Jakob Falkinger

Die designte Revolte

  • 31.10.2013, 19:16

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Nein – aber ein besseres, glaubt der Design-Professor und Gründer des Berliner Polit-Kunst-Experiments „RLF“ Friedrich von Borries. Mit Überaffirmation will er den Kapitalismus umstürzen. Sein Roman liefert dabei den Entstehungsmythos zur Bewegung. Jakob Falkinger hat das Buch gelesen und den Autor zum Interview gebeten.

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Nein – aber ein besseres, glaubt der Design-Professor  und Gründer des Berliner Polit-Kunst-Experiments „RLF“ Friedrich von Borries. Mit Überaffirmation  will er den Kapitalismus umstürzen. Sein Roman liefert dabei den Entstehungsmythos zur  Bewegung. Jakob Falkinger hat das Buch gelesen und den Autor zum Interview gebeten.

Dass etwas grundlegend mit dem Lauf der Dinge auf unserem Planeten  nicht stimmt, dessen sind sich wohl  die meisten bewusst. Doch was kann gegen diesen allgemeinen Unmut und die Angst vor Veränderung getan  werden? Manche entscheiden von nun an, im Bioladen ihr Joghurt zu kaufen,  oder fahren mit dem Rad ins Büro. Manche besetzen öffentliche Plätze  und Gebäude, um auf ihre Anliegen  aufmerksam zu machen. Andere wiederum treten einer Partei bei, um sich  wählen zu lassen. Und wieder andere  schreiben ein Buch.

Das hat auch Friedrich von Borries, Professor für Designtheorie aus Hamburg,  getan. In seinem zweiten Roman  – mit dem an ein berühmtes Adorno-  Zitat angelehnten Titel „RLF – Das  richtige Leben im falschen“ – erzählt er die Geschichte des von Geltungssucht und Ehrgeiz getriebenen Werbers Jan, der nach einem Schlüsselerlebnis beschließt, den Kapitalismus bekämpfen zu müssen. Also begibt er sich auf die  Suche nach der Antwort auf die Frage  „Wie?“: Er fährt nach New York zu  Occupy Wall Street, trifft sich mit AktivistInnen  verschiedenster Gruppierungen, interviewt TheoretikerInnen und  KünstlerInnen und hängt schließlich seinen Job bei einer erfolgreichen Werbeagentur an den Haken, um sich ganz dem Sturz des Systems zu widmen. Um das Ganze nicht allzu geradlinig zu gestalten,  lässt der Autor seinen egozentrischen  Protagonisten ein Leben auf  der vielbemühten Überholspur führen  – Hauptbeschäftigung neben Sex und  Drogen ist hier das Erfolgreichsein. Dem Autor zufolge repräsentiert der  Protagonist „eine Haltung, die viele  heute quält; zu wissen, dass wir uns  falsch verhalten, aber sich nicht zu trauen, alles aufzugeben“.

Keine Angst! Genau hier, beim  Thema Angst, will die Bewegung  „RLF“ den Grundkurs des Buches  fortsetzen. So heißt es auf der RLF Website  in großen Lettern: „Show you  are not afraid!“ – Zeig, dass du keine  Angst hast! Wie das funktionieren soll, darauf weiß auch von Borries im progress-Interview keine genaue  Antwort, zumal es sich einerseits bei  RLF um ein Experiment mit unsicherem  Ausgang handelt. Andererseits  scheint es so, als wäre das Projekt  RLF auf eine besonders privilegierte  Zielgruppe mit viel (kulturellem und  sozialem) Kapital ausgerichtet, die sich die teuren, auf der Website feilgebotenen  Designer-Produkte leisten kann  und so zum „Shareholder der Revolution“  wird. Zeigen zu können, dass man  keine Angst hat, hängt also irgendwie  doch mit dem Kontostand oder dem  Umfang der privaten Kunstsammlung  zusammen. Und doch meint der Autor, dass das ganz individuelle Probleme  seien: „Ich und die Menschen, die die  Bewegung RLF tragen, glauben, dass  es Angst ist. Angst vor sich selbst,  Angst vor Veränderung, Angst vor dem  Scheitern. Das gilt es zu überwinden.“

