Florian Wagner

Trümmer zusammenfügen – Zeitreisen und Emanzipation

  • 11.10.2017, 17:44
Seit 1963 überwindet die britische TV-Serie Doctor Who Raum-, Zeit- und Genregrenzen. Ende dieses Jahres wird auch die Gendergrenze überschritten und erstmals eine Frau die Rolle des zeitreisenden Doctors ausfüllen.

Die von der öffentlich-rechtlichen BBC produzierte Serie umfasst mittlerweile 839 Folgen, von denen jedoch 97 nach wie vor verschollen sind. Die Prämisse ist leicht erklärt und hat sich 54 Jahren kaum verändert: Der Doctor, ein mysteriöser Außerirdischer, reist mit seiner TARDIS – einem Raumschiff, das innen größer ist als außen – durch Raum und Zeit und wird dabei von wechselnden Companions begleitet. Stirbt der Doctor, regeneriert er in einem neuen Körper. Seit der Darsteller des ersten Doctors aus gesundheitlichen Gründen aus der Serie ausschied, waren 13 Schauspieler in der Rolle zu sehen.

Fortschritt

Diesen Sommer wurde mit Jodie Whittaker erstmals eine Frau als die Rolle des mittlerweile fast 2000 Jahre alten Time Lords gecastet. Sie wird im kommenden Christmas Special erstmals zu sehen sein. Frauen war bisher primär die Funktion des Companions vorbehalten, die den Doctor auf seinen Reisen begleiten. An ihnen sind auch die jeweils herrschenden Frauenbilder ihrer Zeit gut ablesbar. Waren Sie in den Anfangsjahren der Serie oftmals kreischende, vor diesem oder jenem Monster weglaufende Damsels in Distress, schlug sich mit dem Casting von Elisabeth Sladen als Sarah Jane Smith der Second Wave Feminismus in der Serie nieder. Sie begleitete als investigative Journalistin den dritten und vierten Doctor. 30 Jahre später trat sie ein weiters Mal an der Seite des zehnten Doctors in Erscheinung und bekam schließlich mit The Sarah Jane Adventures eine eigene, an Kinder gerichtete, Spin-off Serie, die es auf 5 Staffeln brachte und erst eingestellt wurde, als Sladen 2011 starb. Über ihren Tod wurde nicht nur in den BBC Nachrichten, sondern auf den Titelseiten vieler britischen Tageszeitungen berichtet.

Im Unterschied zu anderen Science-Fiction Formaten kam es bei Doctor Who nie zu einem Reboot. Zwar machte die Serie von 1989 bis 2005 Zwangspause, „New Who“ bildet aber eine Kontinuität zur alten Serie und erzählt die Geschichte mit höheren Produktionsbudgets und den ungleich größeren technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts weiter. Die Queer as Folk Produzent_innen Russell T Davies und Julie Gardner waren für die ersten vier Staffeln der neuen Serie verantwortlich. Doctor Who hatte auch in der Neuauflage viel Mut zu Trash- und Camp-Ästhetik. Zugleich war die Serie gesellschaftspolitisch in vielerlei Hinsicht progressiv aufgeladen. Rose Tyler (Billie Piper), der Companion des neunten und zehnten Doctors, lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer Londoner Sozialwohnung. Mit Martha Jones (Freema Agyeman) und Mickey Smith (Noel Clarke) wurden die ersten Schwarzen Companions gecastet und mit Captain Jack Harkness (John Borrowman) ein bisexueller, unsterblicher Held etabliert, der zudem Hauptfigur der Spin-off Serie Torchwood ist. Der neunte Doctor kämpft in der Zukunft gegen einen omnipotenten Medienkonzern und in der Gegenwart gegen Aliens, die sich als dicke Politiker_innen getarnt der Regierungsgewalt bemächtigen wollen. Der zehnte Doctor wird zeitweise zum Ökologie-Aktivisten und unterstützt einen Sklav_innenaufstand. Die jüngste Staffel, die an einer englischen Universität spielt, wurde über weite Strecken aus Sicht einer jungen, schwarzen, lesbischen Frau erzählt, die dort als Pommes-Verkäuferin arbeitet, und thematisiert u.a. Whitewashing als rassistische Praxis von Geschichtswissenschaften und Medien.

Fankultur

Der zu erwartende und insbesondere von männlichen Fans getragene antifeministische Shitstorm blieb nach dem Casting Whittakers nicht aus. Er bekam es aber mit der ungewöhnlich entschlossenen Gegenwehr vieler Doctor Who Fans zu tun, die die abstrusen Sorgen der sexistischen Trolle systematisch ins Lächerliche zogen. Auch eher apolitische Doctor Who Vlogger_innen sprachen sich mit großer Mehrheit für die weibliche Besetzung aus.

Doctor Who hatte bereits in den 1980ern eine nicht zu vernachlässigende queere Fanbase. Dass eine der Hauptfiguren von Queer as Folk großer Doctor Who Fan ist, kann als Reminiszenz darauf gedeutet werden. Mit der Fortsetzung der Serie ab 2005 intensivierte sich auch die Wechselwirkung von LGBTIQ-Fans und Serie.

Anne Marie studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien und sah bereits in ihrer Kindheit vereinzelt Doctor Who Folgen, als die Serie auszugsweise im deutschen Fernsehen zu sehen war. „Doctor Who kam glaub ich immer Sonntag morgens auf VOX“, erinnert sich Anne Marie. „Ich bin aufgestanden, wenn meine Eltern spazieren waren und hab mich verbotenerweise vor den Fernseher gesetzt – damals habe ich mir oft gewünscht, dass mein Vater wie der Doctor wäre“, so Anne Marie weiter. Die meisten Fans im deutschsprachigen Raum kamen nach 2005 via Internet mit dem Phänomen in Berührung. „Ich bin erst durch die neue Serie auf Doctor Who gestoßen und da auch erst, als David Tennant der Doctor wurde“, erzählt Sarah, die an der Akademie der bildenden Künste studiert. Anne Marie hingegen hat erst 2010 begonnen, die neue Serie zu schauen – beim wöchentlichen Ritual ist es geblieben, allerdings unter anderen Vorzeichen: „Ich habe mit der Tradition weitergemacht, sie sonntags zu sehen – jetzt allerdings mittags und restfett“. Doctor Who bespielt viele Genres und ist nicht selten Romanze, Melodram, Satire und Slapstickkomödie zugleich. „Interessanterweise ist es für mich mehr eine Abenteuer-Detektiv Geschichte mit guter Dramaturgie und interessanten Charakteren“, meint Sarah.

