Flora Eder

Wenn alles am Spiel steht

  • 28.03.2013, 22:16

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Akbarjan Abdullah sitzt auf seinem Feldbett und kramt suchend in seinen Sachen. „Zehn Jahre lang habe ich in Afghanistan Cricket gespielt“, erzählt der 22Jährige auf Englisch. „Ich würde so gerne auch in Österreich Cricket spielen – aber kaum jemand interessiert sich hier für diesen Sport“, sagt Abdullah. Deswegen hat er begonnen, Volleyball zu spielen, das war ihm zumindest ein wenig Ersatz. Mittlerweile hat er in einer Tasche gefunden, was er gesucht hat: einen Pokal. Gleich sein erstes Volleyball-Turnier in   Österreich hat er gewonnen. Stolz zeigt er seine Trophäe in der Runde herum.

Abdullah ist einer jener Flüchtlinge, die im November den langen Marsch aus Traiskirchen angetreten sind, um gegen die unzumutbaren Zustände der österreichischen Asylpolitik zu demonstrieren. Er protestierte im Zeltlager im Sigmund-Freud-Park und danach in der Votivkirche. Als die österreichischen PolitikerInnen nur mit Arroganz reagierten, trat auch er in den Hungerstreik, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. 13 Kilo hat er in dieser Zeit verloren. Mehrere Male musste sein gesundheitlicher Zustand im Krankenhaus kontrolliert werden.

Trotz eisernem Durchhaltevermögen brachte auch diese drastische Maßnahme wenig Erfolg: Die österreichische Politik weigerte  sich weiterhin, auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen. Nun setzt Abdullah seinen Protest gemeinsam mit 63 Mitstreitern  im Keller des Servitenklosters im neunten Wiener Gemeindebezirk fort – ohne Hungerstreik.

Dass ihm am erhofften Ende seiner Flucht ein dermaßen harter Kampf bevorsteht, damit hatte Abdullah nicht gerechnet. Er kommt aus der Nähe von Kabul, arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und verkaufte Speiseöl. Eines Tages wollten ihn die Taliban rekrutieren: „Wenn du nicht zu uns kommst, dann bringen wir dich um“, drohten sie ihm. Er aber wollte mit ihren Gräueltaten nichts  zu tun haben. „Dann haben sie mich entführt und für 27 Tage in einem winzigen Raum eingesperrt“, erzählt Abdullah. Seit fast zwei  Jahren ist er in Österreich, ein Jahr lang hat seine Reise von Afghanistan mit Schiff und LKW gedauert. Auf dem Weg musste er sich von seinen Eltern trennen, mit denen er zuerst gemeinsam nach Pakistan geflohen war. Seither hat er nichts von ihnen gehört. Als er  in Österreich ankam, wusste er nicht, wo er eigentlich war. „Ich habe jemanden gefragt, und er hat gesagt: ‚in Österreich‘. Ich  meinte: ‚Nicht der Ort, das Land, wie heißt das Land?‘; ‚Österreich – Austria’“, erinnert sich Abdullah. „Dann habe ich erst verstanden, wo ich überhaupt gelandet bin.“ Er war in einem katastrophalen körperlichen Zustand, hatte keine Schuhe, keine frische  Kleidung und überall am Körper entzündete Wunden. Daher musste er zunächst für einige Tage ins Krankenhaus. Aufgrund seiner Hautprobleme sollte Abdullah zweimal am Tag duschen, regelmäßig Kleidung und Bettwäsche wechseln. Das ist im Servitenkloster  zwar leichter als in der Votivkirche. Trotzdem gibt es hier für 64 Flüchtlinge nur eine Dusche.

Provisorium. Die Luft im Keller des Servitenklosters ist feucht und abgestanden, die Bettwäsche mieft etwas. Dennoch sieht es sehr  ordentlich aus: Jedes der provisorischen Klappbetten ist gemacht. Wer die Refugees besucht, wird gastfreundlich und herzlich empfangen. „Mit Zucker?“, fragt der 21jährige Ahmad Zai Azizulla, als er den Tee bringt. Wer nichts hat, der gibt am meisten –  dieses Sprichwort bewahrheitet sich in diesem Kellergewölbe. Azizulla ist erst seit sechs Monaten in Österreich. Auch er musste aus Afghanistan flüchten, weil er von den Taliban verfolgt wurde. Sein älterer Bruder wurde von ihnen getötet, weil er sich nicht  rekrutieren lassen wollte. Azizulla wartet noch auf seinen ersten Asylbescheid. „Es geht nichts weiter“, sagt er. In Österreich war er zuerst in Traiskirchen und dann in Straden untergebracht: „Ein kleines Dorf, in dem es überhaupt nichts gibt.“

„Die schlechten   Lagerbedingungen und das Verfrachten der Flüchtlinge an enorm exponierte Orte, in denen es an jeglicher Infrastruktur mangelt, haben System“, meint Irene Messinger, Politikwissenschafterin und Spezialistin für Fremden- und Asylrecht. „Das wundert nicht, sieht man sich an, wie wenig der Staat für die Grundversorgung der Flüchtlinge ausgeben möchte. Das und die komplette Entmündigung waren bestimmt Initialzünder für die Demonstrationen“, sagt sie.

Gezielte Strategie. Der Protest der  Refugees ist der erste dieser Art: Zwar hat es schon zuvor immer wieder Protestschreiben von Flüchtlingen gegen die unzumutbaren Zustände gegeben. Über die Briefform ging es aber selten hinaus. „Es gab in gewisser Hinsicht eine Phantasielosigkeit in der Ausdrucksform dieses Protests – und die ist jetzt aufgebrochen“, sagt Messinger. Sie hat   jahrelang in NGOs im Bereich der Rechtsberatung für Fremdenrecht und Asylverfahren gearbeitet. „Ein Problem ist auch, dass Asylrecht ExpertInnenwissen geworden ist. Ich denke, das ist eine gezielte Strategie, Unterstützung zu verunmöglichen oder zu erschweren“, sagt sie. Und auch wenn das Ministerium der Öffentlichkeit mit „geschönten Statistiken“ immer wieder
das Gegenteil weismachen wolle: „Österreich ist kein Land, in dem es gute Aussichten auf Asyl gibt.“

Zentrale Forderung der Refugee-Proteste sei die Arbeitsmarktpolitik. Hier einen Erfolg zu erringen, sei Messinger zufolge symbolisch sehr wichtig. Die Flüchtlinge haben auf diesem Gebiet auch Support von verschiedensten NGOs. Auch für Abdullah ist das eine der drängendsten Forderungen. „Wir brauchen euer Geld nicht. Wir wollen keine Almosen, wir wollen arbeiten“, sagt er. Er sei es gewöhnt, Geld selbst zu verdienen und wolle nicht vom Staat leben. Derzeit ist die Arbeitsregelung für AsylwerberInnen aber besonders restriktiv – de facto dürfen sie nur in der Saisonarbeit und der Sexarbeit tätig sein.

Wie es weitergeht? Messinger befürchtet, dass das „Ministerium langfristig fremdenrechtlich durchgreifen und in voller Härte  abschieben“ werde. Auch Abdullah ist sich unsicher, ob sein Protest erfolgreich sein wird: „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich  nicht. Wir können nur hoffen. Wenn wir jetzt aufgeben, dann verlieren wir alles.“ Auch er rechnet mit Abschiebungen. Und „alles verlieren“, das heißt für einen Flüchtling viel mehr als die Aussichten auf ein gemütliches Leben im Wohlfahrtsstaat Österreich zu begraben: „Ich liebe mein Land und ich möchte heim. Aber wenn ich jetzt zurück muss, töten mich die Taliban.“

Die Keimzelle des Bürgertums

  • 20.02.2013, 16:22

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Familienpolitik: Alles soll beim Alten bleiben. Feminismus kämpft dagegen an.

Als 1789 Überschwemmungen, Dürre und Unwetter den Brotpreis in die Höhe schnalzen ließen, kam es in ganz Frankreich am Land zu Bauernaufständen, in den Städten zu Plünderungen und Unruhen. Die französische Revolution steckte in ihren Kinderschuhen – und auch die Frauen witterten ihre Chance, als Revolutionärinnen der Recht- und Erwerbslosigkeit sowie der doppelten Unterdrückung durch Obrigkeit und Ehemann zu entkommen. Viele kämpften an vorderster Front gegen das Ancien Regime, gründeten Frauenklubs und hielten Frauenversammlungen ab.

Doch dann kam die große Ernüchterung: Die Menschenrechte wurden verfasst – schrieben jedoch als „droits de l’homme“ eben nur die „Rechte des Mannes“ fest. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – aber nur für Männer. Frauenklubs wurden wieder aufgelöst,  Frauenversammlungen verboten und bereits im Code civil festgeschriebene Erleichterungen wurden gestrichen. Zwar verfasste 1791 Marie Olympe de Gouges Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin und sandte sie an die Nationalversammlung. Für 200 Jahre verschwand die Schrift dort aber in der Versenkung – erst in den 1970ern wurde sie wieder hervorgekramt. De Gouges selbst musste dennoch mit dem Leben zahlen: Wegen angeblicher royalistischer Verschwörung wurde sie am 3. November 1793 hingerichtet.

Privates ist politisch. De Gouges’ Schrift war eine Art feministische Initialzündung für die „erste Welle“ der Frauenbewegung, die sich für gleiche bürgerliche Rechte für Frauen  einsetzte. Denn wogegen sie kämpfte, war jener Platz, der in der bürgerlichen Kleinfamilie weiterhin für Frauen vorgesehen war: fernab von politischer Auseinandersetzung im öffentlichen Leben, zurückgedrängt in die als „unpolitisch“ deklarierte Privatheit der Familie, über welche öffentliche Debatten unerwünscht waren. Dass das Private aber politisch ist, fiel nicht erst den Feministinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970ern auf – schon in ebenjenen Geburtsstunden der bürgerlichen kapitalistischen Kleinfamilie verfasste die radikale Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft 1792 die Schrift A vindication of the rights of women. Die Ehe beschrieb sie darin als legale Prostitution – zentrale Voraussetzung für die Emanzipation von Frauen sah sie im gleichen Zugang zu Bildung.