Keine neue Diagnose. Doch wie soll jetzt der Kapitalismus überwunden werden? Und was kommt danach? Dem  RLF-Manifest zufolge sind die gegenwärtigen  repräsentativen Demokratien  allesamt bloße Fassaden, die den Blick  auf die totale Kommerzialisierung aller Lebensvollzüge verstellen. Jede Form von Widerstand gegen diese  Tendenzen wird früher oder später  vom System inkorporiert und somit  unschädlich gemacht. Diese Diagnose  ist aber beim besten Willen nicht neu. Für von Borries und seine RLF-Propagandaabteilung  heißt der Ausweg aus  dieser verworrenen Situation jedoch  nicht einfach Ablehnung und Ausstieg,  sondern Subversion – der Kapitalismus soll mit seinen eigenen Mitteln geschlagen  werden. Wesentliche Mechanismen  wie Ausbeutung und Konkurrenz  müssten dieser Logik folgend weiterhin  reproduziert, ja sogar bis zum Exzess  „überreproduziert werden“. Ob das der  Weisheit letzter Schluss ist, der uns den  Weg in die befreite Gesellschaft ebnet?

 

„RLF ist ein aufklärerisches Projekt“

RLF-Gründer Friedrich von Borries im Interview.

progress: Ihr Experiment will das richtige Leben im falschen ausloten. Mit welchen Mitteln wollen Sie das schaffen?

Friedrich von Borries: Die „Bewegung“ ist die Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln. Im Moment suchen wir über unsere Webplattform Mitstreiter. Es geht um die Frage, wie politischer Protest heute aussehen kann. Wir sind gespannt auf alle, die mitmachen. Ich persönlich glaube übrigens nicht, dass es ein richtiges Leben im falschen gibt, ich halte es da wie Harald Welzer, der vom „richtigeren“ Leben spricht.

Wo steht RLF politisch? Handelt es sich um ein linkes Projekt?

Vieles, was bei uns links ist, ist im globalen Kontext konservativ. Große Teile der Öko-Bewegung, aber auch der Protestbewegungen sind zutiefst bürgerlich und gehören zur akademischen Mittelschicht. Die Zuschreibungen funktionieren nicht mehr. Ich würde sagen, dass RLF ein anti-kapitalistisches und ein aufklärerisches Projekt ist.

In Ihrem Buch gewinnt man einen Einblick in die Methoden und Vorgehensweisen eines Werbeprofis. Würden Sie sagen, dass sich gesellschaftliche Veränderungen outsourcen lassen – dass etwa Werbeagenturen und Designbüros Streiks organisieren und den Betroffenen diese Arbeit abnehmen?

Das ist ja bereits so. Occupy Wall Street wurde von einem Werbeprofi ins Leben gerufen. Die osteuropäischen Protestbewegungen von Otpor! bis zu Femen haben sich die Mechanismen des Marketings genau angesehen und für ihre Zwecke eingesetzt.

Warum diese beinahe verbissen wirkende Workaholic- Mentalität, verkörpert durch den Protagonisten Jan, die sich durch das Buch zieht? Anders gefragt: Wenn die Methode „Kapitalismus durch Überaffirmation“ lautet, dann heißt das auch, diejenigen Mechanismen des Kapitalismus zu reproduzieren, die es abzuschaffen gilt?

Natürlich müssen wir die Mechanismen des Kapitalismus abschaffen – aber das Totalitäre des Kapitalismus ist, dass nicht nur wir Teil des Kapitalismus sind, sondern der Kapitalismus auch Teil von uns. Ich glaube, dass das auch das ist, wovor wir Angst haben. Insofern bildet die Workaholic-Mentalität der Protagonisten von RLF, wie Sie es nennen, die Realität ab, in der wir leben. Und keiner hat gesagt, dass Jan, Slavia, Mikael oder sonst eine Figur in RLF als Vorbild taugen.

 

Der Autor Jakob Falkinger studiert Philosophie in Wien.

 

 

  

 

 

Skandalisierung des Normalen

  • 30.09.2012, 22:00

Macht die jüngste „Welle“ an Coming-Outs von Musiker_innen aller Genres lediglich das voyeuristische Verlangen der Massen explizit,oder kann der Berichterstattung auch etwas Positives abgewonnen werden?

Macht die jüngste „Welle“ an Coming-Outs von Musiker_innen aller Genres lediglich das voyeuristische Verlangen der Massen explizit,oder kann der Berichterstattung auch etwas Positives abgewonnen werden?

Die besten Schlagzeilen, die Unterhaltungsmedien und Rezipient_innen gleichermaßen nähren, liefern wohl die kleinen und großen Skandale der Stars und Promis. Einblicke in deren Privatsphäre, in ihr „wirkliches“, „ungeschminktes“ Leben werden der Sensation wegen offengelegt. Und was bietet dafür besseren Stoff als die Sexualität der Stars? Im Vergleich mit der medialen Sprache der  70er-Jahre zeigt die aktuelle Berichterstattung über Coming- Outs in der Popwelt aber auch, dass heute von einer anderen Normalität ausgegangen wird.