Christliche Motive

Obwohl Doctor Who auf einer inhaltlichen Ebene oft – aber keineswegs immer – gesellschaftspolitisch progressiv ist, wird die emotionale Wirkung auf die Rezipient_innen nicht zuletzt durch die formale Inkorporierung zentraler christlicher Motive entfaltet, die in der Serie beständig wiederholt und variiert werden. Der Figur des Doctors ist etwas Messias-artiges eingeschrieben. Sie opfert sich, um die Welt zu retten und muss dabei teils extremes Leid über sich ergehen lassen. Findet sie dabei den Tod, kommt es zur Wiederauferstehung. Nicht zufällig spielte Christopher Ecclestone bevor er als neunter Doctor gecasted wurde in der Miniserie The Second Coming den zurückkehrenden Christus. Auch nicht zufällig stammt das Drehbuch dazu ebenfalls von Russell T Davies. Die Figur des 9. Doctors ist dem in Manchester predigenden Working Class Jesus in vielerlei Hinsicht ähnlich.

 

Nun sind Motive der Erlösung oder der Überwindung des Todes nicht per se problematisch. Gerade der jüdische Messianismus inspirierte auch viele Kommunist_innen, da er die Chance bietet auf gesellschaftlicher Ebene großes emanzipatorisches Potential zu entfalten. Im Christ_innentum kommt allerdings das Motiv des Selbstopfers, des für ein höheres Ziel Sterbens, hinzu. Dieses Motiv zieht sich in säkularisierten Varianten wie kaum ein anderes durch die Kulturindustrie.

Die Tragik der Menschheit besteht nicht zuletzt darin, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Individuen tatsächlich in Situationen bringen, in denen sie sich opfern müssen, um andere zu retten – ein Motiv das etwa im letzten Harry Potter Band zentral ist und auch bei Doctor Who wiederholt in Erscheinung tritt. Die Ästhetisierung dieses Selbstopfers tendiert jedoch meist dazu, selbigem einen tieferen Sinn zuzusprechen, anstatt seine Notwendigkeit zu beklagen. Faschismus und Nationalsozialismus betrieben einen regelrechten Opferkult, der sich in Denkmalinschriften wie „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen“ niederschlug. Zwar opfern sich Menschen in Doctor Who nicht für verurteilenswerte Zwecke wie die deutsche Nation (und auch nicht für die britische), in der 8. Staffel entwickelt sich jedoch eine Dynamik, in der das Selbstopfer militärisch gedacht und in Verbindung mit viel soldatischem Habitus dargestellt wird. Diese Staffel fällt auch dadurch negativ auf, dass Schmerz und Angst mehrfach als gut und wichtig statt als abschaffungswürdig benannt werden.

Viel geschrieben wurde über die Musik zu Doctor Who, die von Murray Gold komponiert und vom BBC National Orchestra of Wales vertont wird. Ähnlich wie das wiederkehrende Motiv des Selbstopfers ist die Musik opulent und hochgradig emotionalisierend, bei genauerer Betrachtung aber auch recht holzschnittartig. Sowohl einzelne Personen als auch Planeten und spezifische Ereignisse sind mit jeweils eigenen musikalischen Motiven verbunden. Kenner_innen der Musik wird durch den Einsatz oder der Variation eines bestimmten Motivs oft schon frühzeitig verraten, worauf man sich gegen Ende der Folge gefasst machen kann.

Engel der Geschichte

In starkem Kontrast zum beschriebenen Opferkult steht zum Beispiel die Doppelfolge „The Empty Child“/“The Doctor Dances“, in der sich Rose Tyler und der neunte Doctor im London der 1940er Jahre während des Bombardements durch die Nazis befinden. Selbstironisch auf die Handlung der Folge und wohl auch auf Doctor Who insgesamt verweisend, meint der Doctor schon zu Beginn, dass er sich nicht sicher sei, ob man es hier mit „marxism in action“ oder einem „West End Musical“ zu tun habe. Im weiteren Verlauf hören wir einen mitreißenden antifaschistischen Monolog Rose Tylers und am Ende der Folge sehen wir den freudestrahlenden Doctor „Everybody lives Rose, just this once!“ ausrufen.

Den größten inhaltlichen Unterschied zwischen alter und neuer Serie bildet die Zerstörung des Planeten Gallifrey, auf dem der Doctor seine Kindheit verbrachte und der die an eine antike Hochkultur erinnernde Gesellschaft der Time Lords beherbergte. Diese Ereignisse fanden im Rahmen des „Time War“ statt, der in der Serie nicht zu sehen ist und sich dem Publikum nur fragmentarisch erschließt. Die Vernichtung Gallifreys und der Time Lords lassen den Doctor als letzten seiner Art zurück. Insbesondere bei Doctor 9 und 10 resultiert daraus eine massive Überlebensschuld. „Ecclestones Doctor hatte klar PTSD und war ein gebrochener Mann, der versucht, klar zu kommen, sich in Rose verliebt und mit ihr sein Trauma überwindet“, meint Anne Marie.

Der Philosoph Walter Benjamin beschrieb in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ ein Bild von Paul Klee, in dem er meinte, den Engel der Geschichte zu erkennen. Für den Angelus Novus ist die Vergangenheit ein einziger großer Trümmerhaufen. Er möchte die Trümmer zusammenfügen, wird jedoch von einem beständigen Sturm, der für den Fortschritt steht, von den sich immer weiter auftürmenden Trümmern fortgeblasen. Der Wind weht den Engel in eine Zukunft, die er nicht sehen kann, weil er ihr den Rücken zuwendet. Einige dieser Motive lassen sich in der 2013 anlässlich des 50. Geburtstags von Doctor Who aufwendig produzierten, spielfilmlangen Folge „The Day of the Doctor“ wiederfinden. Dem Doctor gelingt darin etwas, woran der Engel der Geschichte gescheitert war. Was genau, wäre aber zu viel verraten...

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien

Beissreflexkritik

  • 20.06.2017, 22:08
Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt

Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt und zum Teil einige Kollateralschäden in unterschiedlichen Szenen hinterlassen. Mit dem Beißreflexe-Buch, das angetreten ist, all diese Dinge grundlegend zu kritisieren, dürfte es sich nun ähnlich verhalten. Nur selten schafft es ein Buchprojekt, dessen primäre Zielgruppen queere und linksradikale Szenen sind, binnen drei Monaten zur dritten Auflage. Die Textformen reichen von wissenschaftlich- essayistisch über Interviews bis zum Zweitabdruck journalistischer Artikel, wobei die einzelnen Beiträge qualitativ leider stark auseinanderfallen. So stehen neben gut recherchierten Texten, klugen Gedanken und dringend notwendiger Reflexion nicht selten inhaltliche Leerstellen, fehlende Quellenangaben und Schilderungen zu Vorfällen, die in ihrem Betroffenheitsduktus – den der Band ja eigentlich kritisieren möchte – auch nicht immer ganz glaubwürdig sind. Spätestens wenn in einem kurzen Text Adorno und Hegel inklusive Seitenzahl zitiert werden, eine Butler-Paraphrase, die man gerne noch mal im Original nachlesen würde, jedoch ohne Quellenangabe auskommt, muss man dem Buch gewisse herausgeberische Schwächen attestieren.

