von Vilnius leisten und einen Teil seiner Lebenserhaltungskosten abdecken – dafür reicht das Geld in anderen europäischen Hauptstädten nicht mal ansatzweise.
Der Nationalfeiertag und das Oktoberfest wurden in der österreichischen Botschaft begangen und im Einkaufszentrum gab es ein Bistro mit Meinl-Kaffee und Mannerschnitten. Sonst hatte Daniel wenig mit Landsleuten und österreichischer Kultur zu tun. Denn er war nur einer von etwa 20 ÖsterreicherInnen, die ihren Erasmus-Aufenthalt im letzten Studienjahr in Litauen verbrachten. Trotz eher spärlicher Kenntnisse der Landessprache hat sich Daniel gut zurechtgefunden: „Alle jungen Leute in Vilnius sprechen Englisch.“ Bereits in Österreich konnte er sich aus einem dicken Katalog, den ihm die Gastuni zugeschickt hatte, Lehrveranstaltungen aussuchen. Da gab es Kurse auf Litauisch und Russisch, auf Deutsch und Italienisch. Und sogar auf Suaheli – für diejenigen, die besonders lernwillig waren.

Zum zweiten Erfahrungsbericht:

Louise Tersen (23) kommt aus Paris und studiert BWL an der WU Wien

Während die einen einfach nur aus Österreich rauswollen, vergisst man manchmal, dass andere mit großer Freude hierher kommen. Ja, auch Wien kann etwas Spannendes an sich haben. Etwa für die Französin Louise, die ein Erasmus-Semester an der WU verbringt. Ungewohnt ist für sie beispielsweise die schwere österreichische Küche – Schweinsbraten, Leberknödel und Gröstl –, die sie augenzwinkernd als „Winter-Nahrung“ bezeichnet.
Über Erasmus wollte sie ihr Deutsch verbessern. „Bei einer Auswahl zwischen Mannheim, München und Wien ist mir die Entscheidung nicht schwergefallen“, sagt Louise. Von einer österreichischen Sprach-Tandem-Partnerin hatte sie schon vorab viel über ihre Gaststadt erfahren. „Natürlich hatte ich noch dieses romantische Image vom historischen Wien, aber ich war auch schon auf ein aufregendes Nachtleben und ein vielfältiges Kulturangebot vorbereitet.“ Um auch wirklich mit der österreichischen Kultur in Berührung zu kommen, war für Louise klar, dass sie nicht mit zig anderen Erasmus-Studis in ein Wohnheim wollte. Stattdessen lebt sie jetzt mit drei OberösterreicherInnen in einer WG im 2. Bezirk. Der Anschluss, den sie dort gefunden hat, wäre über die Uni nur schwer zu finden gewesen: „Die meisten Kurse in meinem Masterprogramm finden auf Englisch statt. Dort sitzen fast nur internationale Studierende. Außerdem ist es klar, dass viele österreichische Studis nicht daran interessiert sind, Freundschaften
aufzubauen, wenn der oder die andere nach einem halben Jahr wieder weg ist.“ Louise hat es trotzdem geschafft, aus der Erasmus-Bubble auszubrechen und sich in Wien heimisch zu fühlen. „Mit Juli schließe ich mein Studium ab und befinde mich bereits jetzt auf Jobsuche. Sollte sich in Wien eine Möglichkeit auftun, wäre es großartig, einfach hier zu bleiben.“

Louise Tersen (23), aus Paris, studiert BWL an der WU Wien. Foto: Luiza Puiu

 

Die Autorinnen studieren Globalgeschichte und Rechtswissenschaften an der Uni Wien.

Toastbrot und Champagner

  • 01.04.2013, 15:57

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Heute Wien, morgen New York. Nächste Woche Shooting auf einer karibischen Insel. Freie Zeiteinteilung, keine Verpflichtungen und viel Geld. Und am Abend treffen sie die hippsten Leute auf verrückten Partys. Das Leben von FotografInnen scheint leicht und frei. Sarah Böswart ist Fotografin – aber ihr Leben sieht anders aus. Eigentlich hat sie alles richtig gemacht: Top Ausbildung, Praktika  und auch einige Preise hat sie gewonnen. Trotzdem findet die 23Jährige, wie viele andere in der sogenannten Kreativwirtschaft,  keine bezahlte Arbeit.

Viele junge Menschen wollen GrafikerInnen, FotografInnen oder JournalistInnen werden. Es sind die Vorstellungen eines  Easy-going-Lebensstils, von lockeren Hierarchien, flexiblen Arbeitszeiten und der Drang nach Selbstverwirklichung, die Leute in die  Kreativbranche ziehen. Dafür sind sie bereit, vieles zu opfern und einige Hürden zu nehmen. Und das, obwohl sie wissen, dass  sie damit niemals materiellen Reichtum anhäufen werden. „Arm, aber sexy“ – klingt verlockend, ist es aber nicht: Wie hart der Kampf  ums finanzielle Überleben in diesen Branchen ist, wird den meisten erst bewusst, wenn das Geld am Ende des Monats nicht mal mehr für das Notwendigste reicht.
Sahel Zarinfard ist Jungjournalistin des Jahres 2012 und gründete das Onlinemedium paroli. Foto: Johanna Rauch
Arbeit in der Freizeit. Böswart hat ein Mal in ihrer Karriere Glück gehabt: Sie bekam eine Stelle als freie Mitarbeiterin im Museum für  Moderne Kunst. Sie hat Fotos retouchiert, die Ausstellungsstücke fotografiert und die Bilder archiviert. „Wir hatten einmal  Originalnegative vom Aktionskünstler Günther Brus. Da hätte ich fast geweint vor Freude“, erzählt sie. Für Böswart war die Arbeit im  Museum ein Traumjob: „Ich würde es sofort wieder machen.“ Verdient hat sie für 20 bis 25 Arbeitsstunden in der Woche  durchschnittlich 340 Euro im Monat. Daneben hat sie ihre Ausbildung an der Graphischen abgeschlossen. Dort gilt  Anwesenheitspflicht. Die Jobs für das Museum hat sie am Abend erledigt. Weil sie  ihrer Familie nicht noch mehr auf der Tasche liegen wollte, pendelte sie jeden Tag von ihrem Elternhaus in St. Pölten nach Wien. Freizeit hatte sie keine. Sahel Zarinfards  Tagesablauf sieht ähnlich aus: Sie steht auf, arbeitet und geht schlafen. Wie viele Stunden die 24Jährige, die kürzlich zur  Jungjournalistin des Jahres gewählt wurde, tatsächlich recherchiert und an Texten schreibt, kann sie nicht sagen. Es sind aber sicher  mehr als 40. Früher hat sie Nebenjobs gemacht, um schreiben zu können. Heute kann sie ihr Leben durch ihre  journalistische Tätigkeit finanzieren. Zwar lebt sie immer noch in einer WG, hat kein Auto und fährt nur selten auf Urlaub – jeden Cent zweimal umdrehen muss sie aber nicht mehr: „Ich hätte mir nie gedacht, mit Schreiben überhaupt Geld verdienen zu können.“  Hauptsächlich stammt Zarinfards Einkommen von ihrer Tätigkeit als Pauschalistin beim Wirtschaftsmagazin cashflow. Inihrer  Freizeit widmet sie sich ihrem Herzensprojekt paroli. Gemeinsam mit vier anderen JungjournalistInnen hat sie das Onlinemedium im  März 2012 gegründet. „Wir wollen uns mit paroli austoben und es als Spielwiese für neue journalistische Formen nutzen“, sagt  sie.
„Viele KünstlerInnen genieren sich für ihre Nebenjobs“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor an der Angewandten in Wien. Foto: Johanna Rauch
Angebot und Nachfrage? Mit einem künstlerischen Job überleben zu können, war nie einfach: „Musiker waren in keiner Epoche  begehrte Schwiegersöhne“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor für Design, Grafik und Werbung an der Angewandten in Wien.  Zuerst arbeiteten KünstlerInnen als ErfüllungsgehilfInnen des Adels. Den HofmalerInnen und -musikerInnen ging es gut, alle  anderen konnten kaum überleben. Mit der Aufklärung kam der Kunst zunehmend die Aufgabe zu, die Herrschenden kritisch zu  hinterfragen – auch damit ließ sich nicht gut Geld verdienen. Und heute? Heute lässt sich das Problem auf eine Grundregel der  Wirtschaft herunterbrechen – auf Angebot und Nachfrage. Weil es so viele GrafikerInnen, FotografInnen und JournalistInnen ibt,  drückt der Konkurrenzkampf die Preise für die Kreativarbeit. „Viele werden über einen Hungerlohn nie hinauskommen. Nur einige  wenige werden sich durchsetzen“, erklärt Stoeckl. Einige dieser Berufe sind zusätzlich von der fortschreitenden Digitalisierung betroffen. Früher waren FotografInnen TechnikerInnen – ohne Fachwissen in der Chemie und teure Geräte war es nicht möglich, ein  Foto auf Papier zu bringen. Im Jahr 1888 erfand Kodak die Kamera für „jedermann“ und warb mit dem Slogan „You press the button,  we do the rest“. „Seit damals geht es mit den Fotohonoraren bergab“, sagt Stoeckl. Sich als FotografIn sein Brot zu verdienen, ist  schwieriger geworden; fast alle brauchen zusätzlich Nebenjobs. Aber auch das ist nichts Neues – schon immer haben sich  KünstlerInnen ihre Leidenschaft mit anderer Arbeit finanziert. In den USA sei es laut Stoeckl ganz normal, dass TänzerInnen  nebenbei Taxi fahren und FotografInnen kellnern, um über die Runden zu kommen. „Es scheint mir ein speziell mitteleuropäisches  Phänomen, dass sich KünstlerInnen für ihre Nebenjobs genieren. Für mich hat das nichts Verwerfliches.“