Musik ist oft einnehmend und exzessiv und spricht gerade deshalb so viele Menschen an. Sie drängt quasi an die Öffentlichkeit. Popmusik erfüllt aufgrund dieser Eigenschaften seit jeher eine Scharnierfunktion, die Musik mit politischem Engagement, Aktionismus und Intervention verbindet. Musik ist Ausdrucksmittel und Ventil, sowohl für die Freuden des Lebens als auch für Leid, Trauer und Wut. Diese Wut bringt uns direkt in das New York der späten 1970er-Jahre – dem, wenn man so will, Entstehungsort des Punk. Weiße Mittelschicht-Kids fanden in einer schnelleren und raueren Spielweise des Rock 'n' Roll und dem körperbetonten Auftreten auf der Bühne ein provokatives Medium der Rebellion gegen die Generation ihrer Eltern und deren Vorstellungen vom richtigen Leben.

Provokation. Die Künstlerin und Sängerin Jayne County – früher unter dem Namen Wayne County als Protagonistin der New Yorker Punk-Szene der 70er-Jahre bekannt – betont in Interviews mit der Musikpresse stets den rebellischen und politischen Geist ihres Schaffens in dieser Zeit. County sieht sich in einer Pionierinnenrolle: „I was the first completely full-blown, in-your-face queen to stand up on a rock'n'roll stage and say 'I am what I am, I don't give a damn'“, so County in einem Interview mit dem Fanzine Punk Globe. Ein Blick auf den Pressespiegel ihrer Homepage zeigt die Empörung, die ihre Auftritte einst auslösten und die Angst derbürgerlichen Medien vor einer Person, die sich auf keine geschlechtliche Identität festlegen will und dies auch offen nach außen  trägt. Countys Musik wird als „Müll“ bezeichnet, der eher in den Abfalleimer gehört als auf eine Bühne. Mit ihrer provozierenden Message sollte Countys Kunst die homo- und transphoben Wertvorstellungen der Öffentlichkeit herausfordern. Sie flucht, schimpft und phantasiert.

Damit will sie vor allem vor den Kopf stoßen. Selbst beschreibt sie sich als „verrückt, vernünftig, ungeduldig“. Die Verschränkung von Kunst und politischem Aktivismus macht das eigene Leben zu einem großen Kunstwerk, so der avantgardistische Anspruch, den die Person County verkörpert. Sie selbst wurde zumRock'n'Roll-Star im Zirkus des Showbiz, zu einem  „Freak“, wie ein Artikel in The Province dazu verlautbarte: „Wayne hat seine Ausdrucksform im Rock gefunden, wo Freak Shows Teil des Normalen sind. Du hast eine Frau in einem Männerkörper, du zeigst es nach außen: Das ist Show-Business.“

Bands wie die New York Dolls, die mit ihrem crossdressing für Aufsehen sorgten, Auftritte von Iggy Pop & the Stooges, die regelmäßig im Exzess endeten, oder Patti Smith, die mit Krawatte und Sakko auf der Bühne stand und dafür bekannt wurde,konnten die Aufmerksamkeit nicht nur kommerziell nutzen. Sie alle prägten die Popwelt nachhaltig.

Privatisierung des Politischen? Wasdamals als anstößig und verpönt galt, ist heute in vielen Teilen der Popwelt bereits etabliertes Stilmittel. Von David Bowie, Prince über Madonna zu Lady Gaga – um nur einige der ganz Großen zu nennen – ist das Spiel mit Geschlechteridentitäten wichtiger Bestandteil künstlerischen Ausdrucks, begleitet von einem gar nicht so aufrührerischen Sound. Das scheint heute der Normalität zu entsprechen. Auch wenn von der Musikpresse, wie etwa dem Juice-Magazine, dem größten europäischen HipHop- Zine, das Coming-Out des R'n'B/Soul-Sängers Frank Ocean 2012 als Meilenstein bezeichnet wird. Ocean ist Mitglied des hocherfolgreichen, aber ob seiner homophoben, sexistischen und gewaltverharmlosenden Äußerungen umstrittenen Hip-Hop-Kollektivs Odd Future und gilt als das derzeit größtes Talent ineinem stark männlich geprägten, oft misogynen und homophoben Umfeld.