Der Umstand, dass die Texte – wie eine der wenigen Autorinnen es formuliert – von „größtenteils Typen, wenngleich größtenteils schwule“ geschrieben wurden, rettet das Projekt zu einem gewissen Grad. Käme die Kritik von heterosexuellen Männern, müsste man viel des Geschriebenen als recht klassische Anti-PC-Paranoia abtun. Die Angst, vom Plenum oder anderen linken Strukturen ausgeschlossen zu werden, käme in diesem Fall der vor mehr Abendfreizeit mit weniger nervigen GenossInnen gleich und wäre als solche nur schwer ernstzunehmen. Für Menschen, die der nach wie vor sehr realen homophoben Gewaltdrohung tagtäglich ausgesetzt sind, ist die Situation aber eine andere. Ausschlüsse aus Szeneräumen und autoritäre Strukturen in ebendiesen können dann tatsächlich ein existenzielles Problem darstellen, weil die Alternativen oftmals rar, die aktivistischen Szenen klein und die Verschränkung von Privatem, Politischem und Beruflichem tendenziell stärker gegeben ist als in anderen linken Kontexten.

Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten.
Querverlag, 269 Seiten, 16,90 Euro.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Coming-of-Age ohne Coming-out

  • 26.04.2017, 15:02

Eine Schule im südlichen Niederösterreich, in der Homophobie so gut wie nicht existent ist und lesbische Sexualität offen gelebt werden kann, ist der primäre Handlungsort des Films Siebzehn von Monja Art. Die Regisseurin und Drehbuchautorin wollte explizit keinen „Coming-out“-Film abliefern. Vielmehr ging es ihr darum, einen Film über Sehnsucht jenseits geschlechtsspezifischen Begehrens zu machen.

Damit ist auch bereits die Fragestellung für diese Rezension vorformuliert: Soll die Kulturindustrie eine bessere Welt zeigen oder versuchen, die traurige Realität so gut es geht einzufangen? Siebzehn entscheidet sich für ersteres, wobei zumindest in der visualisierten Gedankenwelt von Hauptfigur Paula (Elisabeth Wabitsch) die Existenz homophober Bedrohungsszenarien aufblitzt. Ohne diese kurze Sequenz, in der sie befürchtet, von den MitschülerInnen wegen eines gleichgeschlechtlichen Kusses gemobbt zu werden, müsste man dem Film wohl tatsächlich die Verharmlosung der herrschenden Verhältnisse vorwerfen. So aber schleicht sich über die Tagtraumsequenzen die Realität in den Film, während die sonstige Spielhandlung eher einem Traum gleichkommt. Ein Traum, der in den schönsten Bildern gezeichnet wird und an Emotionen andockt, die nicht nur Jugendlichen, sondern allen RezipientInnen nachvollziehbar sein dürften: Sehnsucht, Verliebtheit, Enttäuschung, Zurückweisung und Eifersucht treiben die Handlung voran.

Die Erzählstrategie jenseits des „Comingout“-Films, für die sich Monja Art entschieden hat, ist dabei durchaus legitim und lässt hoffen, dass der Film seine Wirkung beim Zielpublikum nicht verfehlt. Siebzehn würde auch als TV-Serie gut funktionieren und nicht nur über Paula sondern auch über die vielen exzellent gezeichneten Nebenfiguren möchte man eigentlich noch viel mehr erfahren.

Siebzehn (Ö 2017) ist ab 28. April im Kino.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Zwei mal Jugoslawien

  • 04.04.2017, 20:19
„Beyond Boundaries – Brezmejno“ bewegt sich in einer ovalen Schleife um den slowenischen Sprachraum, während „Unten“ linear zwischen Linz und dem vormals serbischen Teil Kroatiens pendelt.

„Beyond Boundaries – Brezmejno“ bewegt sich in einer ovalen Schleife um den slowenischen Sprachraum, während „Unten“ linear zwischen Linz und dem vormals serbischen Teil Kroatiens pendelt.

Beide Filme verhandeln das politische und individuelle Erbe Jugoslawiens, bedienen sich aber gegensätzlicher dokumentarischer Erzählstrategien. „Beyond Boundaries – Brezmejno“ besucht im Modus der Rundreise jeweils unterschiedliche ProtagonistInnen, die zu Geschichte und gegenwärtigem Leben an unterschiedlichen Orten dies- und jenseits der slowenischen Staatsgrenze Auskunft geben: In Südkärnten wird eine BusfahrerIn porträtiert, die vom Kampf gegen patriarchale Zuschreibungen in ihrem Arbeitsalltag erzählt. Anderswo feiern Tito-Nostaligiker ein Fest in einem mit sozialistischen Devotionalien reich geschmückten Raum. Am Ufer der Mur philosophiert ein Landwirt mit Hochschulstudium über die Bedeutung des Grenzfluss als trennenden und verbindenden Faktor. In der durch die Grenze mit Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs zweigeteilten Stadt Goricia-Nova Goricia wird eine Filmemacherin am Schnitttisch besucht und so auf sehr reflektierte Art fremdes Filmmaterial, klar als solches geframet, in den Film einbezogen.

[[{"fid":"2420","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Eni Peseckas","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Eni Peseckas"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Eni Peseckas","title":"Foto: Eni Peseckas","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

„Unten“ wiederum stellt den Dokumentarfilmer selbst in den Mittelpunkt. Der Film beginnt in einem verwaisten Schulgebäude. Es wäre das von Filmemacher Djordje Čenić gewesen, wären seine Eltern nicht nach Linz gezogen, wo er als GastarbeiterInnenkind – zunächst in sehr ärmlichen Verhältnissen – aufwuchs. Mit den Jahren folgt ein allmählicher, durch harte Arbeit beider Elternteile ermöglichter, sozialer Aufstieg. Schließlich kann die Familie nach mehreren beengten Substandard-Wohnungen, vermittelt durch einen sozialdemokratischen Gemeinderat, eine Gemeindebauwohnung beziehen. In Österreich im sozialistisch-jugoslawischen Kulturverein politisch sozialisiert, bricht sich in den frühen 1990ern beim Regisseur – wie auch bei vielen anderen jungen Männern seiner Generation – eine politische Persönlichkeitsspaltung die Bahn. Oben (=Linz) nach wie vor links, mutiert er unten (=Kroatien) zum serbischen Nationalisten. Mittels biographischer Selbstreflexion zeigt der Film eindrucksvoll, wie schnell aus NachbarInnen, für die Kategorien wie Religion und vermeintliche nationale Zugehörigkeit weitgehend irrelevant waren, FeindInnen werden konnten. Doch der Film zeigt auch – und das ist seine Stärke –, dass alles nicht so kommen hätte müssen.