Bei paroli gehe es laut Zarinfard auch nicht primär ums Geld. Es gehe darum, Mut zu beweisen und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Darum, unabhängig zu sein. Trotzdem gibt sie zu, dass das hohe Arbeitspensum ihre Freizeit einschränkt und an der Substanz zehrt. Sie muss viel für die Verwirklichung ihres Traums opfern. Ausgebeutet fühlt sie sich dennoch nicht: „Ich bin gerne  Journalistin und sehe die Arbeit nicht als Belastung.“ Böswart geht es anders. Sie ist das prekäre Leben leid. Sie will nicht mehr  erschöpft nach Hause kommen, ohne zu wissen, ob sie jemals mit dieser Arbeit ihr Leben bestreiten wird können. Investiert hat sie  genug: Zeit in ihre Ausbildung, Herzblut in ihre Leidenschaft, die Fotografie, und viel Geld in ihr Equipment. 6000 Euro hat ihre  Kamera mit Objektiven gekostet; dafür hat sie ihren Bausparer aufgelöst. Einkünfte konnte sie daraus fast keine generieren: „Alle  um mich herum haben etwas weitergebracht und ich habe trotz Ausbildung und einer 6000 Euro teuren Kamera nichts geschafft. Ich  habe das Gefühl, als hätte ich meine ganze Kreativität  ausgekotzt.“ Heute will Böswart nicht mehr von der Fotografie leben: Sie  will nicht ihre eigene Chefin sein, wenn das bedeutet, sich gnadenlos selbst ausbeuten zu müssen, um irgendwie durchzukommen.

Fassade vs. Realität. Dennoch wählen viele junge Leute dieses prekäre Leben und gehen das Risiko der Armut ein. Denn das  Prekariat des Künstlers und der Künstlerin unterscheidet sich deutlich von der Armut des Bettlers und der Bettlerin, wie die  Schriftstellerin Katja Kullman in ihrem Buch Echtleben beschreibt: Sie erklärt, wie man sich möglichst lange von einer Packung  Toastbrot ernährt, um Geld zu sparen. Dieses wird dann beim Feiern mit FreundInnen hinausgeworfen, um die soziale Fassade  aufrechtzuerhalten. „KünstlerInnen gehen im Gegensatz zu BettlerInnen einer Tätigkeit nach, für die es Anerkennung gibt – sei es  auch nur von wenigen. Sie können sich selbstverwirklichen“, erklärt Stoeckl. Auf einer Party sind FotografInnen und MusikerInnen  eben angesagter als HilfsbuchhalterInnen – auch, wenn sie nicht davon leben können.

Aber lohnt es sich überhaupt, Geld in die  universitäre Ausbildung von Leuten zu investieren, die am Ende ohne Mindestsicherung nicht überleben können? Bis zum  Studienabschluss kostet einE StudentIn den Staat laut Universitätsbericht 2011
im Schnitt 106.788 Euro. Universitäten sind eben ildungseinrichtungen und keine Ausbildungseinrichtungen,  sagt Stoeckl: „Sonst könnten sie ja Orchideenfächer wie Ägyptologie auch niemals rechtfertigen. Sie werden gelehrt, weil Interesse daran besteht und  nicht, weil es so einen großen Bedarf gibt. Das entspricht nicht unserem Universitätssystem.“ Dass an den Kunstunis und in den kreativen Ausbildungen etwas falsch läuft, streitet er aber nicht ab. Das hat auch Böswart zu spüren bekommen: „Sie hoffen halt  jedes Jahr, dass der/ die Eine dabei ist, der/die sich durchsetzen wird“, sagt sie. Den Abschluss absolvieren in der Fotografieklasse der Graphischen aber jedes Jahr rund 30 AbsolventInnen.

Von den Studierenden wird erwartet, möglichst einzigartig und elitär zu wirken. Wer sich beispielsweise der Wirtschaft „anbiedert“  und statt abstrakten Kunstwerken, für die er/sie zwar künstlerische Anerkennung, aber kein Geld erntet, Porträts malt, um seinen/ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird an den Kunstunis Spott ernten. „Dabei sagen einige LehrerInnen bei uns selbst, dass sie nur unterrichten, weil sie von ihrer Kunst nicht leben können“, erzählt Böswart. Solidarität und einzelinteressen. Außerdem fördert das Eliten-Denken den Konkurrenzdruck: JedeR will besser als der/die andere sein, keineR will seinen/ihren Erfolg teilen.  Dabei wäre es aus Stoeckls Sicht das Wichtigste, zusammenzuarbeiten: „Wenn sich einE WerberIn, einE GrafikerIn und einE  FotografIn zusammentun, können sie größere Aufträge annehmen und sind psychisch viel stabiler.“ Diese Solidarität fehlt aber in  vielen Kunstund Medienbereichen. Manchmal aber besiegt der  Unmut die konträren Einzelinteressen: So haben Zarinfard und ihre KollegInnen zum Start von paroli in einem offenen Brief die prekären Arbeitsbedingungen von jungen JournalistInnen angeprangert und damit für Aufsehen gesorgt: Der Brief wurde von rund 800 UnterstützerInnen unterzeichnet. Man  wollte aufzeigen, dass  ArbeitgeberInnen heranwachsende JournalistInnen benachteiligen und ihnen den Einstieg ins Berufleben erschweren. Dabei handle es sich laut Zarinfard um ein System- und nicht bloß um ein Individualproblem. Als Reaktion auf den Brief folgten Gespräche mit  der Gewerkschaft und dem Verband Österreichischer Zeitungsverleger (VÖZ), die in eine öffentliche Podiumsdiskussion mündeten. 

Die Chancen, dass sich die Situation verbessert, schätzt Zarinfard trotzdem gering ein. „Ich denke, dass es nun ein   Problembewusstsein in den Chefetagen gibt, ein wirkliches Interesse, etwas zu ändern, aber nicht.“ Jedenfalls hat die Aktion  bewiesen, dass das kollektive Prekariat mehr Aufsehen erzeugt als das für die Kreativjobs symptomatische EinzelkämpferInnentum. 

Wenn alles am Spiel steht

  • 28.03.2013, 22:16

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Akbarjan Abdullah sitzt auf seinem Feldbett und kramt suchend in seinen Sachen. „Zehn Jahre lang habe ich in Afghanistan Cricket gespielt“, erzählt der 22Jährige auf Englisch. „Ich würde so gerne auch in Österreich Cricket spielen – aber kaum jemand interessiert sich hier für diesen Sport“, sagt Abdullah. Deswegen hat er begonnen, Volleyball zu spielen, das war ihm zumindest ein wenig Ersatz. Mittlerweile hat er in einer Tasche gefunden, was er gesucht hat: einen Pokal. Gleich sein erstes Volleyball-Turnier in   Österreich hat er gewonnen. Stolz zeigt er seine Trophäe in der Runde herum.