In eigener Sache. Auch das rege mediale Interesse am Coming-Out der Sängerin Laura Jane Grace von der Punkrockband Against Me!  galt, ähnlich wie bei Ocean, weniger der sexuellen bzw. der geschlechtlichen Identität als Teil eines künstlerischen und politischen Konzepts, sondern vielmehr der konkreten Lebensrealität von Grace als Person. Während Jayne County erst in den  jüngsten Interviews einige wenige persönliche Details verraten hat, liest sich die umfassende Reportage des Rolling Stone um Graces Coming-Out wie ein persönlicher Erlebnisbericht. Spielten sich die Interviews Countys in Clubs oder Kellerräumlichkeiten irgendwelcher Studios ab, so bittet Grace Rolling-Stone-Reporter Josh Eells zu sich nach Hause, in eine der „unpunkigsten Nachbarschaften, wie man sich vorstellen kann“, wie Eells schreibt. Diese Geste bezeichnet symptomatisch den Duktus aller Interviews und Artikel über Grace – seien sie von MTV oder dem Rolling Stone, sie vollziehen alle eine völlige Öffnung der privaten Sphäre gegenüber der Öffentlichkeit. Beim Dinner mit der Familie erzählt sie von der an ihr diagnostizierten gender dysphoria und ihren persönlichen Umgang damit. „Es war etwas sehr Verstecktes, mit dem sehr privat umgegangen wurde.”

Die erste Punk-Generation der New Yorker Szene wollte sich, im Unterschied dazu, gegen den Mainstream behaupten. Die Pioniersfunktion, von der County spricht, findet sich bei Grace nicht. Sie macht ihre transition nicht zum Gegenstand ihrer  Bühnenperformance, sondern will in erster Linie mit sich selbst ins Reine kommen. In einem Interview, das Grace für The Guardian gegeben hat, antwortet sie auf die Frage, warum sie eine derartige Strategie der völligen Offenlegung ihrer Privatsache wählte: „Es ist eine gewisse Art von Normalisierung, die man betreibt, wenn man damit so öffentlich umgeht.“

Nicht zuletzt scheint es einen pragmatischen Grund zu geben: „Wenn du so etwas wie das Rolling Stone hast, das du jemandem  geben und sagen kannst: ‚Wenn du danach noch Fragen hast, nur zu‘, ist das großartig. Besonders wenn man sonst eineinhalb Millionen Gespräche führen müsste.“ Laura Jane Grace begegnet der Öffentlichkeit anders als die_der frühe Punk. Provokation und  Exzess waren dereinst das laute Gebot der Stunde – nicht nur als politischer Stil, sondern durchaus auch als Marketing-Mittel. Pop-Musiker_innen heute wollen und können sich nicht mehr durch solche Provokationen abgrenzen. Die Normalisierung, von der Grace spricht, könnte als eine Form des politischen Kampfes gesehen werden. Kunstschaffende wie sie wollen heute gewöhnlich  sein. Und so zeigt sich auch deren Lebenswelt: normal, langweilig, gewöhnlich. Und das ist auch gut so.

Die kulinarische Kodifizierung des Terrors

  • 26.09.2012, 01:57

Die Behörden des deutschen Innenministeriums können sich erst nach einer Serie rechtsextremer Morde und Gewalttaten zum öffentlichen Eingeständnis durchringen, dass rechtsextremer Gewalt zu wenig Gefahrenpotential beigemessen wurde.

Die Behörden des deutschen Innenministeriums können sich erst nach einer Serie rechtsextremer Morde und Gewalttaten zum öffentlichen Eingeständnis durchringen, dass rechtsextremer Gewalt zu wenig Gefahrenpotential beigemessen wurde. Die Verstrickungen und personellen Überschneidungen von Verfassungsschutz, Polizei und Neonazis leisten dazu ihren Beitrag und behindern die Aufklärungsarbeit. So erweist sich der in die Jahre gekommene Gemeinplatz, dass auf die Behörden kein Verlass sei, wenn es um antifaschistische Arbeit geht, als krisensicher und brandaktuell. Und nicht nur das: Die Nazi-Connection beim Verfassungsschutz ist seit mindestens zehn Jahren bekannt, und wird noch immer nicht in Frage gestellt.