 

Beyond Boundaries – Brezmenjno, DE/SI/AT 2016.

Unten, AT 2016.

 

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

„Scheiß Akademikerkinder“

  • 14.02.2017, 20:25
Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

„Die Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) distanziert sich vom ‚Scheiß-Akademikerkinder‘-Ruf gegen die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS) bei einer Medienaktion am Dienstag Vormittag“, war am Dienstag Nachmittag in einer APA-Aussendung zu lesen. Als wäre diese Distanzierung alleine nicht schon abstrus genug, fühlte man sich auch noch bemüßigt, die mutmaßliche Urheberin politisch zu verorten. „Das Zitat sei von einer Vertreterin der HochschülerInnenschaft der Uni Wien, die gemeinsam mit der Bundes-ÖH an der Aktion teilnahm, gekommen“, paraphrasiert die APA die Aussage der nicht namentlich genannten Bundes-ÖH-Funktionärin.

ÖVP-Aktionsgemeinschaft und JUNOS veranstalteten parallel zur von ÖH Bundesvertretung und ÖH Uni Wien organisierten Medienaktion gegen Zugangsbeschränkungen ebenfalls kleine Kundgebungen. Erstere verteilten Flyer für Zugangsbeschränkungen, zweitere inszenierten sogar eine Party, um ebendiese abzufeiern. „Juhu, keine überfüllten Hörsäle mehr!“, war auf einem Schild der JUNOS zu lesen. Was zusätzliche strukturelle Hürden für das von Liberalen zumindest zum Schein hochgehaltene Ideal der Chancengleichheit bedeuten, dürfte beim Parteinachwuchs der NEOS nicht bedacht worden sein. So feierte man defacto den Umstand, dass die Hörsäle – geht es nach den Plänen der Regierung – nicht mehr mit rauszuprüfenden ProletInnen vollgestopft sind. Man trug Partyhüte und warf Konfetti, was eine „Vertreterin der ÖH Uni Wien“ eben mit besagter „Scheiß Akademikerkinder“-Anmerkung quittierte.

2007 erschien im Mandelbaumverlag ein Sammelband, dessen Beiträge sich wissenschaftlich mit sozialer Ungleichheit im Bildungssystem auseinandersetzen. Das Buch trägt den Titel „Keine Chance für Lisa Simpson?“ und will damit auf folgenden Umstand hinweisen: Selbst eine überdurchschnittlich intelligente junge Frau, hat in Österreich, aus einer bildungsfernen ArbeiterInnenfamilie kommend, viel schlechtere Chancen ein Hochschulstudium abzuschließen als Kinder von AkademikerInnen. Die Einführung von immer mehr strukturellen Hürden spitzen dieses Missverhältnis kontinuierlich zu.

In den letzten zehn Jahren wurden aus den Studieneingangslehrveranstaltungen vielerorts STEOPs, an deren Ende Knock-Out-Prüfungen stehen. Kommissionelle Prüfungen, in deren Folge Menschen aus ihrer Studienrichtung ausgeschlossen und zwangsweise abgemeldet werden, haben stark zugenommen. Das Ende der Zulassungsfristen liegt heute im Unterschied zu früher fast ein Monat vor dem eigentlichen Semesterbeginn, was dazu führt, dass Menschen, die mit Hochschulstrukturen schlecht vertraut sind, oftmals die Deadlines verpassen und erst gar nicht mit dem gewünschten Studium beginnen können. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, werden nun für immer mehr Studien Aufnahmetests eingeführt. Prüfungen, für die von privaten Instituten mittlerweile hunderte Euro teure Vorbereitungskurse angeboten werden, die sich mehrheitlich wohl auch nur ein ganz bestimmtes Klientel leisten wird.

Menschen, die nicht als scheiß AkademikerInnenkinder gelten möchten, sollten diese Umstände in der Artikulation Ihrer politischen Forderungen zumindest reflektieren. Denn auch wenn man seine ererbten Privilegien nicht einfach so ablegen kann, geht damit - gerade deshalb - gesellschaftliche Verantwortung einher. Im konkreten Fall müsste dies heißen, für offene Hochschulen zu kämpfen, die allen Menschen – unabhängig vom Einkommen und formalem Bildungsstand der Eltern – ein erfolgreiches Studium ermöglichen.

Selbst in linken ÖH-Strukturen sind AktivistInnen, deren Eltern keine Matura machen konnten, eine kleine Minderheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ÖH-Arbeit zumeist ehrenamtlich ist und maximal durch geringe Aufwandsentschädigungen abgegolten wird. Diese Prekarität verbunden mit der oftmals sehr hohen Arbeitsbelastung muss man sich erstmal leisten können. Mittel- und Langfristig kann sich ÖH-Arbeit - ähnlich einem erfolgreichem Hochschulstudium - sehr positiv auf den eigenen Lebenslauf auswirken, wodurch selbst linke ÖH-Strukturen die Reproduktion gesellschaftlicher Eliten eher befördern als ihr entgegenzuarbeiten. Auch deshalb ist die Distanzierung der Bundes-ÖH von der „Scheiß Akademikerkinder“ rufenden Aktivistin unangemessen und falsch.

 

Florian Wagner ist als Sohn einer gelernten Einzelhandelskauffrau aufgewachsen. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, wo er sich oft über scheiß AkademikerInnenkinder ärgern musste. Als progress-Redakteur ist er seit zwei Jahren Teil der ÖH-Bundesvertretung und ärgert sich noch immer.

Venceremos! Kubanische Wochenschauen – frisch restauriert

  • 19.11.2016, 21:27
Die Viennale zeigte im Rahmen eines mehrteiligen Spezialprogramms kubanische Wochenschauen von 1960-1970.

Die Viennale zeigte im Rahmen eines mehrteiligen Spezialprogramms kubanische Wochenschauen von 1960-1970.