Abdullah ist einer jener Flüchtlinge, die im November den langen Marsch aus Traiskirchen angetreten sind, um gegen die unzumutbaren Zustände der österreichischen Asylpolitik zu demonstrieren. Er protestierte im Zeltlager im Sigmund-Freud-Park und danach in der Votivkirche. Als die österreichischen PolitikerInnen nur mit Arroganz reagierten, trat auch er in den Hungerstreik, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. 13 Kilo hat er in dieser Zeit verloren. Mehrere Male musste sein gesundheitlicher Zustand im Krankenhaus kontrolliert werden.

Trotz eisernem Durchhaltevermögen brachte auch diese drastische Maßnahme wenig Erfolg: Die österreichische Politik weigerte  sich weiterhin, auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen. Nun setzt Abdullah seinen Protest gemeinsam mit 63 Mitstreitern  im Keller des Servitenklosters im neunten Wiener Gemeindebezirk fort – ohne Hungerstreik.

Dass ihm am erhofften Ende seiner Flucht ein dermaßen harter Kampf bevorsteht, damit hatte Abdullah nicht gerechnet. Er kommt aus der Nähe von Kabul, arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und verkaufte Speiseöl. Eines Tages wollten ihn die Taliban rekrutieren: „Wenn du nicht zu uns kommst, dann bringen wir dich um“, drohten sie ihm. Er aber wollte mit ihren Gräueltaten nichts  zu tun haben. „Dann haben sie mich entführt und für 27 Tage in einem winzigen Raum eingesperrt“, erzählt Abdullah. Seit fast zwei  Jahren ist er in Österreich, ein Jahr lang hat seine Reise von Afghanistan mit Schiff und LKW gedauert. Auf dem Weg musste er sich von seinen Eltern trennen, mit denen er zuerst gemeinsam nach Pakistan geflohen war. Seither hat er nichts von ihnen gehört. Als er  in Österreich ankam, wusste er nicht, wo er eigentlich war. „Ich habe jemanden gefragt, und er hat gesagt: ‚in Österreich‘. Ich  meinte: ‚Nicht der Ort, das Land, wie heißt das Land?‘; ‚Österreich – Austria’“, erinnert sich Abdullah. „Dann habe ich erst verstanden, wo ich überhaupt gelandet bin.“ Er war in einem katastrophalen körperlichen Zustand, hatte keine Schuhe, keine frische  Kleidung und überall am Körper entzündete Wunden. Daher musste er zunächst für einige Tage ins Krankenhaus. Aufgrund seiner Hautprobleme sollte Abdullah zweimal am Tag duschen, regelmäßig Kleidung und Bettwäsche wechseln. Das ist im Servitenkloster  zwar leichter als in der Votivkirche. Trotzdem gibt es hier für 64 Flüchtlinge nur eine Dusche.

Provisorium. Die Luft im Keller des Servitenklosters ist feucht und abgestanden, die Bettwäsche mieft etwas. Dennoch sieht es sehr  ordentlich aus: Jedes der provisorischen Klappbetten ist gemacht. Wer die Refugees besucht, wird gastfreundlich und herzlich empfangen. „Mit Zucker?“, fragt der 21jährige Ahmad Zai Azizulla, als er den Tee bringt. Wer nichts hat, der gibt am meisten –  dieses Sprichwort bewahrheitet sich in diesem Kellergewölbe. Azizulla ist erst seit sechs Monaten in Österreich. Auch er musste aus Afghanistan flüchten, weil er von den Taliban verfolgt wurde. Sein älterer Bruder wurde von ihnen getötet, weil er sich nicht  rekrutieren lassen wollte. Azizulla wartet noch auf seinen ersten Asylbescheid. „Es geht nichts weiter“, sagt er. In Österreich war er zuerst in Traiskirchen und dann in Straden untergebracht: „Ein kleines Dorf, in dem es überhaupt nichts gibt.“

„Die schlechten   Lagerbedingungen und das Verfrachten der Flüchtlinge an enorm exponierte Orte, in denen es an jeglicher Infrastruktur mangelt, haben System“, meint Irene Messinger, Politikwissenschafterin und Spezialistin für Fremden- und Asylrecht. „Das wundert nicht, sieht man sich an, wie wenig der Staat für die Grundversorgung der Flüchtlinge ausgeben möchte. Das und die komplette Entmündigung waren bestimmt Initialzünder für die Demonstrationen“, sagt sie.

Gezielte Strategie. Der Protest der  Refugees ist der erste dieser Art: Zwar hat es schon zuvor immer wieder Protestschreiben von Flüchtlingen gegen die unzumutbaren Zustände gegeben. Über die Briefform ging es aber selten hinaus. „Es gab in gewisser Hinsicht eine Phantasielosigkeit in der Ausdrucksform dieses Protests – und die ist jetzt aufgebrochen“, sagt Messinger. Sie hat   jahrelang in NGOs im Bereich der Rechtsberatung für Fremdenrecht und Asylverfahren gearbeitet. „Ein Problem ist auch, dass Asylrecht ExpertInnenwissen geworden ist. Ich denke, das ist eine gezielte Strategie, Unterstützung zu verunmöglichen oder zu erschweren“, sagt sie. Und auch wenn das Ministerium der Öffentlichkeit mit „geschönten Statistiken“ immer wieder
das Gegenteil weismachen wolle: „Österreich ist kein Land, in dem es gute Aussichten auf Asyl gibt.“

Zentrale Forderung der Refugee-Proteste sei die Arbeitsmarktpolitik. Hier einen Erfolg zu erringen, sei Messinger zufolge symbolisch sehr wichtig. Die Flüchtlinge haben auf diesem Gebiet auch Support von verschiedensten NGOs. Auch für Abdullah ist das eine der drängendsten Forderungen. „Wir brauchen euer Geld nicht. Wir wollen keine Almosen, wir wollen arbeiten“, sagt er. Er sei es gewöhnt, Geld selbst zu verdienen und wolle nicht vom Staat leben. Derzeit ist die Arbeitsregelung für AsylwerberInnen aber besonders restriktiv – de facto dürfen sie nur in der Saisonarbeit und der Sexarbeit tätig sein.

Wie es weitergeht? Messinger befürchtet, dass das „Ministerium langfristig fremdenrechtlich durchgreifen und in voller Härte  abschieben“ werde. Auch Abdullah ist sich unsicher, ob sein Protest erfolgreich sein wird: „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich  nicht. Wir können nur hoffen. Wenn wir jetzt aufgeben, dann verlieren wir alles.“ Auch er rechnet mit Abschiebungen. Und „alles verlieren“, das heißt für einen Flüchtling viel mehr als die Aussichten auf ein gemütliches Leben im Wohlfahrtsstaat Österreich zu begraben: „Ich liebe mein Land und ich möchte heim. Aber wenn ich jetzt zurück muss, töten mich die Taliban.“

Schön, schöner, Lillifee

  • 26.12.2012, 14:32

Schönheit spielt schon für die Kleinsten eine große Rolle. Ein Kindergartenbesuch zeigt den richtigen Umgang mit einem sensiblen Thema.

Schönheit spielt schon für die Kleinsten eine große Rolle. Ein Kindergartenbesuch zeigt den richtigen Umgang mit einem sensiblen Thema.

Wer sich in diesem Jahrhundert mit einem vierjährigen Mädchen unterhält, wird kaum etwas verstehen, wenn er oder sie  grundlegende Begriffe wie Tinker Bell, Hello Kitty und Prinzessin Lillifee nicht kennt. Nomingoa, Maija und Amina – alle vier Jahre alt – malen im Kindergarten und besprechen dabei wichtige Themen: „Ich schau Tinker Bell im Kino“, erzählt Nomingoa. Amina lässt sich davon nicht beeindrucken,denn sie mag lieber „die Lillifee“. Unter ihrem rosafarbenen Pulli trägt sie ein Unterhemdchen mit einem großen Bild von ihr. „Das ist meine Lieblingspuppe“, sagt sie. Im Fasching wollen sich die drei Mädchen als Prinzessinnen verkleiden. Weil Prinzessinnen schön sind.