Strategien der Verharmlosung. Ob die Schuldeingeständnisse, Reuebekundungen und Entschädigungsankündigungen der Justiz und der Polizei mehr als bloße Lippenbekenntnisse sind, wird noch zu zeigen sein. Was jedoch von Anfang an, im schlechtesten Sinne und in besonderer Deutlichkeit, zu Tage trat, sind die Versuche, rechtsextreme Gewalt zu verharmlosen: Zwei spezifische Phänomene, die im Zusammenhang mit der Neonazi-Mordserie häufig zur Geltung kommen, verweisen auf weitaus allgemeinere gesellschaftliche Probleme als „bloß“ kriminalistische Mängel. Es ist die rassistische Rede von „Döner-Morden“, die den Opfern noch den letzten Rest an Würde und Betrauerbarkeit nimmt. Indem die Opfer dieser rassistisch motivierten Morde mit einem kulturalistisch kodifizierten Gegenstand (Döner) gewaltsam identifiziert werden, verlieren sie ihren Status als Menschen. Sie sind tot. Und Döner lassen sich nicht betrauern. In dieser leichtfertigen Rhetorik zeichnen sich bereits die Konturen einer Strategie ab, die sowohl von Rechtsextremen, als auch von denen, die vor deren Auftreten, deren Gewalt, die Augen verschließen und verstummen, angewandt wird.

Alibi. Doch das Entsetzen und die Erschrockenheit über die Details, die nach und nach ans Tageslicht geraten, sind oft vor allem eines: Ausdruck der deutschen Normalität und Zeichen der Verharmlosung der menschenverachtenden Ideologie von Neonazis, NationalistInnen und Rechtsextremer aller Couleur, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. In Österreich hingegen, wo sich die Elite der europäischen Rechten alljährlich in der Hofburg, wohl nicht nur zum Tanze, versammelt, gibt es, wie man meint, keine Probleme mit „diesen“ Rechtsextremen, sitzen sie doch domestiziert im Parlament und in anderen großen Häusern – gleich nebenan. Aber verstellt der Blick auf diese „RepräsentantInnen“ nicht gerade die Sicht auf die, die sie repräsentieren?

Ein Feiertag in der Zwickmühle

  • 24.09.2012, 10:00

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Ein Kommentar über beklemmende Trauer, Freude und Stille beim österreichischen Gedenken an das erfreuliche Ereignis.

Der 8. Mai, der Tag des Sieges der Alliierten über Nazideutschland im Jahr 1945, wird in Österreich nicht als offizieller Feiertag begangen. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Staaten Europas ist die Bedeutung des 8. Mai in Österreich keine so klare Angelegenheit. Dem 8. Mai wird jedoch nicht nur vom offiziellen Österreich wenig Beachtung geschenkt, er hat auch für weite Teile der Bevölkerung keine Bedeutung. In den Medien finden sich höchstens kurze Meldungen zu den traditionellen Auseinandersetzungen zwischen rechtsextremen Burschenschaftern, die den 8. Mai mit Fackeln in der Hand und Tränen in den Augen als Tag der totalen Niederlage betrauern, und linken Antifaschist_innen, die den skurrilen Traueraufmarsch verhindern oder zumindest stören möchten. So scheint es, dass dieser Tag lediglich für die extreme Rechte und ihre expliziten Gegner_innen eine gewisse Bedeutung hat.

TRAUERTAG DER EXTREMEN RECHTEN. Das Bild, das sich am 8. Mai rund um den Heldenplatz bietet, hat sich in den letzten Jahren kaum verändert: Großräumige Sperren ermöglichen es den Burschenschaftern in voller Montur, den „Alten Herren“, den FPÖ-Abgeordneten und den unauffällig gekleideten Neonazi-Kadern - 2004 lauschte etwa die mittlerweile inhaftierte Neonazi-Ikone Gottfried Küssel der Trauerrede Heinz-Christian Straches -, mit Fackeln und Trommelbegleitung von der Mölker Bastei zum Heldenplatz zu marschieren. Dort angekommen, werden pathetische Reden zum Besten gegeben und am Ende das „Lied vom guten Kameraden“, der Gassenhauer der Ewiggestrigen, angestimmt. Die antifaschistische Gegendemo fand in den letzten Jahren, abgeschirmt von mehreren Reihen Polizist_innen, vor den Toren des Heldenplatzes statt. Für die extreme Rechte und ihre parlamentarische Vertretung, die FPÖ, ist der 8. Mai traditionellerweise eine politische Bekenntnisfrage. Blaue Politiker_innen, die an diesem Tag gemeinsam mit Burschenschaftern und Neonazis zum Heldenplatz ziehen, verstecken ihre Interpretation des 8. Mai meist hinter der allgemeinen Floskel, es gehe ihnen um das Gedenken an „alle Opfer des Krieges“. In diesem Sinne erwähnte der damals frisch gebackene FPÖ-Parteichef Strache bei seiner „Totenrede“ auf dem Heldenplatz 2004 auch die Häftlinge der Konzentrationslager, um sie dann sogleich mit den „Opfern des alliierten Bombenterrors“ und den „Millionen heimatvertriebenen Deutschen“ gleichzusetzen, für die „das Kriegsende aber keine Befreiung gewesen“ sei. Hier wird einerseits eine klassische Vermischung von Opfern und Täter_innen betrieben: Alle waren irgendwie Opfer des Krieges, egal auf welcher Seite sie standen. Andererseits knüpft Strache an die Narrative derjenigen an, für die der 8. Mai 1945 tatsächlich ein Tag der Niederlage war, weil sie mit Überzeugung und Begeisterung für ein „Tausendjähriges Reich“ gekämpft hatten.