Die von Maria Giovanna Vagenas kuratierte Spezialprogramm „Das rebellische Bild“ machte eine Auswahl kubanischer „Noticieros“, die in den Jahren nach der Revolution in kubanischen Kinos vor dem Hauptfilm zu sehen waren, erstmals einem internationalen Publikum zugänglich. Es handelt sich dabei um filmische Dokumente von großer zeithistorischer Relevanz, die erst kürzlich aufwendig restauriert und damit dem Verschwinden aus dem audiovisuellen Gedächtnis entrissen wurden.

Nach der Flucht des von CIA und US-amerikanischen Mafiosi unterstützten Diktators Fulgencio Batista 1959 war die Gründung des Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos (ICAIC) eines der ersten großen kulturpolitischen Projekte der neuen sozialistischen Regierung. Ab 1960 wurden dann die „Noticieros“ produziert, die sich aus jeweils mehreren Beiträgen unterschiedlicher Länge zusammensetzen und mit dem Zeitgeschehen in Kuba und darüber hinaus befassen.

[[{"fid":"2359","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Kontinuierlich thematisiert werden etwa der Vietnamkrieg, Rassismus in den USA und die Bürgerrechtsbewegung. Auch die Entstehung des Che Guevara Mythos wird anhand der Wochenschauen nachverfolgbar. Freilich sind die Noticieros nicht gerade arm an repräsentativen Skurrilitäten: Fidel Castro bei der Entenjagd mit Nikita Chruschtschow oder bei der Zuckerrohrernte gemeinsam mit den vietnamesischen GenossInnen. Der zum Gegenbesuch gesandte kubanische Repräsentant sitzt wiederum inm Socken auf dem Boden in Ho Chi Mhins Haus, während letzterer gemütlich in einem Couchsessel weilt und wohlwollend auf den kubanischen Genossen herabblickt.

Die Noticieros sind sowohl in zeitgeschichtlicher Hinsicht als auch was ihre Formsprache und den Einsatz von Musik betrifft sehenswert. Für damalige Verhältnisse schnell geschnitten und mit Grafiken, Animationen und ungewöhnlichen Kameraperspektiven arbeitend, sind sie mit heutigen Sehgewohnheiten überraschend kompatibel. Für das kubanische Publikum der 1960er Jahre waren die Noticieros eine der wenigen Gelegenheiten, englischsprachige Popmusik zu hören, mit der insbesondere Beiträge über progressive politische Bewegungen in den USA untermalt wurden. Im kubanischen Radio wurde damals keine englischsprachige Musik gespielt, was dazu führte, dass der Soundtrack zum westlichen 1968 den KubanerInnen nicht durch Radio und Fernsehen sondern über den Umweg der Kinowochenschauen zugänglich gemacht wurde.

[[{"fid":"2360","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Erst 1990 endete die Produktion „Noticieros“ angesichts der Krise der realsozialistischen Staaten – nicht zuletzt der Sowjetunion –, die das seit Jahrzehnten mit scharfen US-Sanktionen konfrontierte Kuba ökonomisch besonders hart traf. Fast 20 Jahre später wurden die Noticieros als Nationalerbe Kubas in die Liste des UNESCO Weltdokumentenerbe eingetragen. Diese 2009 getroffene Entscheidung trug sicher dazu bei, dass sich das französische Institut National de l'audiovisuel des sich bereits in sehr schlechtem Zustand befindlichen Archivmaterials annahm und die Bestände in Kooperation mit dem Kubanischen Filminstitut digital zu restaurieren begann. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen – zumindest die Jahrgänge 1960 bis 1970 konnten aber auf der diesjährigen Viennale dank der hochwertigen Restaurierung in High Definition gezeigt werden.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Metallica verursacht Redaktionskrise

  • 25.10.2016, 14:34
Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Würden die ProtagonistInnen den Namen der Stadt nicht erwähnen und wären die Straßen nicht so charakteristisch steil, könnte auch jede andere amerikanische Großstadt Ort der Handlung sein. Auf klischeebehaftete Establishing Shots wird verzichtet und gesprochen wird fast ausschließlich Farsi.

Im Zentrum der Handlung steht der zumeist als Mister Royani adressierte Chefredakteur des kleinen Senders. Der Film begleitet ihn durch jenen turbulenten Tag, als Metallica sich ankündigten, um auf Radio Pars mit der afghanischen Rockband „Kabul Dreams“ zu jammen. Die prominenten Gäste, die sehr lange auf sich warten lassen, stellen durch ihren großen Namen und die damit verbundene Attraktivität für WerbekundInnen den Sendebetrieb auf den Kopf.

[[{"fid":"2357","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Nebenbei wird Mister Royani in einer Interview-Sequenz nicht nur als Radiochef, sondern auch als reichlich einsamer Exilliterat gezeichnet. Sein Englisch reicht aus, um die Fragen des Interviewers zu verstehen – nicht jedoch, um sie seinen eigenen Ansprüchen gerecht werdend zu beantworten. Der Übersetzer scheint mit der Komplexität der Antworten überfordert zu sein. Als Mister Royani aus purer Verzweiflung dann doch versucht, auf englisch zu antworten, bringt er nur gestammelte Wortfetzen hervor, die mindestens genauso platt klingen wie die verunglückten Übersetzungsversuche. Die Szene ist zugleich hochkomisch und tieftraurig.

Nachdem Mister Royani an jenem schicksalshaften Tag aus kommerziellen Gründen bereits einen Experten für die Körperenthaarung iranischer Frauen interviewen musste, kündigt sich ein weiterer skurril anmutender Gast an. Die amtierende „Miss Iran USA“ scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, um im Schatten von Metallica etwas Fame abzugreifen.

Im Live-Gespräch mit Mister Royani stellt sie sich nicht nur als intelligent und wortgewandt heraus, sondern auch als Poetin, die gerne eines ihrer Gedichte vorgetragen hätte. Gefangen in seiner eigenen Frustration verweigert ihr Mister Royani diesen Wunsch und bricht das Interview ab.

„Radio Dreams“ ist ein Film, der sich nicht recht entscheiden mag, ob er Drama, Komödie oder skurrile Posse sein möchte. Er zeichnet seine ProtagonistInnen als Witzfiguren, schafft es aber dennoch Empathie mit ihnen zu wecken. Genau das macht den Film kurzweilig und sehenswert – auch für Menschen, die mit Metallica nicht viel anfangen können.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Publikumsgespräche bei Filmfestivals – Ein Leitfaden

  • 20.10.2016, 17:26
Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Die Filmemacher_innen

Ahnungslose. Der Film war gut oder sogar sehr gut – das Publikumsgespräch ist es nicht. Angesichts der Aussagen des_der Filmemacher_in drängt sich die Frage auf, wie diese holzschnittartige Person ein derart vielschichtiges Kunstwerk erschaffen konnte. Es sind die Momente, wo die gesellschaftstheoretisch bewanderte Betrachter_in daran erinnert wird, dass Kunst eben doch mehr ist, als die Person des_der Künstler_in. Letztere agiert als Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse, kann dumm wie Stroh sein und dennoch einen sehr guten Film abliefern. Andere erinnern derartige Auftritte wiederum daran, dass Filme im Normalfall auf die Urheber_innenschaft von mehr als einer Einzelperson zurückgehen und die Wichtigkeit des_der Regisseur_in in Europa oftmals überschätzt wird. Auch das ist eine plausible Erklärung.