Ehe und Familie sind in der bürgerlichen Gesellschaft die private Blaupause zur öffentlichen Sphäre der Politik und Lohnarbeit – sie stellen die materielle Basis für das darauf aufbauende moderne Geschlechterverhältnis dar. Wer daher „Familienpolitik“ betreibt, muss sich bewusst sein, gleichzeitig immer auch Geschlechterpolitik einzuzementieren. Heute wird zwar gerne beschworen, dass die Zeiten des Heimchens am Herd und des  Familienernährers längst vorbei seien. Aber aktuelle Studien zeigen: In den letzten Jahrzehnten lassen sich kaum Veränderungen bei der klassischen Zuständigkeit der Frauen beobachten. Frauen tragen nach wie vor die Hauptlast bei unbezahlten Fürsorge- und Reproduktionstätigkeiten – im Jahr 2002 arbeiteten sie in Österreich durchschnittlich 45 Stunden in der Woche, Männer hingegen „nur“ 35 Stunden.

96 Milliarden Stunden Hausarbeit. Beinahe zwei Drittel der von Frauen getätigten Arbeit wird für Hausarbeit und Kinderbetreuung – also „Familienarbeit“ – aufgewendet, wie Barbara Haas, Autorin der 2009 veröffentlichten Studie „Geschlechtergerechte Arbeitsteilung – theoretisch ja, praktisch nein!“, ausführt. Bei höherem Bildungsgrad gleicht sich die Zeitverteilung zwar an, „aber selbst unter AkademikerInnen besteht eine starke Differenz bei der Zeitverwendung“, so Haas.

Was es bedeutet, wenn Frauen nach wie vor den mit Abstand größten Teil der familiären Arbeit erledigen? Wie die Arbeits- und Sozialwissenschafterin Gabriele Winker aufzeigt, umfassten diese Reproduktionsarbeiten – also familiäre Arbeiten wie Kinderaufzucht, Liebe, Hausarbeit, Hege, Pflege – auch im Jahr 2001in Deutschland insgesamt 96 Milliarden Stunden Arbeit, während die Erwerbsarbeit „nur“ 56 Milliarden Stunden Arbeit betrug. Die Zahlen beruhen dabei auf Erhebungen des Statistischen Bundesamts Deutschlands von 2003.

Spätestens an dieser Stelle wird klar: Familienpolitik und feministische Politik verhalten sich zueinander komplementär. So ist es nicht verwunderlich, dass Familien- und  feministische Politik auch die österreichische Innenpolitik in eine schwarz-blaue und eine rot-grüne Hälfte dividiert. Umkämpft wird die gleiche Medaille, von zwei unterschiedlichen  Seiten. Das zeigt sich auch daran, dass bis Mitte der 1970er- Jahre das noch aus Monarchiezeiten stammende Ehe- und Familienrecht in Österreich galt: Das Konzept der „Versorgungsehe“ eines erwerbstätigen männlichen Familienerhalters und einer unentgeltlich den Familienhaushalt führenden „Hausfrau“ war hier gesetzlich festgeschrieben. Erst unter sozialdemokratischer Mehrheit konnte dieser Zement in den 1970ern aufgebrochen werden. Verpflichtende Wohnsitzfolge, alleiniges Entscheidungsrecht durch den Mann in Erziehungsfragen, einseitige Pflicht zur Haushaltsführung sowie die Pflicht der Ehefrau zur Mitarbeit im Betrieb des Mannes konnten  abgeschafft werden.

Schwarz-Blaue Hochzeit. Auch wenig verwunderlich: Der nächste Bruch in puncto Familienpolitik erfolgte dann unter der schwarzblauen „Wendekoalition“. Schwarz-Blau führte das gemeinsame Sorgerecht ein und wirkte auch auf symbolischer Ebene mit einem staatlich finanzierten „Hochzeitsbuch“ mit allerhand Tipps für die Schönheit der Braut und die Konversation beim gemeinsamen ehelichen Frühstück. Gleichzeitig wurde in der FPÖ-geführten Männerabteilung gegen die „Gleichmacherei der Geschlechterrollen“ polemisiert.

Familienpolitik ist Geschlechterpolitik. Sie verweist Männer und Frauen auf ihre Plätze, definiert, wie eine Kernfamilie auszusehen hat und delegitimiert damit andere Formen des Zusammenlebens. Insofern wird sie noch lange politischer Zankapfel bleiben.

Durchgekämpft

  • 16.02.2013, 09:17

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Obdachlosigkeit ist die gravierendste Form von Armut. Christian Meischl hat sich erfolgreich von ihr befreit. Wie das ging, erzählte er Flora Eder, die ihn bei seiner Tätigkeit als Augustin-Verkäufer begleitet hat.

Auf der unteren Mariahilferstraße, zwischen Supermarkt und Stiftskirche ist das Reich des Christian Meischl. Jeden Vormittag kommt der 44Jährige hierher, mit mehreren Augustin-Ausgaben unter dem Arm, und verkauft die Straßenzeitung. Meischl kennt fast alle, die hier vorbei kommen. Ihm fällt auf, wenn ein Mistkübler auf dem vorbeifahrenden orangen Müllwagen der Magistratsabteilung 48 fehlt, fragt die Kollegen, wie es ihm geht und wünscht gute Besserung. Er kennt die Urlaubspläne jener Leute, die in den Büros über ihm arbeiten und freut sich, wenn ihn der Hund der Stammkundin wie einen alten Freund begrüßt.

Meischl hat sich durchgekämpft. Von der Straße zur Notschlafstelle, weiter zur betreuten Wohnung und zum Augustin-Verkäufer. Derzeit ist er sogar auf der Suche nach einem fixen Job als Angestellter. „Die nächsten 20 Jahre den Augustin verkaufen, das ist keine Perspektive für mich“, sagt er. Bis hierher war es aber ein langer Weg. „Als ich obdachlos wurde, wusste ich gar nicht, wohin  ich sollte. Ich habe nicht einmal die Gruft gekannt“, erinnert er sich. Geholfen haben ihm damals andere obdachlose Menschen – sie haben die Notschlafstellen durchtelefoniert und nach einem Bett für Meischl gesucht. „Ich habe weder gewusst, wo eine Essensausgabe ist, wo ich Kleidung bekomme, noch wo ich mich duschen kann“, sagt er. „Obdachlosigkeit war davor einfach kein Thema für mich – da muss ich mich auch selbst am Rüssel nehmen: Auch ich bin früher an den obdachlosen Menschen blind vorbeigegangen.“

Foto: Johanna Rauch

Rund 8000 Personen in Wien sind obdachlos – genaue Zahlen aber gibt es nicht. Die Dunkelziffer kann erheblich höher sein. 2011 haben über 6000 von ihnen die Möglichkeit genutzt, in einer Notschlafstelle unterzukommen. Wer in Wien ein Bett in einem  Notquartier benötigt, geht zu einer Einrichtung namens „P7“ im zweiten Wiener Gemeindebezirk und wird einem freien Bett  zugewiesen. Weitere Hilfe erhält man dann im „bzWO“, wo Plätze für die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe vermittelt werden: für das Übergangswohnen, das betreute Wohnen oder das betreute Dauerwohnen. Je nach körperlichem Zustand und Zukunftsplänen – und auch Glück – erhält man dann einen betreuten Wohnplatz mit langfristiger Perspektive. 

Therapeutisches  Taschengeld. Perspektive geben aber auch Projekte wie der Augustin. Als KolporteurIn der Straßenzeitung kann man sich zusätzlich  zur bedarfsorientierten Mindestsicherung, auf die die meisten wohnungslosen ÖsterreicherInnen Anspruch haben, etwas dazu  verdienen. Für AsylwerberInnen, die finanziell erheblich schlechter gestellt sind, ist der Augustin häufig Teil der Existenzgrundlage – genauso für viele Roma, die aufgrund von struktureller Diskriminierung und den minimalen Sozialhilfen in Rumänien, Tschechien und der  Slowakei in Wien den Augustin vertreiben. „Wir versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den Personengruppen zu halten“, sagt Mehmet Emir, Sozialarbeiter beim Augustin. „Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, viele aber auch aus Wien – das ist ganz unterschiedlich. So haben wir auch sehr hoch qualifizierte KolporteurInnen, oftmals AsylwerberInnen aus Georgien. Sie dürfen während des Asylverfahrens nicht arbeiten – außer Zeitungen kolportieren“, erklärt er: „Viele sagen in so einem Fall zu dem Geld, das sie beim Augustin verdienen können, auch therapeutisches Taschengeld.“

420 aktive Augustin-KolporteurInnen gibt es derzeit – und 80 weitere werden dieser Tage aufgenommen. Alle zwei Wochen vertreiben sie die 22.000 bis 25.000 Exemplare des Augustins an den verschiedensten Ecken Wiens zu je 2,50 Euro – wovon eine Hälfte an die Kolporteurin geht, die andere an das Zeitungsprojekt. Zu Weihnachten beträgt die Auflage gar 46.000 Stück – hinzu kommen Goodies wie der Augustin-Kalender.  „Wir wären gerne das Blatt, das statt der Heute gelesen wird“, sagt Augustin- Redakteurin Lisa Bolyos. Sie fügt schmunzelnd hinzu: „Das von der Verbreitung her zu schaffen, ist quantitativ schwierig, aber qualitativ vielleicht möglich. Wir bekommen sehr viele LeserInnenbriefe, die zeigen, wie vielfältig unser Publikum ist.“ Ziel ist jedenfalls, meinungsbildend für Wien zu sein und Diskussionsstoff für die Stadt zu liefern. Ob die KolporteurInnen selbst auch den Augustin lesen? „Zumindest teilweise. Manche diskutieren ihn auch mit ihren StammkundInnen“, sagt Bolyos. Trotzdem sei man sich bewusst, dass für viele KolporteurInnen Sprachbarrieren bestünden, da sie Deutsch erst lernen müssen. Aber: „Der Background der wohnungslosen Menschen ist sehr unterschiedlich. Außerdem sind die KolporteurInnen des Augustins nicht grundsätzlich alle obdachlos, sondern Leute, die aus irgendeinem Grund verarmt sind oder aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“    

Wohnungslos. Auch Meischl ist von der Definition her nicht obdachlos – denn er lebt in einer betreuten Einrichtung der Wiener  Wohnungslosenhilfe. Genauer gesagt ist er daher „wohnungslos“: Er hat derzeit keine eigene Wohnung, aber ein Dach über dem  Kopf, einen eigenen Wohnungsschlüssel und damit eigene vier Wände. Das Ziel ist, nach einem Job wieder eine auf ihn selbst  angemeldete Gemeindewohnung zu erhalten. „Vor wenigen Jahren noch wäre das undenkbar gewesen: Drei Jahre lang hatte ich gar kein Geld, keine Mindestsicherung, nichts. Ich bin komplett durch den Rost gefallen und habe gebettelt“, erzählt Meischl. Als er   aber Unterstützung bekam, einen Wohnplatz und Sozialhilfe ging es bergauf. „Beim Augustin war aber leider Aufnahmesperre.  Trotzdem bin ich einfach hingegangen, und so schnell konnte ich gar nicht schauen, hatte ich schon Zeitungen in der Hand und verkauft“, sagt er. Ein wenig Stolz liegt in seiner Stimme. „Ich hab wirklich jede Chance genützt.“