FEIERTAG DES ANTIFASCHISMUS. Für einen nicht so kleinen Teil der Gesellschaft - in Österreich gab es immerhin circa 700.000 NSDAP-Mitglieder - war der 8. Mai 1945 also eher ein Tag der Niederlage. Für jene, die verfolgt wurden, in den Konzentrationslagern litten, um ihr Leben fürchten mussten, war dieser Tag jedoch tatsächlich eine Befreiung, die es zu feiern galt. 1946 wurde rund um den 8. Mai ein dreitägiges Fest organisiert, das in den Folgejahren jedoch immer mehr an Bedeutung verlor. Um diesen Widerspruch zwischen Befreiten und Kriegsverlierer_innen zu kaschieren, wurde der 8. Mai 1945 zu einer „Stunde Null“ uminterpretiert, von der aus sich alle politischen Lager gemeinsam für ein freies Österreich einsetzten. „Österreich ist frei“, hieß es dann erst bei der Staatsgründung 1955. Damit sich Österreich als „Opferkollektiv“ konstituieren konnte, musste es sich zuerst von der konkreten Befreiung vom Nationalsozialismus „befreien“. Der Anspruch, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begreifen, ist somit nur schwer vereinbar mit den Gründungsnarrativen der Nation Österreich.

Heute rufen Antifaschist_innen rund um den 8. Mai dazu auf, diesen Tag gebührend zu feiern. Aber auch das birgt die Gefahr, Österreich wieder als „erstes Opfer“ zu begreifen, als „macht- und willenlos gemachtes Volk“, das 1945 endlich von der Fremdherrschaft befreit wurde. Wenn anstatt einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der postnazistischen Gesellschaft das „andere“, „bessere“ Österreich sich selbst abfeiert, wird der Widerspruch, auf dem Österreich beruht, erneut zugedeckt.

VERWEIGERUNG FEIERN. Ein Bezugspunkt für den 8. Mai, der kaum patriotisch instrumentalisierbar ist, wäre Desertion, Befehlsverweigerung und Flucht aus Verbänden der deutschen Wehrmacht. Das Sichtbarmachen von Deserteuren würde den Widerstreit der unvereinbaren Positionen von Widerstandskämpfer_innen und Deserteuren einerseits und den Täter_innen andererseits offenlegen, der durch das Gründungsnarrativ Österreichs verdeckt wird. Dass es für einen Staat kaum möglich ist, sich auf „Verrat“ positiv zu beziehen, zeigt jedoch die bis heute kontrovers geführte Debatte über den Umgang mit dem Andenken an Wehrmachtsdeserteure. Bis Herbst 2009 hat es gedauert, dass die Republik Österreich sich dazu durchringen konnte, die Opfer der NS-Militärjustiz zu rehabilitieren und die Urteile gegen sie aufzuheben. Die Forderung nach einem Denkmal, das Desertion und Fahnenflucht aus der Wehrmacht als widerständigen Akt würdigt, steht bis heute im Raum. Das Beispiel der Deserteure straft außerdem den Opfermythos und die Rede von der Willen- und Machtlosigkeit Lügen, indem es aufzeigt, dass es Möglichkeiten gab, gegen den Nationalsozialismus Widerstand zu leisten.

Die Frage, welche Rolle dem 8. Mai aus antifaschistischer Perspektive beigemessen wird, lässt sich nur angemessen beantworten, wenn ein konkreter historischer Bezug geschaffen wird. Fehlt diese Verbindung, beläuft sich das alljährliche Begehen dieses Tages auf bloßes Feiern, das jeder Grundlage entbehrt, oder auf eine patriotische Vereinnahmung durch das „bessere“, „andere“ Österreich. Die positive Bezugnahme auf Verweigerung, Ungehorsam und „Verrat“ als Charakteristika, die die Handlungen der Deserteure auszeichnen, bietet einen Ansatzpunkt, von dem aus der 8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, jenseits identitärer Instrumentalisierung und inhaltlicher Verflachung, gefeiert werden kann.
 