Betrunkene. Der Film ist solide, der_die Regisseur_in im Publikumsgespräch allerdings knapp vor der Alkoholvergiftung. Ein oder mehrere Publikumsgespräche pro Tag mit obendrein nicht allzu angenehmen Fragensteller_innen (siehe unten) zu führen, ist kein Leichtes. Wenn man ohnehin schon ein Problem damit hat, bis – sagen wir – 15:30 Uhr nüchtern zu bleiben, fällt einem das unter den verschärften Verwertungsbedingungen eines Filmfestivals keinesfalls leichter. So hat der_die betrunkene und mitunter aggressive Regiesseur_in doch etwas sympathisches – weil wir durch ihr Verhalten etwas über die Unaushaltbarkeit einer Gesellschaft lernen, in der wir alle zum Funktionieren und die bessergestellten auch noch zu funktionierendem Selbstmarketing gezwungen sind.

The Natural Born Österreicher_in. Sie sind der Meinung, ihr Österreicher_innentum alleine mache ihre Filme hochwertig und förderungswürdig. Ob sie sich nun auf einem Filmfestival wie der Diagonale, das sich österreichischen Filmen verschrieben hat, oder einem internationalen Filmfestival wie der Viennale befinden, scheint dabei zweitrangig zu sein. „Österreich zuerst“ ist die Devise. Allerdings nicht, wenn es um die Programmierung dieser Austroschinken geht, die dann doch ausnahmslos in den Hauptabend und keinesfalls in das Nachmittagsprogramm fallen darf. (The Natural Born Österreicher_in schlechthin ist Ulrich Seidl, der unerklärlicherweise nicht beim Reality-TV, sondern im Programmkino gelandet ist. Wahrscheinlich, weil ATV einfach zu schlecht zahlt.)

The Exceptional Competent Person. Sie ist leider die absolute Ausnahmeerscheinung auf Filmfestivals. Ein_e Regisseur_in, die nicht nur einen guten Film fabriziert hat, sondern auch in der Lage ist, mit dem Publikum kompetent und nachvollziehbar über das eigene Werk zu sprechen. Zumindest letzteres sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber – siehe oben – leider überhaupt nicht.

Das Publikum

The Material Guy_Girl. Nach einem interessanten oder kontroversen Film, der viel Stoff für ein spannendes Publikumsgespräch böte, ist die Zeit oft allzu kurz. Die Moderation lässt nur wenige Fragen zu und alles nähert sich schneller als gewollt seinem Ende. Die vorletzte oder letzte verfügbare Frage schnappt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Material Guy (oder weitaus seltener: Das Material Girl). Er_sie stellt fragen wie: „Warum habt ihr das mit Video gedreht?“ / „Ist der Super-8 retrotrend nicht schon lange over?“ / „Ist die Digitalisierung ein Problem?“ Der Rest des Saales langweilt sich zu Tode, während Material Guy_Girl sich im siebten Himmel des Expert_innentums wähnt.

Die Lobenden. Du sitzt in einem Film und denkst dir, dass die Zeit anderweitig möglicherweise besser verbracht hätte werden können. Genau genommen bist du fassungslos, dass ein qualitativ und inhaltlich derart fragwürdiges Werk, 1.) staatlich gefördert wurde und 2.) nach seinem offensichtlichen Scheitern öffentlich – auf einem abermals staatlich geförderten Filmfestival – vorgeführt wird. Das Publikumsgespräch beginnt mit peinlichem Schweigen, bis sich dann doch jemand zu Wort meldet. Die Person lobt den Film in höchsten Tönen, dankt dem_der Regisseur_in sowie „dem ausgezeichneten Ensemble“. Erschreckenderweise ist sie nur in 50 Prozent der Fälle mit einer der beteiligten Personen verwandt, bekannt oder verschwägert.

Professionelle Kritiker_innen. Sie melden sich im Publikumsgespräch so gut wie nie zu Wort, weil sie den Film mitunter nicht ganz gesehen haben und wegen ständig nahender Deadlines keine Zeit haben, länger als unbedingt nötig anwesend zu sein. In Zeiten verschärfter kapitalistischer Zurichtung belassen es Journalist_innen gerne dabei, sich die ausführlichen Pressematerialien abzuholen und daraus Textmontagen zu fertigen, die mit dem Begriff „Kritik“ eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Aber zumindest stellen sie keine blöden Fragen (wenn sie nicht gerade ein Publikumsgespräch moderieren).

Filmwissenschaftler_innen. Schauen sich gerne Spielfilme an, die keine Handlung haben und glauben, selbige seien deshalb irgendwie besser oder kulturell höherstehend. Hat ein Film eine Handlung und man wagt es, den_die kompetente Kolleg_in um seine_ihre Einschätzung zu bitten, ist die Antwort meist die selbe: „Ach, wieder so ein narrativer Film.“ Sie schalten sich bei Publikumsgesprächen gerne in die Diskussion ein, moderieren sie zudem sehr häufig und lieben Name-, Film- und Genre-Dropping. Da niemand all diese Personen, Filme oder Genres tatsächlich kennen kann, werden ihre Einschätzungen kaum hinterfragt. Man will sich (und die Kolleg_innen) schließlich nicht blamieren.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Die Viennale beginnt am 20. Oktober und endet am 2. November 2016.

„Solidarität zeigen mit Dealer_innen“

  • 22.06.2016, 13:35
Gras für die einen – Abschiebung für die anderen? Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

Gras für die einen – Abschiebung für die anderen?

Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

progress: Am 1. Mai 2016 seid ihr mit einem Flugblatt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen. An wen richtet sich eure Initiative?
Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen:
Wir wollen uns solidarisch zeigen mit Dealer_innen und all jenen, die von der Polizei täglich und nicht nur entlang des Gürtels schikaniert, kontrolliert oder festgenommen werden. Und wir wollen unterstützende Interventionsformen entwickeln sowie kompakte Rechtshilfeinformationen zur Verfügung stellen. Zeug_innen von Polizeikontrollen und Racist Profiling sagen wir: Geht nicht einfach vorbei, sondern schaut hin, bleibt stehen, mischt euch ein, fragt die betroffenen Personen, ob sie Unterstützung brauchen. Eine weitere Gruppe, die wir ansprechen wollen, sind die Anrainer_ innen. Viele sind mit der massiven Polizeipräsenz in ihrem Grätzl überhaupt nicht einverstanden, auch nicht mit der willkürlichen Vertreibung unerwünschter Gruppen oder Jugendlicher. Auch jene, die mehr oder weniger aktiv Teil der stattfindenden Gentrifizierung sind, wollen wir ansprechen und in die Verantwortung nehmen. Schließlich wollen wir uns in den medialen und politischen Diskurs einmischen und sagen: Wir lassen uns die rassistischen Politiken und die Polizei auf unseren Straßen, die unter dem Deckmantel von Sicherheit und Sauberkeit daherkommen, nicht länger gefallen.

In eurem Flyer kritisiert ihr studentisch- bildungsbürgerliche Drogenkonsument_ innen dafür, zwar beim Gemüsekonsum, nicht aber bei Graseinkauf auf „Fair Trade“ zu achten.
Die Leute, die ihre Drogen entlang des Gürtels oder an anderen Orten Wiens kaufen, die wegen Vertreibung und Gentrifizierung ständig wechseln, denken oft nicht an die Arbeitsbedingungen ihrer Straßendealer_innen. Häufig sind das Asylwerber_innen oder Sans Papiers, denen der Zugang zu legaler Lohnarbeit verwehrt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleiben ihnen informalisierte und illegalisierte Tätigkeiten. Dealen ist eine der wenigen und zudem männlich* dominierten Jobmöglichkeiten, die bleiben. Die Bedingungen: niedrigster Lohn, anstrengende und stressige Arbeit und hohes Risiko. Dealer_innen ohne Papiere riskieren lange Gefängnisstrafen, Nachteile im Asylverfahren und ihre Abschiebung. Die im Juni in Kraft getretene Verschärfung des Suchtmittelgesetzes trifft die Straßendealer_innen, nicht die Konsument_innen. Dass Konsument_innen ihre Substanzen relativ bequem und sicher einkaufen und sich manche davon gleichzeitig über die Sichtbarkeit von Drogenbusiness und Drogennutzer_innen beschweren, ist absurd. Die Konsument_innen könnten ihre Privilegien dafür einsetzen, das Risiko, dem die Dealer_innen ausgesetzt sind, zu vermindern.

Wie schätzt ihr die Rolle der rotgrünen Stadtregierung in Wien ein?
Die Stadt Wien betreibt seit Jahren eine Säuberungspolitik, mit der unerwünschte Gruppen von zentralen öffentlichen Plätzen vertrieben werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Karlsplatz-Renovierung und die Vertreibung der dortigen Drogenszene. Das Problem von kurzsichtiger Nicht-vor-meiner-Nase-Politik ist, dass es lediglich zu einer Verschiebung in andere Stadtteile kommt – derzeit beispielsweise bei der Josefstädter Straße und der Gumpendorfer Straße. Statt strukturelle Probleme (wie mangelnde Arbeitsmöglichkeiten, ein Defizit an leistbarem Wohnraum, das überlastete Gesundheitssystem, etc.) zu bearbeiten, wird vielmehr eine Stimmung der Angst erzeugt. Diese wird dann noch dazu rassistisch codiert, was dazu führt, dass die marginalisiertesten Personen als Sündenböcke präsentiert werden.

Der grüne Bezirksvorsteher Neubaus, Thomas Blimlinger, richtete sich im Februar mit einem Brief an alle Haushalte, schürte die Ängste der „besorgten Bürger_innen” und stimmte ein in die aus mehreren Richtungen erfolgten Rufe nach mehr Polizei. Dass die massive Polizeipräsenz zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beiträgt, wagen wir aber zu bezweifeln.

Repressive Aktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche Drogendealer_innen werden medial zumeist als Erfolge präsentiert. Wo sind die Leerstellen der herrschenden Art der Berichterstattung?
Es existieren kaum Beiträge, die ohne die Narrative vom 16. Bezirk als Gefahrenzone, Geflüchteten als kriminellen und gefährlichen Drogendealern* und der Polizei als Akteurin in der Wiederherstellung von Sicherheit auskommen. Eine kritische Sichtweise auf rassistische Polizeikontrollen und auf die fast permanente Polizeipräsenz am Gürtel fehlt. Es ist erstaunlich, wie viele Medien – auch so genannte Qualitätsmedien – Meldungen der Polizei direkt, wörtlich und ohne weitere Recherche übernehmen. Manche Darstellungen durch Journalist_innen, die auf stereotype Weise von vor Ort berichten, können nur als Klassenkampf von oben gesehen werden. Medien sind einerseits aktiv an der Herstellung eines Klimas rassistischer Hetze beteiligt, andererseits an der Rechtfertigung von immer mehr Polizeipräsenz und -repression an immer mehr Orten Wiens.

Welche drogenpolitischen Perspektiven würdet ihr favorisieren? Was sich rund um den Gürtel abspielt, ist ein Beispiel dafür, wie Drogenpolitik, Stadtentwicklung und Asyl-/ Migrationspolitiken ineinandergreifen. Das müsste sich auch in den Entwicklungen widerspiegeln, die wir uns wünschen – bloß umgekehrt. Es reicht also nicht, Drogenhandel und -konsum zu entkriminalisieren, so aber vielleicht neue Ausschlüsse zu schaffen. Es braucht auch einen generellen Perspektivenwechsel. Hin zu: Wer hier ist, ist von hier. Und ein Bekenntnis, dass die Städte für alle sind, die in ihnen leben. Ohne Blaulicht, ohne Papiere.

Kontakt zur Initiative: wasgeht@riseup.net

Interview: Florian Wagner

Fiktion …

  • 22.06.2016, 12:32
Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Die uneindeutige Weiblichkeit von Snoop
Felicia „Snoop“ Pearson in der HBO-Serie The Wire wird von Felicia Pearson gespielt. Neben professionellen Schauspieler*innen wurden auch viele Lai_innen gecastet. Unter anderem Pearson, die selbst Drogendealerin war und mit 14 zu acht Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt wurde. Zu Beginn nur Statistin wird ihre Rolle in weiterer Folge ausgebaut. Sie dealt nicht direkt mit Drogen, sondern ist dafür zuständig, Leute aus dem Weg zu räumen, bringt deshalb im Laufe der Serie dutzende Menschen um und scheint dabei nie von irgendwelchen Skrupeln geplagt zu sein. Sie steht symbolisch und am treffendsten für den Typus „Men with Tits“, da sie durch nichts als Frau zu erkennen ist. Nur am Ende, bevor sie von einem früheren Verbündeten hingerichtet wird, fragt sie diesen noch: „Does my hair look good?“, woraufhin ihr entgegnet wird: „You look good Felicia.“ Es ist das erste und einzige Mal, dass sie von einem der ihren mit Felicia angesprochen wird. Erst im Tod wird sie zur Frau.
[Anm. d. A.: Ich danke Laura Söllner für ihre Mithilfe.] Anne Marie Faisst arbeitet als Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Uni Wien.