Keine Grenzen. Gebildet zu sein, die lokale Sprache ohne Akzent zu sprechen, Durchsetzungsvermögen, die richtige StaatsbürgerInnenschaft zu haben – und auch das richtige Geschlecht: Obwohl Obdachlosigkeit die gravierendste Form von Armut in modernen westlichen Gesellschaften darstellt, zeigen sich selbst auf dieser Spitze des Eisbergs noch immer gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen. So haben etwa Nicht-ÖsterreicherInnen gar keinen Anspruch auf das Angebot der Wohnungslosenhilfe – ausnahmsweise wurde diesen Winter ein Notpaket geschnürt, das ein Notquartier unabhängig von der StaatsbürgerInnenschaft für „Nicht Anspruchsberechtigte“ ermöglichte. EU-BürgerInnen stehen zumindest seit der Audimax-Besetzung durchgängig Notquartiere zur Verfügung. Laut dem Bericht des Verbands der Wiener Wohnungslosenhilfe 2011 wurden diese Einrichtungen „entsprechend gestürmt“. Im damaligen Jahr nutzten 719 Männer und 88 Frauen die Nächtigungsmöglichkeiten  in der sogenannten „Zweiten Gruft“. Hieran zeigt sich auch: Obdachlosigkeit kennt zwar keine Grenzen – aber ein Geschlecht. Denn Frauen sind wesentlich seltener obdachlos, aber versteckt wohnungslos. Sie kommen häufig bei Bekannten unter oder gehen  „Zweckbeziehungen“ ein – in denen sie nicht selten sexueller Ausbeutung ausgeliefert sind.

Wie verändert es das Weltbild und die politische Einstellung, wenn man selbst den Augustin verkauft oder einmal obdachlos war? „Für die meisten ist es selbstverständlich, dass sie ein Bett und ein Dach über dem Kopf haben. Aber das ändert sich dann sehr wohl. Man wird bescheidener“, sagt Meischl. Derzeit bemüht er sich, auf der Mariahilferstraße die Vorurteile gegenüber  wohnungslosen Menschen zu bekämpfen. Er spricht mit vielen seiner KundInnen über deren klischeehafte Vorstellung von Obdachlosigkeit. „Mich haben schon viele Leute blöd angeschaut, wenn ich beispielsweise Touristen auf Englisch den Weg erklärt habe“, sagt er. Und mit einem sehr ernsten Lachen: „Aber entschuldige, ich bin doch nicht als Augustin-Verkäufer auf die Weltgekommen.“

Der Traum ist aus

  • 26.12.2012, 15:20

Im Dezember 2009 wurde das besetzte Audimax geräumt. Das Ende von #unibrennt wurde damit eingeläutet. Ein ausschnitthaftes Resümee drei Jahre danach von Flora Eder.

Im Dezember 2009 wurde das besetzte Audimax geräumt. Das Ende von #unibrennt wurde damit eingeläutet. Ein ausschnitthaftes Resümee drei Jahre danach von Flora Eder.

Es war fünf Uhr früh. Auf den Rolltreppen der Station Schottentor wehte ein eisiger Wind gegen ihre Fahrtrichtung hinauf zur Uni Wien. Der Gehsteig wurde von einer zentimeterdicken Eisschicht bedeckt, es war noch finster. Der Tag musste erst in die Gänge kommen. In den frühen Morgenstunden des 21. Dezember 2009, vor drei Jahren also, wurde das Audimax in Wien geräumt. 85wohnungslose Menschen hatten hier Unterschlupf gefunden. Sie hatten größtenteils keine Österreichische StaatsbürgerInnenschaft und wurden auf die Wiener Straßen gesetzt – bei minus zehn Grad. Sie erhielten ein Wurstsemmerl und einen Zettel, der auf englisch und deutsch erklärte, dass sie sich an eine Einrichtung namens „P7“ wenden sollten. Nicht darauf zulesen war, dass sie alle bereits vom P7 abgelehnt wurden, da sie die falsche StaatsbürgerInnenschaft hatten. „Eine humanitäre Katastrophe. Ich bin sauer – heute Nachmittag hätten wir vierzig Notschlafstellen gemeinsam mit der Caritas für sie organisiert“, kommentierte das Markus Reiter, damaliger Vorsitzender des Dachverbands der Wiener Wohnungslosenhilfe vor der Uni Wien. „Aber jetzt sind die Menschen vertrieben. Drei Tage vor Weihnachten, bei minus zehn Grad.“

Auch jene 15 BesetzerInnen, die im Audimax die Stellung hielten, wurden von der Polizei geweckt und aus dem Audimax getragen. Auf sie wartete eine kleine Truppe an Fernsehteams, die eilig zur Uni kamen, um Interviews aufzuzeichnen. Dass „es“ wohl in den Winterferien passieren würde, dass das Audimax der Uni Wien geräumt würde, war vielen schon davor klar. Dass es ausgerechnet an diesem Tag geschehen würde, nicht. Und so wurde #unibrennt aus dem Schlaf gerissen, geplatzt war ein Traum, der noch nicht zu Ende geträumt war.

Doch was war er, der Traum von #unibrennt? #Unibrennt drückte die Sehnsucht einer ganzen Studierendengeneration aus. Eine Sehnsucht nach Veränderung; danach, einmal etwas wirklich Wichtiges zu schaffen. Eine Sehnsucht danach, in dieser Gesellschaftendlich eine Rolle zu spielen, Geschichte zu schreiben – etwas Unumkehrbares loszutreten. Einmal „ich war auch dabei“ sagen zu können; eine Art inszeniertes Schauspiel, um später nostalgisch auf eine Zeit zurückblicken zu können, die das sonst wohl nicht verdient hätte. Aber was ist sonst von #unibrennt drei Jahre danach übrig geblieben?

Aller Anfang ist leicht. „Ich wusste, dass eine Demo vor dem Wissenschaftsministerium stattfindet. Plötzlich erreichte mich ein  Anruf, dass sie zur Uni Wien gezogen sei, und ich sofort ins Audimax kommen müsse, denn es sei besetzt worden“, erinnert sich Ina* an den 22.Oktober 2009. Ausgegangen war die Demonstration von der Akademie der bildenden Künste, deren Aula bereits  zuvor besetzt war. Im Audimax ging daraufhin alles ganz schnell: Plena wurden einberufen, Eintopf gekocht, Arbeitsgruppen gebildet, RednerInnenlisten erstellt, eine Pressekonferenz eilig einberufen, Parties gefeiert, Fotos geschossen, Livestreams und  Filme gedreht – kaum eine Wortmeldung wurde nicht dokumentiert. Allein auf der Uni Wien waren es tausende Studierende, die in den ersten Wochen von #unibrennt ins Audimax strömten. Denn ungewiss war, wie lange die Besetzung andauern würde. Viele  glaubten nicht daran, dass sie mehr als einige Tage bestehen würde. Doch #unibrennt entwickelte eine Sogwirkung, die schnell  auch die anderen österreichischen Unis mitriss und sich auf andere europäische Unistädte ausweitete. „Die vielen Studierenden, die  mit diesem 22. Oktober begonnen haben, sich für ihre Studien- und Lebensbedingungen einzusetzen, waren überwältigend. Und als  an den darauffolgenden Tagen die Meldungen kamen, dass auch Unis in anderen Ländern brennen – das war schon ein aufregendes  Gefühl“, erinnert sich Ina.

So wurden am 24. Oktober ein Hörsaal in Graz, am 28. Oktober das Haus für Gesellschaftswissenschaften am Rudolfskai in Salzburg  und am 29. Oktober die Sowi-Aula in Innsbruck besetzt – und das ist nur ein kleiner Auszug der Ereignisse. „Ich stand  damals am Anfang meines Studiums und hatte kaum Demo-Erfahrung, ich habe mich einfach auf #unibrennt eingelassen. Dass  daraus meine politische,Geburtsstunde‘ würde, war mir nicht klar“, erinnert sich Sebastian, der bei #unibrennt in Innsbruck aktiv war.

Was blieb von all dem Engagement? „In Graz heißt der größte Hörsaal seither nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Willi Gaisch“, sagt Georg*, „und einige sind dadurch in die ,linke Szene‘ gekommen. Es haben sich in Graz neue Netzwerke gebildet,  Freundschaften ergeben, aber eine besondere Politisierung dieser Generation ist nicht eingetreten“, merkt er kritisch an: „An der Uni Graz haben der Alltag und der prekäre Normalbetrieb wieder eingesetzt. Es gibt mehr Bewusstsein für die Bildungsproblematik, aber  der Bildungsdiskurs selbst hat sich leider nicht verändert“, sagt er. In Innsbruck hingegen, meint Sebastian, habe sich durch  #unibrennt mehr verändert als in anderen Unistädten: Das GeiWiMax ist seither ein offener und selbstverwalteter Raum – „um den  gerade wieder ein wenig mit dem Rektorat gekämpft wird“, sagt er. „Die kritische Uni wiederum ist für mich das tollste Ergebnis der Besetzungen.“ Bis heute erhält das Innsbrucker #unibrennt-Plenum pro Semester eine gewisse Geldmenge und kann damit  gesellschaftskritische Lehrveranstaltungen organisieren, die in vielen Studienrichtungen als Wahlfächer angerechnet werden  können.

Auch an der Uni Salzburg, sagt Kay,  habe #unibrennt seine Spuren hinterlassen: „Gerade unipolitisch Engagierte sprechen  #unibrennt immer wieder an, um auf die Notwendigkeit der demokratischen Mitbestimmung hinzuweisen.“ Konkrete Forderungen wurden aber nur teilweise umgesetzt. „Ein großer Erfolg ist der öh:freiraum in der Kaigasse 17“, betont Kay aber doch. Das  Forderungsbündel betreffend der Studienplangestaltung sei aber „nur bedingt“ berücksichtigt worden. An der Uni Wien haben Studierende seit #unibrennt endlich wieder die Möglichkeit, im Rahmen eines kleinen Spielraums von 15 ECTS freie Wahlfächer gestalten zu können – außerdem wurden aus den Mitteln der ministeriellen Notfallreserve einige Lehrstellen in den besonders belasteten Studienrichtungen der Publizistik, der Internationalen Entwicklung und der Psychologie geschaffen. Auch wurden in den Bereichen Studieren mit Behinderung und Frauenförderung Geld und Strukturen aufgebaut und ein zusätzliches Angebot für Deutschals Fremdsprache realisiert.