Bin ich schön? Schönheit bedeutet in unserer Gesellschaft viel mehr als ein ansprechendes Äußeres: Wer schön ist, verlangt sich selbst etwas ab und ist diszipliniert. Wer schön sein will, leidet. Und wird auch Erfolg haben: Studien zeigen, dass schöne Menschen  mehr verdienen und schneller Karrieremachen. Wer aber schön ist, liegt gar nicht so sehr im Auge des einzelnen Betrachters – oder der Betrachterin. Schönheitsideale gibt zu einem großen Teil die Gesellschaft vor, in der wir leben. Und die färbt schon die Blicke von jungen Mädchen wie Nomingoa, Maija und Amina. „Diese Werthaltungen – was ist schön, was ist nicht schön –, da haben Kinder oft wenig Chancen, das aus sich heraus zu entwickeln. Da kommt sehr viel von der Erwachsenenwelt“, sagt Daniela  Cochlár, Leiterin der MA 10, der Abteilung für die Wiener Kindergärten.

Zur Frage, woher Schönheitsideale kommen, scheint es ebenso viele Theorien wie Wissenschaften zu geben. Evolutionspsychologisch betrachtet wird uns das Streben nach Schönheit angeblich schon in die Wiege gelegt: Ein Experiment zeigte, dass Babys attraktive Menschen länger ansehen als solche, die als weniger attraktiv gelten. Das soll damit zu tun haben, dass schöne Menschen körperlich robuster, also gesünder und damit fortpflanzungsfähiger sind. Auch unterschiedliche Ideale für Männer und Frauen werden damit auf zweifelhafte Weise erklärt: Während Männer zwecks Reproduktion und Fruchtbarkeit schöne Frauen suchen, ginge es den Frauen eher darum, einen ökonomischen „Erhalter“ für ihre Kinder zu finden. Der muss nicht zwangsläufig gut aussehen. „Diese Theorien erklären aber nur den Ist-Zustand. Und wenn der genau umgekehrt wäre, würden sie   ihn eben andersrum erklären“, sagt Elisabeth Ponocny-Seliger, Psychologin und Lehrbeauftragte für Gender Research an der Uni Wien.

Foto: Linnea Jänen

Bewusster Umgang mit Unterschieden. Die vermeintlich evolutionspsychologisch vorgegebene Rollenteilung bemerkt auch Sandra Haas. Sie leitet den Bildungskindergarten Fun&Care im 15. Wiener Gemeindebezirk, den Nomingoa, Maija und Amina besuchen.  „Mädchen werden dafür gelobt, dass sie schön sind. So lernen sie, dass es ihre wichtigste Kompetenz ist, süß zu sein. Buben lobt man hingegen für ihre Fähigkeiten“, sagt sie. Der Fun&Care Kindergarten wurde 1999 eröffnet und war damals der erste  geschlechtssensible Kindergarten Wiens. Zentrales Anliegen der geschlechtssensiblen Pädagogik ist es, den Kindern Raum für  Entwicklung abseits von gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern zu geben. Buben und Mädchen soll Chancengleichheit in allen Lebensbereichen ermöglicht werden: Mädchen können Pilotinnen werden und Buben Stewards, wenn sie das wollen. „Das Besondere  an Fun&Care war, dass wir ein Gesamtkonzept gemacht haben. Wir haben es auf vier Säulen gestellt: das Raumkonzept, die  Bildungsarbeit, die Elternarbeit und das Personalkonzept“, erklärt Daniela Cochlár. Sie war die erste Leiterin des Fun&Care  Kindergartens. 2008 wurde das Konzept der geschlechtssensiblen Pädagogik erstmals in einem öffentlichen Kindergarten der Stadt Wien eingeführt und dann allmählich in allen Kindergärten der Stadt Wien übernommen. „Schönheitsideale spielen im Kindergarten eine sehr große Rolle“, sagt Cochlár. „Ab drei, vier Jahren oder spätestens im Vorschulalter ist das ein sehr großes Thema. Das ist auch nachvollziehbar: Wer von uns möchte denn nicht hübsch sein? Das hat ja auch viel mit Wertschätzung, Anerkennung und  Akzeptanz zu tun.“

Im Fun&Care Kindergarten wirkt auf den ersten Blick alles wie in jedem anderen Kindergarten. Wer die kleinen Unterschiede erkennen will, muss genauer hinsehen – und auch hinhören: Wenn Pädagogin Katharina ihrer Gruppe etwas vorliest, sucht nicht nur der Tiger nach Futter, sondern auch die Tigerin. Wenn die Kinder Fußball spielen und Katharina im Tor steht, ist sie automatisch füralle die Torfrau, und nicht der Tormann. Wird im Kindergarten etwas kaputt, versucht Leiterin Sandra Haas es zuerst selbst zu reparieren, damit die Kinder sehen, dass auch Frauen handwerkliche Aufgabenmeistern können. In jeder Gruppe sollte es einen
Kindergartenpädagogen mit einer Assistentin oder eine Kindergartenpädagogin mit einem Assistenten als Rollenvorbilder geben. Ein weiteres wichtiges Element im geschlechtssensiblen Kindergarten ist die Raumteilung. Im Unterschied zum herkömmlichen Kindergarten findet man bei Fun&Care weder eine rosarote Puppenecke noch eine traditionelle Bauecke. Das Spielzeug soll für alle Kinder gleichermaßen bereitstehen. Dazu gehört auch die bewusste Auswahl von Spielmaterialien. Aus durchsichtigen Plastikcontainern können sich die Kinder bunte Soft-Bausteine, Puppen oder Spielfiguren holen. In jeder Gruppe steht auch ein Kosmetikkorb bereit: Mit Schminkpinseln, Haarbürsten und leeren Haarshampooflaschen, die beim Öffnen noch nach Seife duften.

Auch dieses Spielzeug ist für Buben und für Mädchen. Und tatsächlich ist es ein Bub, der als erstes zur Bürste greift. Fest  entschlossen fährt David progress- Autorin Julia durch ihr langes, rot-braunes Haar: „Wenn ich fertig bin, werden deine Haare so lang und schön sein, wie die von der Rapunzel“, sagt er. Sekunden später ist Julia von vier Kindern umringt. Ihre Haare werden in Bereiche eingeteilt, sodass man sich beim Frisieren nicht allzu sehr in die Quere kommt. Ein anderer kleiner Junge beginnt ihr  Gesicht mit dem Schminkpinsel zu pudern. Zwei Mädchen leeren fiktives Shampoo auf ihren Kopf – die Kinder machen Julia schön. Vielleicht wolle er selbst irgendwann so lange Haare haben, überlegt David; da verwirft er den Gedanken auch schon wieder: Bei Mädchen sind lange Haare ja schön. Aber bei einem Buben? Da geht das nicht, stellt David fest.

Foto: Linnea Jänen

Verschiedene Einflüsse. Selbst wenn Eltern darauf achten, ihre Kinder fernab von Rollenklischees zu erziehen, werden sie spätestens im Kindergarten davon eingeholt. „Auch bei uns sind 90 Prozent der Mädchen rosa gekleidet. Das wollen wir den Kindern auch nicht wegnehmen – sie sollen sich aber nicht über die Farbe definieren“, sagt Kindergartenleiterin Haas. Bis zum Kindergartenalter  wird fast jedes Kind sagen, dass „die Mama“ die schönste Frau sei. „Das ist wirklich lieb und da antworten fast alle gleich“, erklärt Psychologin Ponocny-Seliger. Dann sind plötzlich Prinzessin Lillifee und Barbie schön und bei Buben ist vor allem Superman cool. Plötzlich gibt es eine Reihe von Einflussfaktoren: die Eltern, die KindergartenpädagogInnen oder andere Kinder, die ein Vorbild sein können. Wenn ein Mädchen dann ein rosafarbenes Röckchen anhat, wollen es die anderen auch. Und sie fordern es zu Hause auch ein. „Die Kinder dürfen hübsch sein, Prinzessin sein, ein Röckchen anhaben; es gibt aber adäquate Kleidung für bestimmte Zwecke. Wenn man in die Sandkiste spielen geht, ist eine Gatschhose wesentlich hilfreicher als einRock“,  sagt Cochlár.