Das undynamische Duo
Ein Verkaufsort, eine Droge: Jay und Silent Bob vertreiben in zahlreichen Filmen des Regisseurs Kevin Smith Marihuana vor dem „Quick Stop“-Laden in Leonardo, New Jersey. Als Kinder haben sie sich dort kennengelernt und so ihren Platz im Leben gefunden. Sie sind die liebenswerte Version lästiger Dealer_innen an der Straßenecke: Zwar machen sie Radau und belästigen Passant_innen, doch erweisen sie sich immer wieder als Menschen mit gutem Herz. Wenn es die Handlung erfordert, begehen sie ihre kleinkriminellen Taten im nächstgelegenen Einkaufszentrum oder reisen auch quer durchs Land. Die beiden sind nicht eindimensional auf das Dealen reduziert. Ihr Erwerbsleben bleibt aber eine nicht näher ausgestaltete Facette wie auch ihre anderen Charakteristika – etwa der Kunstgriff, dass Silent Bob, wenn er denn mal redet, meist etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat. Die beiden sind also nicht mehr (und sollen auch nicht mehr sein) als Cartoon- Figuren, quasi die straffälligen Enkel der Marx Brothers.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Grace Saves Herself
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes erbt Grace Trevethyn einen Schuldenberg. Ihrem Haus, das sich unweit eines west-englischen Fischerdorfes befindet, droht die Zwangsversteigerung. Die Hauptfigur des Films Saving Grace ist eine begnadete Gärtnerin. Als ihr Hausangestellter Matthew sie darum bittet, seine angeschlagenen Hanfpflanzen aufzupeppeln und ihre Bemühungen binnen kürzester Zeit Wirkung zeigen, haben beide die rettende Idee: Grace und Matthew pflanzen hochpotentes Marihuana an. Bald wissen alle im Dorf – inklusive des örtlichen Polizisten – vom groß dimensionierten Drogenanbau. Aus Verständnis für die von finanziellen Nöten geplagte Grace unternehmen sie nichts. Größere Polizeirepression droht erst, als Grace und Matthew versuchen, ihre Ernte in London zu verkaufen. Auf dem Anwesen von Grace kommt es zum Showdown zwischen Polizei, einem hippieesken Kleindealer und dem Handlanger des potentiellen Großabnehmers. Dank eines Hanffeuers löst sich alles im kollektiven Rausch auf. Die Verarbeitung des Erlebten in Form eines Bestseller- Romans wirft schlussendlich das nötige Kleingeld für Grace ab.
Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Ein Schneemann in Kolumbien
Robin Hood, Familienmensch und Serienmörder: Die Serie Narcos nimmt sich dem Leben und Wirken Pablo Escobars an. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln all jener Lebenswelten und behördlichen Schutzbereiche, welche von Escobar berührt, beeinflusst oder gar eingerissen wurden. Die Hauptperspektive bleibt jedoch jene eines US-Drogenpolizisten. Die erste Staffel folgt dem Aufstieg vom kleinen Schmuggler zum internationalen Kokain- Großhändler. Gezeigt wird Escobar als Mann mit Ambitionen, dessen krimineller Hintergrund ihm aber den Eintritt in die Politik verwehrt. Eben diese Obrigkeit zwingt er mit Entführungen, Auftragsmorden und Terroranschlägen in die Knie. Er errichtet gar sein eigenes Gefängnis und sperrt sich dort selbst mit allen Annehmlichkeiten ein, um nicht an die USA ausgeliefert zu werden. Am Schluss der ersten Narcos-Staffel muss Escobar seine persönliche Festung verlassen, weil sich zwei Staatsgewalten (die US-amerikanische und die kolumbianische) nicht von einem einzelnen Mann die Stirn bieten lassen wollen.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Mutter Oberin!
Er hat stets feinen Stoff. „Mutter Oberin“/„Mother Superior“, aus der Kultromanverfilmung „Trainspotting“. „Was darf’s denn sein?“, fragt der von Keith Allen personifizierte Dealer mit Stil. Heroin natürlich. Was sonst? Intravenös. Wie sonst? Fixbesteck vergessen? Kein Problem; der fürsorgliche Mitvierziger aus der Lebensrealität des schottischen Autors Irvine Welsh entsprungen, hilft gerne aus. Lou Reeds „Perfect Day“ ertönt in der Verfilmung von Danny Boyle, mit dem damals blutjungen Ewan McGregor in der Hauptrolle. Als heroinaffiner Renton versinkt er prompt im roten Teppich, einem Grabe gleich. Zu viel war es. Zu rein. So zerrt die Oberin seinen bewusstlosen Körper möglichst sanft aus dem Arbeiter_innensiedlungs-Wohnblock auf die Straße und ruft ein Taxi. Denn Taxler_innen stellen keine Fragen. Die Oberin steckt Renton ein paar Pfund in die Hemdtasche. Tätschelt liebevoll die Wange – Kundenpflege aus dem Bilderbuch.
Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Tarantinos Version eines Dealers
In „Pulp Fiction“ (1994) werden fast alle Formen von Kriminalität in irgendeiner Weise gezeigt. Der Lieblingsdealer von Vincent – dem Handlanger eines Gangsterbosses und Hauptfigur im Film – ist Lance. Er lebt mit seiner Frau in einem gemütlichen Vorstadthaus und muss zum Arbeiten dieses nicht mehr verlassen. Er begrüßt dort seine Stammkund_ innen und versorgt sie mit hochklassigem Stoff. Lance selbst ist den Drogen nicht abgeneigt, ist aber bei weitem kein Junkie. Er arbeitet also nicht, um sich seine Sucht zu finanzieren. Viel Platz bekommt er in Quentin Tarantinos Blockbuster nicht. Der Film lebt von der Vielzahl an coolen Typen und ihren Sprüchen. Die Welt der organisierten Kriminalität wird sehr stilisiert, voller Klischees und Verweisen auf Popkultur zelebriert. Sehr realitätsnah ist die Darstellung von Lance also nicht, der gern vor dem Fernseher hockt und um drei Uhr nachts genüsslich Frühstücksflocken verzehrt.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies in Wien.

Lest hier den begleitenden Artikel über die realen Drogendealer*innen

Seiten