Gewonnen und Zerronnen. Es bleibt jedoch schwer, von einem faktischen Erfolg von #unibrennt auf  der Ebene eines Forderungskatalogs zu sprechen: Denn woran ist der Erfolg einer so vielfältigen und unterschiedlich organisierten Ansammlung vonprotestierenden Menschen zu messen? Tatsächlich stolperte #unibrennt nämlich immer wieder über die Frage, was der Zweck der Versammlung sei. So sagten viele, eben die Zweckfreiheit sei der Zweck – andere beharrten auf klar artikulierten bildungspolitischen Zielen, die nach ihrem Erreichen auch zu einem Ende der Besetzung führen könnten. Wieder andere positionierten sich dagegen mit einer Ablehnung einer „single-issue-Bewegung“ und noch weitere andere fanden an #unibrennt den  Freiraum, gemeinschaftliche Gestaltung basisdemokratisch üben zu können, zentral. Mit dieser unklaren Positionierung und diesem uneindeutigen Selbstbild stolperte man zwangsläufig über gesamtgesellschaftliche Phänomene. So kam es zu sexuellenÜbergriffen und sexueller Gewalt, und dazu, dass sich einige gegen die im Wiener Audimax Unterschlupf suchenden wohnungslosen Menschen stellten, anstatt sich zu solidarisieren.

Auch Ina sagt, dass von der Besetzung nicht viel mehr als „eine Facebookseite und ein Twitteraccount“ übrig geblieben seien: „Und dass die Leute später einmal überromantisiert ihren Kindern davon erzählen können. Was bei #unibrennt so schnell entstanden ist,  ist leider ebenso schnell wieder verpufft.“

*Die Namen wurden auf Wunsch der Interviewten geändert und sind der Redaktion bekannt.

Flora Eder studiert Sozialwissenschaften an der Uni Wien.

Blindes Vertrauen

  • 15.11.2012, 18:52

Ein Stückchen Utopie und Kindheit steckt in jeder Freundschaft. Drei Portraits über Geborgenheit , Sicherheit und Glück – und was passiert, wenn Freundschaften in die Brüche gehen.

Ein Stückchen Utopie und Kindheit steckt in jeder Freundschaft. Drei Portraits über Geborgenheit , Sicherheit und Glück – und was passiert, wenn Freundschaften in die Brüche gehen.

 

Schule verbündet. Claudia Wltavsky und Ella Gregori sehen sich jeden Tag. Langweilig wird ihnen miteinander trotzdem nicht.

„Es hört sich vielleicht ungewöhnlich an, aber so richtig kennen gelernt haben wir uns wohl, weil wir gleich groß sind“, sagt die AHS-Schülerin Claudia Wltavsky (14) über ihre Freundschaft mit Ella Gregori (14). „Besonders in der ersten Klasse waren alle anderen viel kleiner als wir“, erklärt sie. Und Ella: „So etwas verbündet.“

Ella und Claudia haben sich vom ersten Tag an in der neuen Umgebung des Gymnasiums blendend miteinander verstanden. Zuvor sind sie einander nie über den Weg gelaufen – und das, obwohl ihre beiden Wohnzimmer nur eine kleine Gasse voneinander entfernt sind. Auch in der Klasse sitzen sie gemeinsam mit vier weiteren Freundinnen in der letzten Reihe nah beieinander. Die hinterste Bank versteht sich selbst auch als Clique – „aber das merkt man eigentlich nur im Privaten“, betont Claudia. „In der Schule sind die Gruppen nicht so getrennt voneinander.“

Auch sonst trennt die beiden nicht sehr viel: Sowohl Ellas als auch Claudias Eltern streben eher nach einer liberalen Erziehung und sind nicht so streng wie die Eltern anderer KlassenkollegInnen. Und sie haben schon häufig festgestellt, dass sie Probleme im Alltag und schwierige Situationen in der Schule und im Freundeskreis gleich einschätzen und bewerten. Aber das Wichtigste: „Wir können ehrlich zueinander sein und uns immer alles direkt sagen.“ „Nur unsere Lieblingsfarbe ist eine andere“, meint Claudia. „Aber das ist ja nicht so wichtig“, sagt Ella.

Eine knifflige Konstellation hätte sich nur einmal ergeben, als Ella mehr Zeit mit einer anderen guten Freundin verbrachte, die aber in der Klasse nicht bei allen beliebt war. „Es war, als müsste ich mich immer zwischen ihr oder den anderen entscheiden, wie eine Wahl“, erzählt sie. Dadurch sei es ein wenig zu Eifersüchteleien auf beiden Seiten gekommen. Die hätten sich aber mittlerweile gelegt.

Gerade die vierte Klasse der Unterstufe ist oft eine Bewährungsprobe für junge Freundschaften – nicht selten trennen sich die Lebenswege der SchulkollegInnen aufgrund unterschiedlicher Schulzweige. Und auch für Ella kommt in Frage, sich andere Schulen anzusehen – „sonst würde es ja langweilig werden“, meint sie. Claudia hingegen ist mit dem Gymnasium ganz zufrieden. „Aber sollte ich wirklich die Schule wechseln, bedeutet das nicht, dass ich meine FreundInnen verlieren werde“, ist sich Ella sicher, „weil Freunde und Familie kommen bei mir immer an erster Stelle. Alles andere ist da ganz weit hinten“.

FreundInnen seien daher auch ein großes Kriterium für die Schulwahl. Denn ohne Freundin mit an Board kann es sich keine der beiden vorstellen, einen neuen Schulweg zu beschreiten. Gerade in Momenten, wo es Unsicherheiten und vielleicht auch weniger Halt als sonst gibt, seien FreundInnen besonders wichtig – sie geben Geborgenheit, Zuversicht und Vertrauen. Und was Ella an Claudia besonders gut gefällt? „Wir sind ein bisschen wie Puzzlesteine – es passt einfach.“ 

Gmeinsam bis an die Grenzen gehen

Mit allen Wassern gewaschen: Seit 15 Jahren sind die beiden Seglerinnen Hannelore Zehetbauer und Daniela Klinka unzertrennlich.

Dani und Hanni gab es lange Zeit nur im Doppelpack. Wo auch immer sie hinkamen, ihr gemeinsamer Name war „DaniundHanni“. Aber wer denkt, das erinnerte an ein bekanntes Zwillingspaar, irrt: Die beiden zu verwechseln, ist unmöglich. Denn Daniela Klinka (25) ist die ruhige, bedachte Beobachterin im Hintergrund, Hannelore Zehetbauer (25) der quirrlige und impulsive Gegenpol, der abendelang ganze Tischrunden unterhalten kann. Und auch in puncto Lebensstil ziehen sich hier die Gegensätze an: „Ich bin zum Beispiel immer mit dem Auto, Dani immer mit dem Rad unterwegs“, sagt Hanni. Dani ergänzt: „Und du gehst ständig shoppen – ich schnorre hingegen viel lieber.“ Trotzdem: Wer die beiden kennenlernt, sieht auf den ersten Blick, dass es wohl kaum zwei Menschen gibt, die mehr Sympathie füreinander hegen.

„Dani und ich haben eben Dinge miteinander erlebt, die ich mit niemandem sonst durchgemacht habe“, erklärt Hanni. Die beiden waren gemeinsam ein Team im Jugendleistungssport- Segeln. Sie haben in Wettkämpfen gemeinsam gewonnen und verloren, sind gemeinsam gekentert, haben sich gestritten, das Boot wieder aufgestellt, haben sich versöhnt und dann sofort weiter für ein gemeinsames Ziel gekämpft. Und sie haben tausende Kilometer zu den unterschiedlichsten Wettkampforten gemeinsam zurückgelegt. „Wir sind also gemeinsam an unsere Grenzen gegangen und das hat uns zusammengeschweißt“, sagen sie.

Einen weiteren Unterschied zu anderen Freundschaften mache auch die ausgesprochen familiäre Atmosphäre aus – ihre beiden jeweils zwei Jahre jüngeren Brüder waren ebenfalls jahrelang eng miteinander befreundet. „Meine Oma hat die beiden, Christian und Toni, sogar immer verwechselt“, erinnert sich Hanni. „Aber kennengelernt haben sie sich schon über uns“, betont Dani. Dadurch sind auch die beiden Familien eng aneinandergewachsen. „DaniundHanni“ waren ab dem elften Lebensjahr unzertrennlich.

Hier kommt wohl auch die Vertrautheit her, die die beiden an ihrer Freundschaft so schätzen: Nicht nachdenken zu müssen, wie eine Aussage ankommt und interpretiert werden könnte, weil man sich sicher ist, richtig verstanden worden zu sein. Aber auch, einmal ohne Grund und „einfach so“ zu telefonieren oder sich zu treffen – „und wenn wir dann auch nur zwei Stunden auf einer Couch herumliegen: Was wir in der Zeit tun, ist egal, Hauptsache, wir sehen uns“, sagt Hanni.

Das mache auch im Allgemeinen eine gute Freundschaft aus, sind sich die beiden einig: Vertrautheit, Offenheit, Ehrlichkeit. Das besondere aber an einer Freundschaft, die man noch aus der gemeinsamen Kindheit mitnimmt: „All jene Freundinnen, die ich früh kennengelernt habe und die mir bis heute geblieben sind, sind wesentlich unterschiedlicher als ich“, meint Hanni. Heute würde sich nämlich kaum mehr eine Gelegenheit ergeben, dass sich die beiden kennenlernen könnten – hätte das nicht in früheren Zeiten Hannis Mutter eingefädelt, die wollte, dass sich ihre Tochter in der Sommersegelwoche wohl fühlt und eine Freundin findet. Als Kind ist man eben noch offener und zugänglicher für verschiedenste Menschen. „Genau die vielen Unterschiede und die Vertrautheit, die trotzdem da ist: Das ist das, was es interessant macht“, sagt Hanni, während ihr Dani gespannt lauscht. Ob es sich eigentlich negativ auf die Freundschaft auswirke, dass Hanni merkbar mehr spricht als Dani? „Nein, nein, ich gebe ihr in allen Punkten Recht“, meint Dani. Beide lachen und Hanni ergänzt augenzwinkernd: „Es wäre sowieso unmöglich, dass jeder so viel redet wie ich.“

„Jetzt stehe ich alleine da.“

Hossain Mirzaie (57) ging einen langen steinigen Weg. Politische wie auch private Freundschaften hatte er dabei immer viele – doch fast alle sind im Laufe seines Lebens in die Brüche gegangen.