In der Praxis des Kindergartens ist es nicht immer einfach, das Konzept der geschlechtssensiblen Pädagogik umzusetzen. „Natürlich wird niemand gezwungen. Wenn ein Mädchen rosa tragen will, ist das vollkommen in Ordnung. Die Farbe an sich ist ja nicht das Problem. Man muss den Kindern nur aufzeigen, dass es auch anders geht“, sagt Fun&Care- Leiterin Haas. Im Fasching versucht sie das Klischeeproblem geschickt zu umgehen: Damit es nicht nur Prinzessinnen und Cowboys gibt, werden immer wieder andere  Themen ausgewählt. Nicht nur Personen im direkten Umfeld beeinflussen die Kinder – im Fernsehen oder online sehen sie täglich, was schön ist: Barbies für Mädchen, Roboter für Jungen. „Kinder im Kindergartenalter wissen unterbewusst, welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie ausbilden sollen, damit sie für ihr Geschlecht passend wahrgenommen werden“, sagt Claudia Schneider. Sie ist Leiterin des Vereins Efeu, der sich mit geschlechtssensibler Pädagogik beschäftigt. Kürzlich ist sogar eine neue Lego-Edition für Mädchen herausgekommen: Sie ist rosa, enthält fünf „Freundinnen“ als Spielfiguren, die ihre Zeit im Schönheitssalon, im Kaffeehaus und auf dem Reithof verbringen; bauen kann man damit kaum mehr etwas. „Begriffe wie ‚schön‘ oder ‚stark‘ sind sogenannte ‚Gender Codes‘, Eigenschaften, durch die eine von den zwei in unserer Gesellschaft verfügbaren Kategorien, nämlich männlich oder weiblich, ausgedrückt werden. Wir können diese Begriffe schnell einordnen, weil wir in diesem dualen Zweigeschlechtersystem  denken“, erklärt Schneider. Freiräume, in denen Kinder vieles ausprobieren können, hält sie für besonders wichtig. Sie erzählt von einem Kindergarten, wo ein männlicher Pädagoge mit den Buben der Gruppe Schönheitssalon spielte. „Das sind Erfahrungen, die Kinder oft so nicht machen können. Dafür einen geschützten Rahmen anzubieten, kann sehr produktiv sein.“

Zurück im Kindergarten wird ein Bub von den Mädchen zum Mutter-Vater-Kind-Spielen in die obere Etage eines einstöckigen Spielhauses  beordert. Er erhält Anweisungen, wie er das Puppenbaby richtig pflegen muss. Seit der eigenen Kindergartenzeit hat sich ja doch nicht alles geändert; nur wird heute viel bewusster mit den Kindern und den Rollen, in die sie gedrängt werden, umgegangen. Das tut den künftigen Astrophysikerinnen und Hausmännern gut.

Wer zufrieden ist, ist tot

  • 17.12.2012, 12:55

Regisseur Richard Wilhelmer und Hauptdarsteller Robert Stadlober erklären, warum ihr Film „Adams Ende“ ein guter Anfang ist.

Regisseur Richard Wilhelmer und Hauptdarsteller Robert Stadlober erklären, warum ihr Film „Adams Ende“ ein guter Anfang ist.

Robert Stadlober ist die große Bühne gewöhnt: Berlinale, Burgtheater und Auftritte mit seiner Band Gary. Aber nicht die Bühne macht den Star – sogar in der alten Sparkasse in Wels steht er im Rampenlicht. An der Seite seines Freundes und Regisseurs Richard Wilhelmer plaudert und scherzt er in einem kleinen Vorführsaal am International Youth Media Festival (YOUKI) vor jungem Welser Publikum über Wilhelmers Debutfilm „Adams Ende“. Den beiden macht das sichtlich Spaß.

progress: Viele junge Leute hier am Festival kennen die Probleme, die Adam und die anderen Protagonisten in eurem Film erleben: Ein Job, der einen nicht ausfüllt und eine Beziehung, die ein wenig eingeschlafen ist. Spiegelt der Film eigene Erlebnisse wider, Richard?

Wilhelmer: Der Grund, aus dem ich mich in meinem ersten Spielfilm gerade dieses Themas angenommen habe, war, dass die Recherche im Grunde genommen schon gemacht war. Es ist kein autobiographischer Film, aber er beinhaltet natürlich autobiographische Versatzstücke, an denen ich mich orientiert habe. Das ist ja das Schöne: Guerillaartig wohin zu gehen und etwas zu drehen, was man dort ähnlich im wirklichen Leben erlebt hat. Der Lebenssituation der Protagonisten bin ich aber durchaus schon entwachsen…

progress: Sind das nicht ziemliche Luxusprobleme, die im Film beschrieben werden?

Wilhelmer: Klar. Der Film spielt in Berlin. Die Stadt ist irgendwie symbolisch für diese Schwierigkeiten: Man kann sich hier entweder zu Tode feiern und an der Vielzahl seiner Möglichkeiten scheitern oder etwas draus machen. Adams Ende beschreibt die zweite Variante, wo der Protagonist nicht fähig ist, Entscheidungen zu treffen und zufrieden zu sein, mit dem was er hat. Am Ende zerstört er alles – gewollt oder ungewollt.

progress: Seid ihr denn zufrieden?

Stadlober: (lacht) Wenn man zufrieden ist mit dem, was man hat, dann hat man seinen Sarg…

Wilhelmer: (lacht auch) Dann ist man Jesus!

Stadlober: Im Ernst: Zufriedenheit hat zumindest für mich etwas mit Tod zu tun. Wer zufrieden ist, ist angekommen – in irgendeinem Loch. Nie zufrieden sein ist glaube ich eine sehr gute Lebenshaltung. Aber sagen wir mal so: Die relativ irrationalen Verwirrungen der Adoleszenz haben ein wenig nachgelassen, und es sind zumindest bestimmte Entscheidungen nicht mehr so schwierig, weil man sie schon öfter falsch getroffen hat.

progress: Macht das Alter weiser?

Stadlober: Ja wahnsinnig, es macht unglaublich weise – ich mit meinen 30 Jahren. Vorher dachte ich immer, ich muss alles ausprobieren. Jetzt bin ich 30 und sogar die Leute am Amt sprechen mich mit „Sie“ an.

Wilhelmer: Ich bin noch nicht mal 30. Zu mir kann man noch „Du“ sagen!

progress: Adams Ende streift einige Genres: Zuerst ist es ein klassisches Beziehungsdrama, dann artet es in einen Psychothriller aus. Ist das massentauglich?

Wilhelmer: Einige Sponsoren hätten sicher von Beginn an gesagt, dass das komplett wahnsinnig ist. Wir hatten halt keine.

Stadlober: Ich glaube, es ist im deutschsprachigen Film nicht gerade Usus, so etwas zu machen: In der Regel muss alles sehr nachvollziehbar sein, was bei Adams Ende nicht immer der Fall ist. Bei einer Publikumsdiskussion hat uns mal jemand drauf festgenagelt, ob sich der Protagonist das Ende nur eingebildet hat oder ob das so wirklich so passiert ist. Da kann man echt nur antworten: „Denken Sie sich´s doch selbst aus!“

progress: In „Adams Ende“ gibt es einige Stellen, in denen mitschwingt, dass Homosexualität immer noch ein Tabuthema ist.

Wilhelmer: Im Film bleibt das eher unausgesprochen. Der Protagonist Adam fühlt sich zu seinem Freund Conrad vielleicht ein wenig hingezogen, hat aber starke Berührungsängste. Und das ist tatsächlich etwas, was oft Homophobie beschreibt – auch in vielen anderen Filmen.

Stadlober: Homophobie gibt es immer noch sehr stark. Gerade in der linksliberalen Szene, in der ich mich auch bewege, finde ich es erschreckend, wie sehr Männer Angst vor Nähe zu anderen Männern haben. Und auch wie sehr Homophobie als komische Form von Humor benutzt wird. Das Schimpfwort „Schwuchtel“ oder „Homo“ ist heute glaube ich noch salonfähiger als vor 15 Jahren. Ich weiß nicht, wie oft ich in Berlin von irgendwelchen Leuten im Hipster-Outfit als Schwuchtel beschimpft werde.

progress: Wenn das im offenen Berlin so ist, wie ist es dann im konservativeren Wien?

Stadlober: Man merkt das in Österreich auf jeden Fall schlimmer als in Deutschland. Die Schwulenszene in Wien ist so versteckt. In Berlin ist alles viel offener. Ich habe in Wien auch Bekannte, die dezidiert homophob sind, obwohl sie wissen, dass es falsch ist. Aber das ist vielleicht irgendein katholischer Schwachsinn, die Angst vor dem eigenen Glied.

progress: Ihr seid auch beide hauptsächlich in Berlin tätig. Gefällt es euch in Wien nicht?

