Beissreflexkritik

  • 20.06.2017, 22:08
Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt

Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt und zum Teil einige Kollateralschäden in unterschiedlichen Szenen hinterlassen. Mit dem Beißreflexe-Buch, das angetreten ist, all diese Dinge grundlegend zu kritisieren, dürfte es sich nun ähnlich verhalten. Nur selten schafft es ein Buchprojekt, dessen primäre Zielgruppen queere und linksradikale Szenen sind, binnen drei Monaten zur dritten Auflage. Die Textformen reichen von wissenschaftlich- essayistisch über Interviews bis zum Zweitabdruck journalistischer Artikel, wobei die einzelnen Beiträge qualitativ leider stark auseinanderfallen. So stehen neben gut recherchierten Texten, klugen Gedanken und dringend notwendiger Reflexion nicht selten inhaltliche Leerstellen, fehlende Quellenangaben und Schilderungen zu Vorfällen, die in ihrem Betroffenheitsduktus – den der Band ja eigentlich kritisieren möchte – auch nicht immer ganz glaubwürdig sind. Spätestens wenn in einem kurzen Text Adorno und Hegel inklusive Seitenzahl zitiert werden, eine Butler-Paraphrase, die man gerne noch mal im Original nachlesen würde, jedoch ohne Quellenangabe auskommt, muss man dem Buch gewisse herausgeberische Schwächen attestieren.

Der Umstand, dass die Texte – wie eine der wenigen Autorinnen es formuliert – von „größtenteils Typen, wenngleich größtenteils schwule“ geschrieben wurden, rettet das Projekt zu einem gewissen Grad. Käme die Kritik von heterosexuellen Männern, müsste man viel des Geschriebenen als recht klassische Anti-PC-Paranoia abtun. Die Angst, vom Plenum oder anderen linken Strukturen ausgeschlossen zu werden, käme in diesem Fall der vor mehr Abendfreizeit mit weniger nervigen GenossInnen gleich und wäre als solche nur schwer ernstzunehmen. Für Menschen, die der nach wie vor sehr realen homophoben Gewaltdrohung tagtäglich ausgesetzt sind, ist die Situation aber eine andere. Ausschlüsse aus Szeneräumen und autoritäre Strukturen in ebendiesen können dann tatsächlich ein existenzielles Problem darstellen, weil die Alternativen oftmals rar, die aktivistischen Szenen klein und die Verschränkung von Privatem, Politischem und Beruflichem tendenziell stärker gegeben ist als in anderen linken Kontexten.

Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten.
Querverlag, 269 Seiten, 16,90 Euro.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

AutorInnen: Florian Wagner