Hossain Mirzaies Leben ist anders verlaufen, als er es sich gewünscht hätte. Mit 22 Jahren, 1977, ist er aus politischen Gründen aus dem Iran geflüchtet und nach Österreich gekommen. Es war eine politisch turbulente Zeit im Iran, die in der Gründung einer islamischen Republik endete: Terror und Massenhinrichtungen standen auf der Tagesordnung, die politische Grundlage waren und sind religiöser Fundamentalismus und antiwestliche Doktrin. Etliche Menschen waren auf der Flucht und auf der ganzen Welt entstanden iranische Widerstandsorganisationen, die sich gegen die Politik des iranischen Regimes formierten.

So auch in Wien – und unter den zahlreichen iranischen Studierenden, die sich hier Ende der 1970er-Jahre engagierten, war auch Hossain, der damals Politikwissenschaft und Völkerkunde an der Universität Wien studierte. „Tag und Nacht war ich mit meinen Genossen und Genossinnen politisch aktiv“, erinnert er sich. „Fünf Jahre lang bin ich diesen Weg gemeinsam mit linken und extrem linken Gruppen gegangen – und davon gab es einige in Wien: Die marxistisch-leninistische Linke verteilte sich auf zahlreiche Lager, die alle nicht miteinander zusammenarbeiteten“, sagt Hossain. Als sich dann abzeichnete, dass der Widerstand gegen das iranische Regime und die islamische Revolution gescheitert war, habe ein Umdenkprozess bei ihm stattgefunden: „Seither bin ich der Meinung, man sollte seine politischen GegnerInnen eben als GegnerInnen sehen – und nicht als FeindInnen.“ Konkret bedeute das für ihn: Offene Diskussionen und freie Meinungsäußerung auf demokratischer Basis und Legitimation. „Doch die Gruppen waren damals noch nicht so weit. Ich war der einzige mit dieser Position.“

Und so kam es, dass aus GenossInnen, die Tag und Nacht miteinander arbeiteten, FeindInnen wurden. „Ich wurde als Spion des iranischen Regimes verunglimpft – auf der Straße angespuckt, beschimpft und teilweise auch handgreiflich angegangen“, erzählt Hossain. Und dieser Bruch mit den ehemaligen politischen FreundInnen wirkt bis heute nach – obwohl mittlerweile 30 Jahre vergangen sind. Hossain trennt streng zwischen privaten und politischen FreundInnen: Ein Resultat aus der starken Repression des iranischen Regimes. „Die Familie wollten wir immer schützen, und in der Öffentlichkeit lieber gar nicht als solche erkennbar sein“, sagt er. Gerade wenn der politische, autoritäre Druck, der vor Terror nicht zurückschreckt, auf Widerstand stößt, entstünden mehrere Phänomene: stärkere Verbindungen unter Gleichgesinnten, aber auch die stärkere Unterscheidung zwischen politischen und privaten Kontakten – genauso wie eine grundlegende Skepsis, die schnell auch gegen Verbündete umschlagen kann. Genau das ist Hossain widerfahren.

Private Freundschaften hat er vor allem mit Schulkollegen, die im Iran geblieben sind. Nachdem aber auch sie im iranischen Widerstand aktiv waren, sind viele mittlerweile nicht mehr am Leben. „Meine iranischen Freunde kann ich leider nur mehr an einer Hand abzählen – früher waren es viel mehr“, sagt Hossain. Mit ihnen wird dafür aber umso häufiger telefoniert, „wir vertrauen einander blind.“ Man hält zueinander und steht mit Ratschlägen, aber auch mit finanzieller Unterstützung bei Seite. Letzteres wurde Hossain bei seinen Wiener FreundInnen zum Verhängnis – er ist jahrelang für sie finanziell geradegestanden, und wurde zum Zeitpunkt des Zurückzahlens der Schulden stehen gelassen. „Meine finanzielle Unterstützung belief sich wohl auf rund 50.000 Euro – die ich nie wieder gesehen habe. Genauso wenig wie die Freunde“, sagt Hossain.

Trotzdem: Hossain ist weiter offen für neue Freundschaften. „Jeder Mensch ist anders und es stecken in allen Menschen auch gute Eigenschaften. Eine gute Freundschaft braucht Zeit, man muss sie aufbauen.“ Derzeit versucht er, seine Zeit jungen IranerInnen zu schenken, die ein offenes Ohr und eine Ecke zum Ausweinen brauchen, wenn sie nach ihrer Flucht neu in Wien angekommen sind. „Aber das sind eher Begegnungen und keine richtigen Freundschaften. Ich stehe alleine da.“ 

Wehr dich!

  • 13.11.2012, 06:29

Staatliche Zwangsarbeit oder ein Nazi-Heer? Unsere Autorinnen streiten um die Wehrpflicht.

Staatliche Zwangsarbeit oder ein Nazi-Heer? Unsere Autorinnen streiten um die Wehrpflicht.

PRO: Berufsheer? Nur über meine Leiche

Das Bundesheer hat sich über die Nachkriegsjahrzehnte hinweg wahrlich keinen guten Ruf gemacht: Schikanen, Autoritarismus und Zwangsarbeit sind meist die ersten Assoziationen ehemaliger Präsenzdiener – manchmal gar gespickt von Episoden gruseliger Geschichten über Fahrtendienste auf den Kärntner Ulrichsberg, auf den das Bundesheer mehr als fünf Jahrzehnte gebrechliche Anhänger der NS-Zeit zu einem geschichtsrevisionistischen Herbsttreffen führen musste. Wer den Dienst beispielsweise an der burgenländischen Grenze zugeteilt bekam, hatte persönlichen Erlebnisberichten zu Folge vergleichsweise noch Glück: Gegen die unsägliche Langeweile der Steppenlandschaft konnten zumindest ein Computerspiel und täglich zig verschlungene Wurstsemmeln helfen. Weniger autoritär und zeitvergeuderisch, aber doch auch problematisch, verhält es sich mit dem Zivildienst: Er führt dazu, dass das gesamte österreichische Sozialsystem auf unterbezahlter Zwangsarbeit fußt, die wiederum Lohndumping im Sozialarbeitssektor zur Folge hat.

Die nun bei der kommenden Volksabstimmung gestellte Frage zur Abschaffung der Wehrpflicht oder des verpflichtenden Zivildienstes für junge Männer im kommenden Jänner aber lautet: ,,Sind Sie für die Einführung eines Berufsheeres und eines bezahlten freiwilligen Sozialjahres oder sind Sie für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht und des Zivildienstes?‘‘

Ein Berufsheer? Nur über meine Leiche. Denn: Wen würde ein solches Heer denn ansprechen? Gerade in Österreich steht zu befürchten, dass das Heer schnell von rechten WaffenliebhaberInnen eingenommen würde. Führen Nationalratswahlen dann auch noch zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ und die Koalitionsverhandlungen zu einem blauen Verteidigungsministerium, hat es das Nachkriegsösterreich wieder geschafft, eine eindeutige historische Kontinuität zu früheren Zeiten zu schaffen.

Die derzeitige Regelung des verpflichtenden Präsenzdienstes oder Zivildienstes ist demgegenüber eben abseits einer abzuschaffenden Schikane für junge Männer ein System der Checks and Balances: Durch seinen für alle jungen Männer verpflichtenden und damit offenen Zugang verhindert es, dass das Bundesheer zum Staat im Staat, beziehungsweise zu einer militärischen Macht in den Händen von VertreterInnen einer einzelnen politischen Position gerät.

Die Antwort auf dieses Dilemma kann aber freilich keine Positionierung für weitere Zwangsarbeit und österreichischen Massenmilitarismus auf niedrigstem Niveau sein. Sie könnte nur lauten, das Bundesheer gänzlich abzuschaffen. Denn ein – in der Realität nicht ,,neutrales‘‘, sondern viel mehr postnationalsozialistisches – Österreich professionell zu bewaffnen, ist viel zu gefährlich. Katastrophenschutz kann man anders organisieren und für humanitäre Auslandseinsätze sollte es ein Berufsheer eines direktdemokratischen EU-Parlaments geben. Die beim Volksbegehren gestellte Frage zielt also auf eine fragwürdige Entscheidungsmöglichkeit und wird in keinem Fall eine Verbesserung bringen – kann aber im schlimmsten Fall eine professionelle Bewaffnung extrem rechter Positionen bedeuten. Daher sollte ihre Beantwortung entweder zugunsten der Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht oder – vielleicht treffender – eine ungültig abgegebene Stimme und damit ein Protest gegen die Fragestellung selbst sein. (Flora Eder)

Contra: verlorene Zeit für die ,,Heimat‘‘  

Eine Radarstation im Burgenland bewachen, Leberkäs‘-Semmerl im Soldheim verkaufen oder die Aufsicht über die Wäschekammer in der Kaserne. Wie sinnvoll ist das Bundesheer in seiner jetzigen Form?

Zwar musste ich selbst keinen „Dienst am Vaterland“ leisten, aber die Geschichten guter Freunde und Bekannter reichten aus, um mir ein Bild vom Bundesheer und der Wehrpflicht zu machen. Ob diese Erfahrungen im späteren Leben wirklich hilfreich sind, lässt sich bezweifeln. Neben der Sinnhaftigkeit vieler Aufgabenbereiche im Bundesheer sprechen aber auch noch andere Gründe für die Abschaffung der Wehrpflicht.

Zu den Aufgaben des Bundesheers zählen unter anderem internationale Solidaritätsleistungen im Fall von Katastrophen, Konfliktverhütung und Friedenssicherung. Beispiele hierfür sind die UN-Friedensmissionen auf den Golanhöhen und im Kosovo. Die zweimonatige Grundausbildung der Präsenzdiener reicht hierfür nicht aus, deshalb kommen in solchen Einsätzen auch jetzt schon primär Berufs- und MilizsoldatInnen zum Einsatz. Wenn sich das neutrale Österreich an Friedensmissionen im Ausland beteiligen will, dann mit gut ausgebildeten und kompetenten BerufssoldatInnen. In einem Berufsheer würden die angehenden SoldatInnen auf einem viel höheren Niveau ausgebildet und somit umfassend auf ihre späteren Aufgaben und Einsätze im In- und Ausland vorbereitet werden.