Wilhelmer: Naja, Berlin ist ein guter Nährboden für kreative Projekte, weil es – zumindest früher – sehr billig war. Deshalb sind sehr viele Leute zugereist: Weil sie sich die Mieten leisten konnten, weil sie sich das Essen leisten konnten. Es war ein Sammelort für Leute, die willig waren, allen möglichen Blödsinn mitzumachen. Von diesem Ruf lebt die Stadt noch immer. Und aus allem möglichen Blödsinn entstehen irgendwann ernsthafte Projekte.

Stadlober: Als junger Mensch aus der österreichischen Provinz gibt es nur zwei Möglichkeiten: Eine ist die sehr mutige und wahrscheinlich auch die richtigere: Nämlich das Land zu verlassen. Die andere, halbseidene ist, dass man nach Wien geht. Das kann auch super sein, nur dass man meistens in den gleichen Strukturen hängen bleibt wie zu Hause. Da sitzt man dann halt zwischen Autos und Straßenbahnen, statt zwischen Feldern und Ställen.

progress: Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?

Stadlober: Über Alec Empire [Anm.Red.: von der Band Atari Teenage Riot], einen gemeinsamen Freund von uns. Er hat ein Treffen organisiert und da haben wir festgestellt, dass wir beide aus der Obersteiermark kommen. Auch dass ich drei Jahre in Wien über Richards Freundin gewohnt habe. Und dass er in Berlin eine Wohnung gehabt hat, die Wand an Wand mit meiner alten Wohnung dort lag. Getroffen haben wir uns nie.

Wilhelmer: Wir sind fast unser ganzes Leben aneinander vorbeigelaufen. In einer sehr rotweinlastigen Nacht haben wir dann Pläne geschmiedet für mögliche zukünftige Projekte.

progress: Der Film ist also im Rausch entstanden?

Wilhelmer: Nein „Adams Ende“ ist nicht im Rausch entstanden. Da kannten wir uns schon.

Stadlober: Die Freundschaft ist im Rausch entstanden, aber hat sich nüchtern bewährt.
Vor drei Jahren haben wir den Kurzfilm „The Golden Foretaste of Heaven“ gemacht. Vor dem Screening bei der Diagonale sind wir in einem Beisl gesessen und Richard hat gesagt, er würde gerne einen Langspielfilm drehen. Dann hat er in sehr kurzer Zeit ein Drehbuch geschrieben und wir haben das ganze relativ schnell auf die Beine gestellt.

Progress: Auch finanziell? Wie sah das Budget aus?

Stadlober: Grandios…

Wilhelmer: Ich wollte sehr bewusst keine Fördermittel für den Film, um Narrenfreiheit zu genießen. Dadurch hatten wir halt auch kein Geld: Robert und ich haben unser Taschengeld zusammengelegt; jeder hat 1000 Euro zum Budget gegeben. Eine kleine Förderung von 3000 Euro haben wir dann doch noch bekommen und verbraten. Das heißt wir hatten ein Gesamtbudget von 5000 Euro. Dadurch waren wir auf den „Goodwill“ der Beteiligten angewiesen: Leute, die uns Kameras geben, die ohne Bezahlung mitarbeiten. Das soll aber durchaus kein Konzept für die Zukunft sein, weil diese Art von Selbstausbeutung auf lange Sicht nicht produktiv ist.

Stadlober: In Deutschland ist es so, dass du große Förderungen bekommst, sobald du einen Fernsehsender mit im Boot hast. Hast du einen Sender im Boot, dann hast du definitiv jemanden, der dir in alles reinreden darf. Ohne Fördermittel kann man also viel freier arbeiten.

Schwerstarbeit auf Pedalen

  • 19.11.2012, 15:52

Der RadbotInnen-Job ist kein Zuckerschlecken. Trotzdem wollen einige StudentInnen nichts anderes machen.

Der RadbotInnen-Job ist kein Zuckerschlecken. Trotzdem wollen einige StudentInnen nichts anderes machen.

Eigentlich klingt es nach dem perfekten Job für Studierende: Was könnte es besseres geben, als Sport zu machen und dabei auch noch Geld zu verdienen? So sieht der Alltag von FahrradbotInnen aus: Sie transportieren alles, was in ihre riesigen Botentaschen passt, kreuz und quer durch die Stadt. Und solange die Sonne scheint, macht der Job Spaß. Wenn es aber regnet oder schneit, will kaum jemand volle Aktenordner mit dem Drahtesel von A nach B befördern. Auch im Verkehr sind RadbotInnen nicht besonders beliebt: Sie werden angehupt, abgedrängt oder gar über Autotüren katapultiert, wenn PKW-LenkerInnen beim Aussteigen nicht auf den angrenzenden Radweg achten. Trotz gefährlicher Arbeitsbedingungen ist das BotInnengeschäft wenig lukrativ – für die Schwerstarbeit im Sattel bekommen KurierInnen zwischen sechs und 13,50 Euro in der Stunde. Für Fox, Nadine und Orca ist es dennoch ein Traumjob.

Die BotInnen. „Manche Leute stellen sich das Botenfahren romantisch vor. Ich hatte alle meine zwölf Übungstage im Regen und wollte es trotzdem unbedingt machen“, erzählt Nadine Pirker. Das war vor mittlerweile dreieinhalb Jahren, als die Boku- Studentin von einem Auslandssemester in Buenos Aires nach Hause kam: „Ich habe mir gedacht, wenn ich Buenos Aires überlebe [Anm. d. Red.: nicht die radfreundlichste Stadt], kann ich auch in Wien Rad fahren.“ Seither arbeitet sie für den Botendienst Spinning Circle in Wien. Auch sonst ist Nadine am liebsten im Sattel unterwegs – Semesterticket hat sie schon lange keines mehr: „Seit ich so viel mit dem Rad fahre, ist Wien total klein geworden. Jetzt habe ich ein ganz anderes Gefühl für die Stadt.“ Auch Fox und Orca brauchen keine Öffis und schon gar keine Autos, um sich in Wien fortzubewegen. „Auf einer Strecke von fünf Kilometern ist man mit dem Rad viel schneller als mit dem PKW“, erklärt Orca. Vor einem Jahr arbeitete sie an ihrer Komparatistik- Diplomarbeit und suchte einen sportlichen Ausgleich zur geistig-anspruchsvollen Arbeit. Den hat sie im Botenfahren gefunden; heute arbeitet sie bei Hermes. Auch Boku-Student Fox ist schon immer gerne und viel geradelt, ob auf die Uni oder 300 Kilometer nach Ungarn auf ein Festival. Irgendwann hat er beim Botendienst Go angeheuert und sich für seinen Lieblingssport bezahlen lassen.

Fox heißt mit bürgerlichem Namen Lukas Fuchs; Orca eigentlich Clara Silef. Viele BotInnen haben einen Berufsnamen unter dem sie in der Rad-Community bekannt sind. „Die Orca ist brutal schnell“, weiß Nadine. Auch Fox kennt Orca von BotInnenmeisterschaften, wo die FahrerInnen gegeneinander antreten. „Die tolle Community hat wahrscheinlich damit zu tun, dass man auf der Straße eigentlich einE EinzelkämpferIN ist. Da freut man sich umso mehr über Gleichgesinnte“, sagt Nadine. Auch für Orca ist das Botendasein mehr als nur ein einfacher Nebenjob: „Dahinter steckt eine eigene Kultur: Man vertritt damit eine alternative Lebensform.“