DER SIEG DER ALLIIERTEN 1945

29. MÄRZ 1945: Die Rote Armee befreit Klostermarienberg im Burgenland.
6. APRIL 1945: Rote Armee erreicht Wien. Kampflosen Übergabe Wiens scheitert, heftiger Häuserkampf zwischen Roter Armee und Volkssturm bzw. der HJ. SS patrouilliert in Straßen und erschießt desertierte Wehrmachtssoldaten.
10. APRIL 1945: Teppichhaus Haas geht in Flammen auf. Funkenflug löst den Brand des Stephansdoms aus - das Sinnbild Österreichs als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“.
13. APRIL 1945: Kampf um Wien beendet, die rote Fahne wird am Parlament gehisst. Von den mehr als 200.000 Juden und Jüdinnen, die im März 1938 in Wien gelebt hatten, erleben nur mehr 5243 hier die Befreiung.
27. APRIL 1945: SPÖ, ÖVP und KPÖ unterzeichnen Proklamation der Selbstständigkeit Österreichs. Die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Österreicher_innen bzw. von Angehörigen der Volksgruppen der Roma und Sinti sowie die Beteiligung zahlreicher Österreicher_innen an den NS-Verbrechen wird darin nicht erwähnt.
5. MAI 1945: US-Amerikanische Truppen befreien das KZ Mauthausen.
8. MAI 1945: Die Wehrmacht kapituliert bedingungslos in Berlin. Der 8. Mai ist in vielen europäischen Staaten bis heute als „Tag der Befreiung“ ein gesetzlicher Feiertag.

 

Faschistisch und revolutionär

  • 13.07.2012, 18:18

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Im Jahr 2003 besetzte eine Gruppe von NeofaschistInnen ein Gebäude in Rom, das sie nach dem Dichter Ezra Pound, einem Verfechter Mussolinis, Casa Pound (CP) nannten. Sie berufen sich auf den italienischen Bewegungsfaschismus der 1920er-Jahre, den sie zu modernisieren versuchen – mit beunruhigendem Erfolg: Das Haus beherbergt heute über 20 italienische Familien und die Casa Pound ist mit über 2.000 eingeschriebenen Mitgliedern bereits in 14 Städten in ganz Italien vertreten. Unterstützt wird sie von ihrem intellektuellen Arm, dem Blocco Studentesco.

Weder links noch rechts. Die Einteilung des politischen Spektrums in links und rechts betrachten die NeofaschistInnen als veraltet: Weder links noch rechts, sondern „faschistisch-revolutionär“ sei die CP. Die Dinge werden selbst in die Hand genommen, Parteien und Gewalt nach außen hin abgelehnt. Im Zentrum ihres Programmes steht die Einheit der italienischen Nation und der Erhalt der Kernfamilie.

Ewiggestriges in poppigem Gewand. Ordentlichkeit und das Verbot von Waffen und Drogen innerhalb der CP sollen ein seriöses Bild vermitteln. Der Öffentlichkeit präsentiert die Casa Pound ein breites kulturelles Angebot. Rechtsrockkonzerte gehören ebenso dazu wie ein Radiosender und Theaterstücke. Außerdem wird zu Flashmobs, Demos und klassischen NGO- und Charity-Tätigkeiten aufgerufen. Ihre Bildsprache bedient sich antisemitischer Sujets, die allerdings auch aufgrund ihrer weiten Verbreitung in linken Kreisen für viele nicht unmittelbar auf rechtes Gedankengut hinweisen. In den politischen Kampagnen der CP wird neben dem „Aussaugen“ Italiens durch „Mietwucher“, „Raffgier“ und das personifizierte Böse, verkörpert von ImmobilienspekulantInnen („Vampire“), auch alles angeprangert, was die italienische Kernfamilie bedroht (Homosexuelle, FeministInnen, illegalisiert lebende MigrantInnen). Mit diesen widersprüchlichen Positionen will sich die CP in die in Mode gekommenen Grassroots-Bewegungen eingereiht wissen.