Eines der Hauptargumente für die Wehrpflicht ist, dass ein kleineres Berufsheer den (Natur-)Katastrophenschutz im Land nicht gewährleisten kann. Zwar stimmt es, dass Österreich im Falle einer Naturkatastrophe weniger Frauen und Männer zur Verfügung hätte, allerdings handelt es sich dann um SpezialistInnen. Diese können effizientere und somit bessere Hilfe leisten – Qualität vor Quantität also. Außerdem gibt es die Option, auf freiwilliger Basis einen Pool an KatastrophenhelferInnen aufzubauen, im Ernstfall zusätzlich mobilisiert.

Im Zuge der Wehrpflichtdebatte wird außerdem oft auf den Zivildienst als unverzichtbaren Bestandteil des österreichischen Sozialsystems verwiesen. Der Abschaffung der Wehrpflicht würde auch der Zivildienst zum Opfer fallen. Doch wie fortschrittlich ist ein Land, dessen Gesundheitsversorgung auf unterbezahlten und schlecht eingeschulten jungen Männern aufbaut? Das Argument, dass der Staat Österreich aus finanziellen Gründen auf die Zivildiener angewiesen sei, kann nicht geltend gemacht werden. Mit einem freiwilligen sozialen Jahr könnte ein Großteil der Zivildienst-Stellen nachbesetzt werden. Diese jungen Menschen würden erstens fair entlohnt und zweitens auch besser vorbereitet und ausgebildet werden.

Grundsätzlich sollte in der gesamten Diskussion nicht vergessen werden, dass es sich bei der Wehrpflicht – ob Mann nun Rekrut oder Zivildiener ist – um staatliche Zwangsarbeit handelt. Auch wenn es manchmal in Österreich nicht so scheint, schreiben wir das Jahr 2012. Folglich sollte diese Art von staatlicher Arbeitsverpflichtung, und möge sie noch so sehr dem Wohl der Gesellschaft und der ,,Nation‘‘ dienen, schon längst Geschichte sein.  (Katrin Walch)

„Geregelter Zugang in stark nachgefragten Fächern“

  • 05.10.2012, 16:42

Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle versucht sich in Schweigen zu hüllen und sagt trotzdem, dass an Zugangsbeschränkungen für ihn grundsätzlich „in stark nachgefragten Fächern“ kein Weg vorbeiführe. Diese „Fremdselektion der Interessen von Studierenden“ sei ungerecht, kontert Martin Schott vom Vorsitzteam der ÖH im progress Streitgespräch. Oona Kroisleitner und Flora Eder moderierten.

Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle versucht sich in Schweigen zu hüllen und sagt trotzdem, dass an Zugangsbeschränkungen für ihn grundsätzlich „in stark nachgefragten Fächern“ kein Weg vorbeiführe. Diese „Fremdselektion der Interessen von Studierenden“ sei ungerecht, kontert Martin Schott vom Vorsitzteam der ÖH im progress Streitgespräch. Oona Kroisleitner und Flora Eder moderierten.

progress: Durch das aktuelle ÖH-Gesetz ist eine Stimme bei den ÖH-Wahlen aus Leoben noch immer mehr Wert als eine Stimme von der KFU Graz. Minister Töchterle, die ÖVP strebt nach einem Mehr an Demokratie. Warum gilt das nicht für die ÖH?

Karlheinz Töchterle: Aus meiner Sicht ist die direkte Wahl der bundesweiten Vertretung der Studierenden sehr wohl möglich, wenn diese Position von allen Fraktionen getragen wird. Das wird sie aber offenbar nicht – und ich werde sie auch nicht gegen die stärkste Fraktion in der ÖH, die Aktionsgemeinschaft, durchsetzen. Vielleicht sehe ich das aber zu simpel oder einseitig.

progress: Martin Schott, warum ist für  die ÖH die Reform so wichtig?

Martin Schott: Der derzeitigen ÖH Koalition geht es hier um eine Grundfrage: Wird die ÖH demokratisch gewählt oder nicht? Jede Stimme, egal ob von Studierenden der Kunst Uni Linz oder der Uni Wien muss gleich viel wert sein.

Töchterle: Aber man muss schon sehen: Ich kann das nicht gegen die größte Fraktion machen. Deswegen lade ich alle Fraktionen zu einem Gespräch ein. Da werden wir weitersehen.

progress: Die Presse bezeichnete Sie, Minister Töchterle, in den letzten Tagen aus diesem Grund als „Handlanger“ der Aktionsgemeinschaft. Wie gehen Sie mit der Kritik um?

Töchterle: Das habe ich auch gelesen. Ich weise das zurück.

progress: Eben sagten Sie aber noch, es gibt keine Wahlrechtsreform, wenn die AG nicht zustimmt.

Töchterle: Ich entscheide das nicht gegen die größte Fraktion. Diese könnte genauso VSStÖ oder GRAS heißen: Wenn sie sagen, „Mit uns nicht“, dann wäre das genauso ein Grund, mir zu überlegen, ob ich das mache. Jetzt ist es zufällig die AG, deshalb bin ich aber nicht ihr Handlanger.

progress: In der „Presse“ von Donnerstag werden zusätzliche Zugangsbeschränkungen in den Fächern Architektur, Wirtschaftswissenschaften, Biologie und Pharmazie angekündigt. Ist das Ihr neuer Vorschlag, Herr Minister?

Töchterle: Ich habe das gegenüber der „Presse“ nicht angekündigt und halte mich auch weiterhin an die Vereinbarung mit dem Koalitionspartner, dass wir erst nach einer Einigung an die Öffentlichkeit treten. Nur so viel: Aufs Ganze gesehen soll es am Schluss nicht weniger Studienplätze geben. Das war der Wunsch von Andrea Kuntzl (Wissenschaftssprecherin der SPÖ, Anm.) und entspricht auch meinem Anliegen. Für Details ist es noch zu früh, die Gespräche laufen.

progress: Zugangsbeschränkungen sind also eine Option?

Töchterle: Ich hab immer gesagt, Universitäten müssen – so wie viele andere Einrichtungen – ihre Kapazitäten leben. Dazu stehe ich. Das ist für mich sowas von plausibel, dass ich überhaupt nicht weiß, wie man etwas anderes verlangen kann. Aber gut.

progress: Martin Schott, die ÖH ist da ja anderer Meinung...

Schott: Es ist schade, dass Verhandlungen zur Verbesserung der Studienbedingungen ohne die ÖH ablaufen. Denn wir hätten da einige Ideen. Und man würde definitiv ohne Zugangsbeschränkungen auskommen.

Töchterle: Das schaue ich mir an. Mit welchen Maßnahmen? Ich kenne Ihr Papier [An. der Red.: Forum Hochschule] – Eine Milliarde mehr. Wir brauchen aber gerade in stark nachgefragten Fächern einen geregelten Zugang.

Schott: Zugangsbeschränkungen sind eine Fremdselektion von Interessen. Dabei gibt es bereits jetzt eine gewisse Planungssicherheit durch die eigenen Interessen der Studierenden. Wir halten es für wichtig, dass Studierende ihr Studium frei wählen, die Berufswahl frei treffen und sich für jene Zukunft entscheiden können, die sie haben wollen.

Töchterle: Und ihre Vorstellungen wollen Sie in der ganzen EU durchsetzen?

Schott: Ja, warum nicht? Wir haben uns auf einen europäischen Bildungsraum geeinigt.

Töchterle: Gehen Sie dann nach Rumänien Studienberatung machen?

Schott: Das ist wohl nicht Aufgabe der ÖH. Aber dieser Weg der Fremdselektion von Interessen kann meiner Meinung nach nicht das Ziel eines Ministeriums oder einer Gesellschaft in Europa sein.

Töchterle: Was tun sie, wenn statt 25.000 jetzt 40.000 Studierende an die WU wollen?

Schott: Immer diese Horrorszenarien aufzubauen, find ich nicht in Ordnung.

Töchterle: Ihre Vorstellungen können Sie vielleicht in Österreich umsetzen. Vielleicht. Aber nicht in der EU.

Schott: Die Perspektive der EU so kurz zu setzen, finde ich nicht in Ordnung. Ich kann mir zwar vorstellen, dass es relativ schwierig sein wird, europaweit 27 Staaten auf ein einheitliches System zu bringen. Aber dennoch glaube ich, dass wir diese Perspektive haben.

progress: Ebenso am Donnerstag haben Sie, Minister Töchterle, in der Kleinen Zeitung gesagt, Sie fänden die geschlechtergetrennte Auswertung des EMS-Tests diskriminierend. Wieso musste die Med Uni Wien überhaupt zu diesem Verfahren greifen? Müsste nicht eher etwas am Test geändert werden?

Töchterle: Es liegt wohl nicht an dem Test – in der Schweiz gibt es den gleichen und er wirkt dort nicht geschlechterselektiv – sondern an der Ausbildung der Schülerinnen und Schüler. Sie kommen mit verschiedenen Voraussetzungen zu diesem Test.

Schott: Das sehe ich anders, auch der Test ist zu kritisieren. Aber ja, das Schulsystem ist in Österreich möglicherweise schon so aufgebaut, dass es von Anfang an diskriminiert und damit auch der EMS-Test geschlechterselektiv wirkt.

Töchterle: Ich würde eher sagen, es könnte sein, dass das österreichische Bildungssystem auf diesen Test hin nicht neutral ausbildet. Dass das Schulsystem insgesamt die Mädchen diskriminiert, würde ich nicht sagen. Es gibt auch einige Felder, wo Burschen diskriminiert werden. Beim EMS-Test wirkt es so, als ob Mädchen eine Benachteiligung gegenüber Burschen hätten.

progress: Und so lange die Ursachen im Schulsystem nicht behoben sind, halten Sie, Minister Töchterle, es für diskriminierend dem via Quoten entgegenzuwirken?

Töchterle: Ich sehe diese Auswertung problematisch. Ich versetze mich hier in die Situation der jungen Burschen, die diesen Test bewältigt haben, aber dann keinen Platz bekommen, weil sie durch eine Quotenregelungen gegenüber Mädchen, die schlechter abgeschnitten haben, zurückgestellt werden.

Schott: Ich frage mich, wie es den Frauen der letzten Jahre geht, die durch die Diskriminierung seitens des Schulsystems nicht das Studium ihrer Wahl aufnehmen konnten.