Die Bezahlung. Wer nicht hinter dieser Ideologie steht, wird als BotIn kaum glücklich werden: „Das ist kein Job, den man wegen des Geldes machen sollte. Wenn du kein richtiger Radfreak bist, hältst du nicht lange durch“, erklärt Fox. Er hat schon einige BotInnen am ersten Regentag aufhören sehen. Die schlechte Bezahlung hängt mit dem starken Konkurrenzdruck unter den Unternehmen zusammen: 1987 gab es mit Veloce gerade einen Botendienst in Wien, mittlerweile sind es sieben. In Graz und Innsbruck gibt es nur jeweils zwei. Und weil sich die Botendienste in puncto Liefergeschwindigkeit kaum unterscheiden, unterbieten sie sich bei den Preisen. Bei Spinning Circle etwa zahlt der oder die KundIn 12,50 Euro, wenn sein oder ihr Paket vom Hanusch-Krankenhaus im 14. zum Donauturm im 22. Wiener Gemeindebezirk transportiert werden soll. Da bleibt für die BotInnen nicht viel übrig. „Wir kriegen alles gezahlt, was sie uns zahlen können“, erklärt Nadine, die mit Gewerbeschein fährt. Bei Spinning Circle verdienen alle FahrerInnen – auch die ChefInnen – gleich viel. Denn der Gesamtumsatz eines Monats wird durch die gefahrenen Stunden aller BotInnen dividiert. So erhält jedeR denselben Stundenlohn. Auch Stehzeiten (wenn gerade nichts transportiert wird) werden bezahlt. Bei Pink Pedals in Graz und bei Hermes in Wien, wo Orca geringfügig beschäftigt ist, funktioniert das ähnlich. Alle drei Botendienste wurden von FahrradkurierInnen für FahrradkurierInnen geschaffen; wichtige Entscheidungen werden im Plenum aller FahrerInnen getroffen. „Wir sind eine richtige ‚family‘“, sagt Orca stolz.

Bei Fox sieht das anders aus: Er ist mit 54 Prozent am Umsatz seiner eigenen Fahrten beteiligt. Je schneller er fährt, desto mehr Fahrten teilt ihm die Zentrale zu – und desto mehr verdient er auch. Wenn er schneller als seine Kollegen ist, bekommt er gute Fahrten. Das trägt nicht gerade zur FahrerInnengemeinschaft bei, bringt aber finanzielle Vorteile: Wenn Fox schnell ist, verdient er besser als Nadine oder Orca. Bekommt er allerdings wenige Aufträge, arbeitet er zu einem geringeren Stundenlohn. Das Risiko liegt bei ihm.

Die Stadt. Und das Risiko liegt auch auf der Straße: BotInnen leben gefährlich. Eine Studie der Harvard Medical School belegt, dass RadkurierInnen in Bosten 13-mal mehr Zeit im arbeitsbedingten Krankenstand verbringen als andere ArbeitnehmerInnen. Orca ist schon einige Male im Winter auf Schneefahrbahn ausgerutscht, Nadine in Straßenbahnschienen hängen geblieben, etwas Gröberes ist ihnen noch nicht passiert. Dennoch ist ihr Job in Wien gefährlicher als in anderen Unistädten. In Innsbruck wird laut einer Umfrage des VCÖ fast jeder vierte Alltagsweg mit dem Rad zurückgelegt. In Graz radeln immerhin 18 Prozent. Das kommt daher, dass die radfreundliche Infrastruktur gut ausgebaut ist, was zu einem friedlichen Miteinander aller Verkehrsteilnehmer beiträgt: „Das Verkehrsklima ist für Radfahrer im Westen deutlich besser und rücksichtsvoller als im Osten“, sagt VCÖ-Experte Markus Gansterer. Wien liegt mit sechs Prozent abgeschlagen am vorletzten Platz des VCÖ-Rankings. „Die Wiener Radwege sind schon recht mühsam“, meint Fox. Will man etwa vom Campus der Uni zum Rathaus fahren, endet der Radweg auf einer Seite der Alserstraße; weitergehen tut er auf der anderen. Dazwischen fahren Straßenbahnen und Autos – eine Möglichkeit, die Seite zu wechseln, gibt es bisher nicht.

Wegen mühsamer Verkehrsstellen fahren KurierInnen meist lieber auf der Straße und nicht auf dem Radweg. Dort schießt sie keinE AutofahrerIN beim Linksabbiegen ab und sie gefährden auch keine FußgängerInnen, die den Radfahrstreifen übersehen. Eigentlich ist das verboten, denn es gilt Radwegbenutzungspflicht. Aber auch das gehört zum Botenfahren dazu: An der Grenze der Verkehrsordnung zu leben.

 

Filmtipp: Tempo (Stefan Ruzowitzky, 1996)

Sicher, sauber, unerwünscht

  • 13.07.2012, 18:18

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Immer wieder werden Rufe nach einem Drogenkonsumraum in Wien laut. Die positiven Auswirkungen einer solchen Einrichtung zeichnen sich in Deutschland und der Schweiz deutlich ab. Trotzdem stehen die Chancen für die Realisierung eines derartigen Projekts in Wien schlecht.

Die Lifttür geht auf und vor Matthias und Jo klebt eine Kackwurst in einer Lache Urin am Kellerboden. Wer macht sowas, fragen sich die beiden. Wenige Schritte weiter steht ein schwarzer Rucksack, daneben ein Paar Lederschuhe. Auf einem Prospekt liegen ordentlich aufgelegt zwei Spritzen und ein paar blutige Taschentücher.

Es ist nicht das erste Mal, dass in diesem Haus in der Millergasse nahe dem Westbahnhof einE SuchtkrankeR übernachtet hat. Immer wieder passiert das in Wien; zuletzt berichtete der Falter von einem ähnlichen Fall in der Novaragasse im zweiten Bezirk. Auch Hamid* kennt diese Situation – aber aus einer anderen Perspektive: Früher hat er selbst oft in Kellern übernachtet, in Telefonzellen gespritzt: „Wo hätte ich hingehen sollen? Ich war Tag und Nacht unterwegs und wollte meinen Schmerzen entkommen.“ Die Frauen und Männer aus der Straßendrogenszene suchen einen ruhigen Ort, um sich einen Schuss zu setzen. Oft bleiben gebrauchte Spritzen und Kanülen oder sogar Fäkalien in Kellern, Telefonzellen oder öffentlichen Toiletten zurück. So ein Fund kann mehr als unangenehm sein: Wer sich mit einer Spritze sticht, kann sich noch ein paar Stunden nach ihrem Gebrauch mit HIV infizieren – mit Hepatitis C sogar bis zu drei Tage lang.

Mit einem Konsumraum könnte diese Situation verbessert werden: Dort können Suchtkranke unter medizinischer Aufsicht Drogen nehmen und das Spritzbesteck sicher entsorgen. Sie bieten KonsumentInnen menschenwürdige und hygienische Bedingungen für ihren Drogenkonsum und schützen Unbeteiligte vor Infektionen. SozialarbeiterInnen und Krankenpflegepersonal sind ständig vor Ort, um im Notfall eingreifen zu können. Dadurch sinkt die Zahl der Drogentoten, Infektionen mit HIV und Hepatitis gehen zurück und es wird weniger im öffentlichen Raum konsumiert. In Deutschland und der Schweiz gibt es Konsumräume bereits seit Jahrzehnten, in Österreich hingegen fehlt ein solches Angebot.

Lokalaugenschein Berlin. An den Wänden stehen sechs kleine Tische, davor jeweils ein Sessel. Über jedem Platz hängt ein Spiegel. Ein gelber Mistkübel, Feuerzeug und Schere gehören ebenfalls zur Ausstattung eines jeden Tisches. Die Wände sind aus Hygienegründen zur Hälfte gefliest, der Rest ist in einem freundlichen Orange gestrichen. Ein wenig erinnert der Raum in der Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg an einen Friseursalon. Sein Verwendungszweck ist ein anderer: Es handelt sich um einen Drogenkonsumraum. Derzeit gibt es in Berlin zwei solche Räume sowie ein Drogenkonsummobil, das an unterschiedlichen Orten der Stadt Halt macht.

Das Suchthilfezentrum SKA mit Konsumraum gibt es in Kreuzberg seit Jänner. Die Einrichtung liegt ungefähr 15 Gehminuten vom Kottbusser Tor, einem zentralen Treffpunkt der Berliner Drogenszene, entfernt. Hier können DrogenkonsumentInnen nicht nur unter hygienischen Bedingungen konsumieren, sondern auch Spritzen tauschen, sich medizinisch behandeln und juristisch beraten lassen. Außerdem können sie ihre Wäsche waschen, duschen, essen oder einfach nur Zeit im Aufenthaltsraum verbringen.