So gewaltfrei und bürgerlich sich die CP nach außen hin auch geben mag, so sehr widersprechen die Fakten dieser Selbstdarstellung. Der studentische Zweig der CP, der Blocco Studentesco, schreckt nicht vor Gewalt zurück: 2011 wurde bei Studierendenprotesten in Rom ein Demonstrationszug linker SchülerInnen und StudentInnen angegriffen. Auch der Attentäter, der im Dezember 2011 in Florenz zwei senegalesische Händler auf offener Straße erschoss und drei weitere schwer verletzte, stand in enger Verbindung zur Casa Pound. Letztere versuchten in den Tagen nach dem Mord auf ihrer Homepage ihr angekratztes Image wieder herzustellen, indem sie jede Verbindung zum Täter leugneten und diesen als irren Einzeltäter hinstellten. Gleichzeitig wird der grausame Mord in einschlägigen Internetforen und Facebookgruppen als HeldInnentat dargestellt. Dass solche Strategien des Leugnens nach wie vor aufgehen, liegt weniger am Geschick einer Organisation wie der CP, als vielmehr an der Akzeptanz rechtsextremer Ideologien in weiten Teilen Europas.

 

Dreckige Gitarren

  • 13.07.2012, 18:18

Wild Flag, das sind Mary Timony, Carrie Brownstein, Rebecca Cole und Janet Weiss – die erste All-female-Supergroup der Rockgeschichte.

Wild Flag, das sind Mary Timony, Carrie Brownstein, Rebecca Cole und Janet Weiss – die erste All-female-Supergroup der Rockgeschichte.

Die Wild Flag Musikerinnen waren vor allem in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in verschiedenen Bands (Sleater Kinney, Helium), aktiv. Sie wirbelten den Malestream im Rockbusiness ordentlich auf. Die damalige Zeit stellt für Wild Flag immer noch einen wichtigen Bezugsrahmen dar, wie Rebecca Cole, Keyboarderin von Wild Flag im Interview mit PROGRESS bemerkt: „Wir alle profitieren von unseren individuellen Erfahrungen in unseren früheren Bands. Alle vier von uns sind der Musik leidenschaftlich verschrieben und es ist viel gegenseitiger Respekt und gegenseitige Bewunderung füreinander, sowohl als Musikerinnen als auch auf persönlicher Ebene, vorhanden.“

„ ... the sound is what found us.“ Obwohl der selbstauferlegte Anspruch, nach all den unzähligen Projekten eine „Traumband“ zu gründen, eher nach bedachter Beharrlichkeit klingt, veröffentlichten Wild Flag im Herbst 2011, bereits kurz, nachdem sie als Band zusammenfanden, ihren ersten Longplayer (Wild Flag) auf dem Londoner Label Wichita Records. Die Erwartungen an die junge Band waren, gemessen an der Prominenz ihrer früheren Projekte, sehr groß, weswegen der rasante Aufstieg nicht ganz so plötzlich kam, ihnen aber beachtliche Kritiken (Platz 9 der Besten Alben 2011 des Rolling Stone) bescherte.Dieses Tempo spiegelt sich auf gewisse Weise auch musikalisch wieder, wird hier doch ein ganz anderes Programm gefahren, als sich so manche, die dem 90er-Jahre-Sound von Helium und Sleater Kinney verfallen sind, erhofft hätten: Es wird durch die Bank gerockt – Mit allem, was dazugehört: Dreckige Gitarrensoli, wabernde Orgelsounds und hämmernde Drums. Mehr Rock und Punk als abgetragene Indie-Langeweile. Die Vocals von Carrie Brownstein und Mary Timony fallen mal rhythmisch, nahe am Sprechgesang, mal melodiös als Chorgesang aus. Energie und Dichte werden hier groß und vor allem laut geschrieben.

L’art pour l’art? Die meist sehr persönlich gehaltenen Texte nehmen oft auf das eigene musikalische Schaffen und das Spannungsverhältnis, das bei den Auftritten zwischen Band und Publikum entsteht, Bezug: „Wir wollen, dass sich die Leute im Publikum einen Moment der Freiheit, der Überraschung und der Selbstfindung an einem unerwarteten Ort erlauben“, betont Cole. Dieser sehr persönliche Zugang wird aber nicht als unumgänglich gesehen, sondern vielmehr als (politische) Konsequenz einer Offenheit, die ebensogut explizit politische Songtexte hervorbringen kann. Zur Zeit steht vor allem eines am Programm von Wild Flag: „We’re focused on making the music for the sake of making music.“ Ein Zugang wie dieser ist wohl nur vertretbar, wenn „Musik“ sehr weit gefasst wird, als etwas, das das immergleiche Rockstartum und Bandgehabe übersteigt. Das haben Wild Flag schon längst getan!