Töchterle: Wer die Prüfung besteht, hat doch das Recht auf einen Studienplatz. Und wer die Leistung nicht erbringt, nicht. Wo wir für Gerechtigkeit sorgen können, da sollten wir es tun. Und hier bin ich dafür, dass der, der die Leistung erbracht hat, auch dafür honoriert wird.

progress: Ist das auch aus der Sicht der ÖH ein fairer Ansatz?

Schott: Nein, ich bin dafür, dass man Diskriminierung überhaupt nicht zulässt. Warum sollte man Diskriminierung einfach bewusst fortsetzen?

Töchterle: Natürlich wäre das das Ideal. Sie sind für die ideale Welt, das wissen wir. Aber: Dass man die Burschen diskriminiert, nur weil sie Burschen sind, das ist keine Diskriminierung?

Schott: Gleichzeitig wirft man Frauen hinaus, nur weil sie Frauen sind.

Töchterle: Nein, die Mädchen haben die im Test geforderte Leistung anscheinend nicht erbracht.

progress: Martin Schott, es stehen die Klagen wegen der autonom eingehobenen Studiengebühren vor der Tür. Wenn der VFGH den Klagen stattgibt, würdesn Sie dann dem Minister empfehlen, den Berater zu wechseln?

Schott: Meiner Ansicht nach hätte man Nein zu Studiengebühren sagen und damit dem politischen Willen des Nationalrates folgen sollen, der ganz klar gesagt hat, dass er keine Studiengebühren will. Insofern wäre man anders besser beraten gewesen.

Töchterle: Professor Mayer ist Dekan der juridischen Fakultät in Wien und ein hoch angesehener Verfassungsrechtler. Da gibt’s nichts zu wechseln. Er ist der Ansicht, dass autonom eingehobene Studienbeiträge rechtskonform sind. Dieser Ansicht schließe ich mich an. Aber das Gesetz ist immer auch eine Interpretationsfrage.

progress: Der Dr.-Karl-Lueger-Ring in Wien wurde soeben in Universitätsring umbenannt. Herr Töchterle, Sie sind Mitglied des Cartellverbands, in dessen Zeitung Academia nachzulesen ist, dass dieser Umstand dem CV nicht passt, weil Lueger ein angesehener Cartellbruder war. Wie stehen Sie persönlich zur Umbenennung des Luegerrings?

Töchterle: Universitätsring ist ein sehr treffender Name. Was man auch sehen muss: Dass man hier jemanden aus dem Gedächtnis streicht, weil er zur Persona non grata geworden ist. Das hat man in der Antike „damnatio memoriae“ genannt. Dort ist das Kennzeichen von sehr harter Macht gewesen. Das ist also eine durchaus ambivalente Sache. Lueger war auch antisemitisch. Ich weise daher auf die Ambivalenz hin.

"Die Sanktionen wirken"

  • 28.09.2012, 00:31

Die deutsch-iranische Publizistin Saba Farzan gibt dem Regime Irans nur mehr wenige Jahre an der Macht. Flora Eder erzählte sie von der iranischen Studierendenbewegung, vom Kampf für Frauenrechte und von gefälschten Wahlen.

Die deutsch-iranische Publizistin Saba Farzan gibt dem Regime Irans nur mehr wenige Jahre an der Macht. Flora Eder erzählte sie von der iranischen Studierendenbewegung, vom Kampf für Frauenrechte und von gefälschten Wahlen.

PROGRESS: Das Lager des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad wurde bei den Parlamentswahlen im März abgestraft. Wird sich im Iran nun etwas ändern?

Farzan: Nein, das bedeutet das Wahlergebnis definitiv nicht. Außerdem kann man leider nur von einer Wahlfarce sprechen. Von Vornherein war die Auswahl der Kandidaten vom Wächterrat fixiert. Aber es regt sich starker Widerstand. Das Regime hätte zwar gerne, dass der Iran ein zweites Nordkorea wird, aber mit der jungen Generation geht das nicht. Sie boykottierten ja auch die Wahl: Das ist die einzige vernünftige Art, mit einer solchen Wahlfarce umzugehen.

Hat der Boykott der Opposition also etwas gebracht?

Sagen wir so: Witzig finde ich, dass im Iran angeblich 64,2 Prozent der Bevölkerung gewählt haben - und wenige Tage zuvor in Russland ebenso 64,2 Prozent. Bei beiden Wahlen können wir davon ausgehen, dass das eine Zahl ist, die von den staatlichen Medien ausgegeben wurde, und dass die tatsächliche Wahlbeteiligung deutlich niedriger ist. Auch wenn wir nicht genau wissen, wie hoch die Teilnahme am Boykott war, so war er auf jeden Fall deutlich und erfolgreich.

In österreichischen Medien wurden die Gegenkandidaten von Ahmadinejad als konservativ dargestellt. Passt dieses Wort?

Konservativ wäre zu nett. Es geht um fundamentalistische Positionen, sowohl nach innen als auch nach außen. In diesem Regime gibt es keine Schattierungen, keine verschiedenen Fraktionen, die für unterschiedliche Positionen stehen. Von daher ist der zur Schau gestellte „Pluralismus“ ein PR-Manöver des Regimes gewesen, damit die internationale Staatenwelt getäuscht und vom wahren Charakter des Regimes abgelenkt wird.

2009 hast du dich im Rahmen eines Vortrags sehr optimistisch gezeigt, dass das schon der Anfang des Endes des Regimes sei. Wie siehst du das heute?

Die Zeit arbeitet für uns. Die Sanktionen wirken. Der Druck auf das Regime ist sehr groß. Es ist ja nicht durch Legitimität, nicht durch demokratische Wahlen, nicht durch irgendeine Art der Unterstützung aus der Bevölkerung an der Macht. Sondern es ist einfach nur durch Repression an der Macht geblieben und das reicht nicht, um auf Dauer weiterzumachen.

Wie stark ist die Opposition derzeit, wie stark ist die Repression?

Die Repression ist menschenverachtend und sie ist so dermaßen groß, dass sie an die Anfangszeit dieser Diktatur erinnert, mit unglaublich vielen Todesurteilen, die in den letzten zwei Jahren ausgesprochen und vollstreckt wurden. Mit unglaublich hohen Gefängnisstrafen für politische und gesellschaftliche AktivistInnen. Trotzdem geht der Protest von 2009 weiter. Er hat aber andere Formen angenommen und ist nicht mehr auf den Straßen des Irans unterwegs. Aber in der Blogosphäre ist er sehr aktiv und hat sich auch in der Substanz verändert: Es geht um das Ende des Regimes und nicht mehr einfach nur um Reformen.

Zeigt sich das auch in der Popkultur?

Ja. Beispielhaft finde ich einen aktuellen Rap-Song, der die Solidarität mit der syrischen Freiheitsbewegung ausdrückt. In dem Text geht es darum, dass die ganze Welt über Israel spricht, während in Syrien tausende Menschen ermordet werden und nichts dagegen getan wird. Es gibt also eine Solidarität auch mit anderen Bewegungen im Nahen Osten, und das ist eine Bewegung, die sich klar gegen Antisemitismus und Antizionismus stellt. Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte es das noch nicht gegeben.

Und wie verhält sich das in puncto Frauenrechte?

Schon vor 2009 gab es die Initiative für die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern, und das war eigentlich der Vorläufer für die Protestbewegung 2009. Denn bei den Frauenrechten sieht es im Iran genau so schlecht aus wie vor drei Jahrzehnten, als das Regime an die Macht gekommen ist. Die Islamische Republik versucht die Frauen zurück an die Kochtöpfe zu drängen. Die Iranerinnen machen das aber nicht mit. Das wurzelt auch in ihren eigenen Familien, weil die jüngere Generation der Iranerinnen schon sehr starke Mütter und Großmütter erlebte, die eben teilweise schon säkular geprägt waren, kein Kopftuch trugen und zu Hause in ihren privaten Räumen aufgeklärte Religion gelebt haben.

Es studieren besonders viele Frauen an iranischen Universitäten - trotz der starken Diskriminierung. Wie äußert sich die?

1982 gab es eine Art kulturelle Revolution an den Universitäten. Davor war es so, dass Frauen zu fast zwei Drittel der naturwissenschaftlichen Fächer nicht zugelassen waren. Das hat sich mittlerweile geändert. Nicht geändert hat sich allerdings, dass Studentinnen einer unglaublichen Benachteiligung ausgesetzt sind - es ist ja auch ein Bildungssystem, das von einem Regime geschaffen wurde, das Frauen als minderwertig betrachtet. Die junge Generation arbeitet aber stark autodidaktisch. Denn an den Unis lernen sie nicht akademisches Wissen, sondern Linientreue.

Worin unterscheidet sich der Alltag einer iranischen Studentin am meisten von dem einer österreichischen Studentin?

Im privaten Bereich unterscheidet sich der Alltag bestimmt überhaupt nicht. Er unterscheidet sich nur dann, wenn man einen Fuß vor die Haustür setzt. Zentral ist die Zwangsverschleierung. Es geht damit weiter, dass an den Universitäten die Geschlechter getrennt sind, und eigentlich separate Eingänge benutzt werden müssten - das wird aber boykottiert. Junge Frauen werden aufgrund ihres Make-Ups schikaniert und sind massiven Repressionen durch die Universitäten ausgesetzt. Studentinnen können sich auch in Studierendenvertretungen nicht politisch engagieren. All diese Geschichten müssen im Iran im Untergrund stattfinden. Viele der StudentInnen sind dafür auch im Gefängnis gelandet und wurden teilweise auch mit sehr hohen Haftstrafen bestraft. Der Mut ist aber keineswegs gebrochen.

Wie setzt sich denn die Studierendenbewegung aus sozialer Sicht zusammen?

Studieren ist im Iran eine sehr teure Angelegenheit. Es gibt Studiengebühren, die selbst für Familien aus der Mittelschicht nicht einfach zu tragen sind. Und das Schulsystem ist immer noch aus der Schah-Zeit. Wenn die Leute ihr Abitur gemacht haben, steht noch eine Aufnahmeprüfung für die Uni an. Die Vorbereitungszeit dafür beansprucht manchmal ein ganzes Jahr. Privatinstitutionen bereiten auf diese Prüfung vor - auch das kostet Geld. Trotzdem versuchen auch Familien aus ärmeren Schichten mit großem Aufwand, ihre Kinder auf die Unis zu bringen.