Zielgruppe von Konsumräumen ist vor allem die offene Straßenszene, der in Berlin etwa 800 Leute angehören. Viele KlientInnen sind arbeitslos, haben keine fixe Unterkunft und kein soziales Netz, das ihnen Rückhalt bietet. Meist sind die Drogen Selbstmedikation, um Probleme zu vergessen. In Einrichtungen wie in der Reichenberger Straße gibt es kein „du musst clean werden“, um das Angebot nutzen zu dürfen. Durch eine „akzeptierende“ Form der Drogenarbeit soll eine soziale und medizinische Grundversorgung gesichert werden, um später mit den KlientInnen ein Betreuungsverhältnis aufbauen zu können.

Zunächst muss die Hilfe aber angenommen werden. Einen Monat nach der Eröffnung in der Reichenberger Straße nehmen vorerst nur wenige das Angebot in Anspruch. „Wir wissen aus Erfahrung, dass Projekte wie dieses eine lange Anlaufzeit haben. Es muss sich erst herumsprechen, dass und wo es uns gibt“, sagt Sozialarbeiter Dennis Andrzejewski von der SKA. Die Abkürzung steht für Streetwork, Koordination und Akzeptanz. Letztere wird solchen Einrichtungen nicht immer entgegengebracht.

Die NachbarInnenschaft. Früher befand sich das Suchthilfezentrum in unmittelbarer Nähe zum Kottbusser Tor, bis im Jahr 2009 der Mietvertrag nicht mehr verlängert wurde und die Einrichtung einer Spielautomatenhölle weichen musste. Zweieinhalb Jahre hat die Suche nach einer neuen Unterkunft gedauert. Der Kontakt zu den KonsumentInnen ist dabei weitgehend abgebrochen: Ohne fixen Raum erreichte die SKA 96 Prozent weniger KlientInnen. Als man die Reichenberger Straße ins Auge fasste, wurde dort eine BürgerInneninitiative gegen den Drogenkonsumraum gestartet. Nach einer ersten, gut besuchten Informationsveranstaltung zum Thema seien nur noch wenige der kritischen Geister zu einem weiteren offenen Abend gekommen, so Andrzejewski. „Eine Drogenhilfeeinrichtung macht Probleme sichtbar, aber zieht sie nicht an“, aber aus Sicht des Sozialarbeiters besteht viel Unwissenheit: Die Leute hätten Angst, dass der Konsumraum DealerInnen und Suchtkranke anziehe und Kinder zum Drogenkonsum verführe. Laut einer Evaluation des zweiten Konsumraums in Berlin, der Birkenstube, trifft das nicht zu: Bei derartigen Einrichtungen gibt es keine Szeneverlagerung vor den Raum und auch die Kriminalität im Grätzel steigt nicht. Trotzdem haben einige AnrainerInnen weiterhin Probleme mit dem Projekt. „Letzte Woche hat jemand den Aufsteller vorm Eingang umgetreten“, erzählt Andrzejewski.

Zurück nach Wien. Diese ablehnende Haltung gibt es auch in Wien. Der Ganslwirt ist die wohl bekannteste Drogenberatungsstelle der Stadt. Wie in Berlin gibt es dort eine multiprofessionelle Betreuung: Von der Grundversorgung über Spritzentausch und rechtliche Beratung bis hin zur Substitutionstherapie – nur konsumieren dürfen die KlientInnen nicht. Bedarf wäre aber durchaus da: Die Wiener Straßenszene besteht aus 300–500 Menschen, täglich werden im Ganslwirt und seiner Nebenstelle, dem TaBe-NO 7.000 Spritzen getauscht. Obwohl es im Vergleich zu der Anzahl der getauschten Spritzen relativ wenig Beschwerden gibt, scheint die Gesellschaft die Sucht nach illegalen Drogen noch nicht als Krankheit akzeptiert zu haben: KonsumentInnen werden als „Junkies“ oder „Giftler“ stigmatisiert und wie Kriminelle behandelt. „Bei Sucht handelt es sich um eine chronische Krankheit. Sie ist behandelbar, aber nicht immer heilbar und die KonsumentInnen sind nicht selbst schuld“, erklärt Christine Tschütscher, Geschäftsführerin des Vereins Dialog, der größten ambulanten Suchthilfeeinrichtung in Österreich. Der Weg aus der Sucht ist ein langwieriger Prozess: „Abstinent zu werden, ist dabei nicht der erste Schritt. Die Person und ihre Lebenssituation muss zuerst stabil sein“, so Tschütscher. Um Entzugserscheinungen zu verhindern und die KonsumentInnen aus der Beschaffungskriminalität zu holen, werden Substitutionstherapien verschrieben. So wird auch das Risiko eingedämmt, dass die Ware verschmutzt ist oder eine Infektion stattfindet. „Substituierte KlientInnen können ein ganz normales Leben führen. Eine/r ihrer KollegInnen könnte substituiert sein, Sie würden es nicht merken.“ Etwa 7.700 Menschen werden im Moment in Wien substituiert. In Berlin sind es „nur“ 4.000. Und das, obwohl in beiden Städten 10.000–12.000 Opiatabhängige leben. „Deutschland hat trotz massiver Opiat-Probleme erst zehn Jahre nach Österreich mit der Substitution begonnen und anfangs auch nur die Schwerstkranken behandelt“, erklärt die Wiener Drogenkoordination.

Was fehlt. Eines kann ein Substitut nicht ersetzen: Den Kick, den nur die Nadel bringt. Einige brauchen Jahre, um loszukommen. Andere schaffen es nie. Die Initiative Drogenkonsumraum ist überzeugt davon, dass ein Konsumraum in Wien diesen Menschen helfen würde. Ihre Mitglieder kennen die Probleme der Szene aus erster Hand: SozialarbeiterInnen, StreetworkerInnen, Angehörige und KonsumentInnen, darunter auch Hamid. Seit mittlerweile drei Jahren macht er eine Substitutionstherapie, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn: „Drei Jahre und vier Monate ist er alt“, erzählt er stolz. Damals, als er noch an der Nadel hing, hätte er lieber einen Konsumraum genutzt, als die Häuser fremder Leute.Ein solches Angebot wird es in Wien trotzdem noch länger nicht geben. „Das Problem ist zu klein, als dass es einen Schulterschluss der Interessensgruppen gibt“, erklärt Alexander David, Drogenbeauftragter der Stadt Wien. Die Politik müsste zustimmen und die Justiz den Konsumraum gesetzeskonform machen. Außerdem müsste die Polizei ein eigenes Konzept entwerfen, wie mit Suchtkranken im Areal um den Konsumraum umgegangen wird und die Medien müssten diesen Prozess mittragen. Kurzum: Es müsste einen gesellschaftlichen Konsens geben. Der fehlt bisher in Wien: „Am Platzspitz in Zürich lungerten täglich rund 2.000 KonsumentInnen herum, da konnte niemand mehr wegsehen. Am Karlsplatz waren es an warmen Tagen ungefähr 200. Die Konsumräume in der Schweiz und in Deutschland sind aus einer Notoperation am verpfuschten Patienten entstanden, durch jahrelange verfehlte Drogenpolitik. Das gab es in Wien nie“, so David. Die Szene am Karlsplatz, die gibt es auch nicht mehr. Man habe sie aufgelöst, um eine ganz bestimmte Form von offenem Drogenhandel zu unterbinden. Die „Kinder vom Karlsplatz“ seien durch den Ganslwirt und TaBeNo aufgefangen worden.

Die Initiative Drogenkonsumraum teilt diese Meinung nicht: „Wir haben Rückmeldungen von StreetworkerInnen, dass viele Betreuungsverhältnisse zerbrochen sind. Die Szene wurde aus diesem öffentlichen, touristischen Umfeld vertrieben. Die Konsequenzen müssen die KonsumentInnen tragen.“ Auch seien nicht alle Konsumräume aus einer „Notoperation“ heraus entstanden: „Für Zürich mag das stimmen, aber in Ländern wie Kanada und Australien sind die Räume später entstanden und unter anderen Voraussetzungen.“ In einem sind sich David und die Initiative aber einig: Die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt – in der öffentlichen Meinung sind KonsumentInnen immer noch kriminell und nicht chronisch krank. „Aber wer, wenn nicht der Drogenbeauftragte sollte Verantwortung übernehmen, diese Meinung zu kippen?“, heißt es seitens der Initiative.

* (Name geändert)

Link: Initiative Drogenkonsumraum Wien: http://i-dk.org