Wie verhält es sich mit Protest gegen das staatliche Vorgehen gegen homosexuelle Personen?

Obwohl die iranische Gesellschaft modern ist, ist Homosexualität noch ein Stück weit Tabuthema. Wenn, dann wird Homosexualität innerhalb der Familien geschützt. Es gilt hier aber noch immer sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Das Regime geht brutal gegen Homosexuelle vor, verhaftet sie, setzt sie massiver Repression aus und hängt sie an Baukränen auf. Das macht natürlich auch Aufklärungsarbeit sehr schwierig. Aber die junge Generation kriegt über das Internet mit, dass die Rechte von Homosexuellen in der westlichen Welt sehr wohl ein Stück weit gesichert sind.

Ahmadinejad sagte ja einmal, im Iran gebe es keine Homosexualität.

Ja, weil das Regime ja auch versucht, so viele wie möglich zu erhängen.

Greifen die Sanktionen gegen das iranische Regime?

Die Sanktionen greifen nicht nur, sondern sie schädigen massiv die Geschäfte und den täglichen Handel des Regimes. Das ist immer eine gute Nachricht. Natürlich treffen die Sanktionen aber auch die Bevölkerung. Sie ist aber bereit, das in Kauf zu nehmen: Sie wollen, dass dieses Regime bankrottgeht. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Sie wissen auch, dass die Sanktionen die einzige Möglichkeit sind, um eine militärische Intervention zu verhindern. Das Regime selbst ist in sich zerstritten, und eigentlich dabei, sich selbst zu zerlegen. Da wird die Wirkung der Sanktionen in den kommenden Wochen noch stärker sein.

Wie lang hat das Regime also noch Zeit?

Ich bin leider keine Hellseherin - ich kann kein Datum nennen. Aber ich hoffe und bin recht zuversichtlich, dass diese Parlamentswahlen im März die letzten der Islamischen Republik waren.

Saba Farzan ist deutsch-iranische Publizistin und Autorin. Sie studierte an der Universität Bayreuth Theaterwissenschaft, Amerikanische Literaturwissenschaft und Soziologie mit Forschungsaufenthalten in New York und an der Yale University.

„Wir landeten im Gefängnis“

  • 18.09.2012, 20:54

Der Barkeeper des legendären Stonewall Inn in New York, Tree, ist stolz auf seinen Job. progress-Redakteurin Flora Eder erzählt der Zeitzeuge über die Riots, die im Jahr 1969 den Startschuss der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung abgaben, Polizeirepression und Obamas Vorstoß in puncto gleichgeschlechtlicher Ehe.

Der Barkeeper des legendären Stonewall Inn in New York, Tree, ist stolz auf seinen Job. progress-Redakteurin Flora Eder erzählt der Zeitzeuge über die Riots, die im Jahr 1969 den Startschuss der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung abgaben, Polizeirepression und Obamas Vorstoß in puncto gleichgeschlechtlicher Ehe.

Die Sonne ist an diesem Tag besonders stark. Tree besteht aber darauf, sich direkt unter sie und vor das Stonewall Inn zu setzen. „Die nächsten Tage soll es regnen“, sagt er. Für den mittlerweile 73jährigen Zeitzeugen der Stonewall Riots ist es nicht das erste Interview. Seine Biographie wurde auf CNN ausgestrahlt, und wenn der US-Präsident ankündigt, für gleichgeschlechtliche Ehe einzutreten, dann bitten US-Medien auch Tree um seine Einschätzungen und Kommentare. Das Gespräch muss immer wieder unterbrochen werden, weil Tree Leute begrüßt, die vorbeikommen. Auch ein alter Highschool-Freund, der ihn noch mit „Hi, Freddy!“ begrüßt. „Sonst nennen mich aber alle Tree“, sagt er.

progress: Was ist in der Nacht der Stonewall Riots geschehen, in der Nacht des 27. Juni 1969?

Tree: Aus persönlicher Sicht schien es vorerst eine Nacht wie jede andere: Wir sind in dem Lokal Mamas Chicken Rib, nicht weit weg von hier, als Gruppe abgehangen, und haben im Stonewall Inn vorbeigeschaut, um noch etwas zu trinken und zu tanzen. Betrunken waren wir in dieser Nacht übrigens nicht – die Getränke waren nämlich stark mit Wasser verdünnt. Das heutige Stonewall Inn  umfasst nur die damalige Tanzfläche – es war damals ungefähr doppelt so groß, und der Eingang und die Bar waren dort, wo sich heute der Maniküre-Salon befindet. Wir tanzten und als die Polizei das Stonewall Inn betrat, konnten wir also durch die andere Tür schnell flüchten.

Als die Polizei ins Stonewall Inn kam – was geschah da genau?

Die Polizei nahm etliche Menschen fest – darunter Drag Queens und Lesben in Männerkleidung. Geschlechtsuntypische Kleidung zu tragen, war damals sogar ein Grund, ins Gefängnis zu wandern. Wenn du als Mann Frauenkleidung trugst, musstest du mindestens drei „männliche Erkennungsstücke“ mit dir mittragen, sonst wurdest du verhaftet. Und vice versa war es für die Lesben. Die Polizei nahm auch den Kellner und die Inhaber fest. Als wir auf die Straße kamen, hat uns hier bereits eine kleine Menschenmenge von 30 Personen erwartet.

Um zu demonstrieren?

Ja, genau. Schnell wurden es 70, dann 150, dann 200, dann 700 Menschen. Zu guter Letzt haben sich über 1000 Menschen auf diesem Platz eingefunden. Die Türen der Bar wurden von außen verschlossen, Steine wurden geworfen. Einige schüttelten so lange an einem Parkzähler, bis sie ihn aus dem Gehsteig herausreißen konnten und nutzten ihn ebenfalls als Verschluss für die Türe. Aber die Polizei hätte sich ohnehin nicht mehr getraut, herauszukommen. Sie schrien um Hilfe, aber niemand im Grätzl unterstützte sie. Als dann Müll  angezündet wurde, gingen die Riots los – und ich lief davon. So ging es Vielen. Viele hatten Angst, dass ihre Eltern in den Medien davon lesen würden, dass sie schwul oder lesbisch seien, und versteckten sich.

Wie ging es mit den Demonstrationen weiter?

Wir gingen zurück in unser Lokal um die Ecke und schworen einander, nicht zu sagen, dass wir beim Stonewall Inn gewesen waren. Glücklicherweise kam die Polizei nie ins Mamas Chicken Rib. Aber am darauffolgenden Tag war es schon in allen Zeitungen. Und aus dem sehr bekannten Frauengefängnis, das sich gleich hier in der Nähe befand – hier war zum Beispiel Angela Davis gefangen – hörten wir von den Lesben immer wieder laute Rufe, die forderten, zurückzuschlagen und sich das nicht länger von der Polizei gefallen zu lassen. Permanent wurden uns von der Polizei Gesetzesüberschreitungen unterstellt, die wir niemals begangen hatten. Nur weil wir in einer Schwulenbar waren, landeten wir häufig im Gefängnis, so lange, bis jene RichterInnen, die darauf bestanden, ausreichend Schmiergeld erhielten, um uns wieder freizulassen.

Die Stonewall Riots waren der Startschuss für die moderne Schwulen- und Lesbenbewegung. Warum waren diese Proteste so erfolgreich?

Ich weiß nicht, warum ausgerechnet sie so erfolgreich waren. Ich kann mich erinnern, dass es mich verwunderte, wie schnell es ging, dass hier überall Regenbogenfahnen hingen und Proteste organisiert wurden. Bei einem der großen Protestmärsche gingen ich und meine Clique mit, aber nur auf der Seite. Ich bin so groß und hatte immer besondere Angst, sofort im Fernsehen erkannt  zu werden. Wir wurden von den PassantInnen als Queers, Fags, Lesben und so weiter beschimpft, und glaubten auch, dass es mit diesen Demos dann wieder vorbei sein würde. Wir konnten ja nicht ahnen, dass es bis zu unserem Lebensende nicht mehr aufhören würde.

Wer waren die Menschen, die damals auf die Straße gingen?

Hauptsächlich waren es Männer, einige waren auch Heteros. Sie engagierten sich aber meist nur, um für andere Belange zu agitieren. Und wie bei jeder Demo waren auch bei uns welche, die sich nur mit der Polizei anlegen  wollten. Trotzdem waren es meist sehr ruhige Demos, an denen etliche Hippies und nette Menschen teilnahmen. Überwiegend waren die TeilnehmerInnen aber Menschen, die keine Familie in New York hatten oder die bereits geoutet waren. Auch ich habe meiner Mutter lange Zeit nicht gesagt, dass ich schwul bin: Sie wusste zwar, dass ich immer wieder in dieses Viertel kam, jedoch nicht, welche Bars ich hier besuchte. Als sie es eines Tages herausgefunden hatte, sagte sie nur: „Oh.“ Das war das Ende des Gesprächs.

Immerhin besser, als wenn sie sich empört hätte?

Nun ja. Mütter sind Mütter.

Gingen auch viele Lesben bei den Demos mit?

Natürlich. Außerdem haben wir uns immer gegenseitig als TanzpartnerInnen gebraucht, um nicht als homosexuell aufzufallen. Jedoch gab es auch jene Lesbenbars, in denen Männer nicht erlaubt waren. Mir hat besonders jene Lesbenbar gefallen, deren Besitzerin für gemischtes Publikum eintrat und sagte, dass Lesben und Schwule gemeinsam kämpfen sollten.

Was veränderte sich durch die Stonewall Riots unmittelbar?

Davor war alles top secret: Man musste an der Bartür klopfen, bevor man sich hineinschleichen konnte – und wenn du nicht wusstest, wo eine Bar war, hast du auch keine gefunden. Das hatte seinen Zweck, auch meine FreundInnen in Brooklyn hätten mich verprügelt, hätten sie gewusst, dass ich schwul bin.

Sind Sie stolz, damals dabei gewesen zu sein?

Natürlich bin ich stolz darauf. Aber immer, wenn sich wer bei mir bedanken möchte, weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Wir konnten ja gar nicht ahnen, welche Dimensionen das annehmen würde. Heute gibt es auf der ganzen Welt Regenbogenfahnen – und sogar Lokale, die nach dem Stonewall Inn benannt werden. Erst kürzlich hat eines in Deutschland aufgemacht. Das Interesse an den Protesten und daran, was damals passiert ist, ist ungebrochen.

Auch von Seiten jüngerer Leute?

Viele von ihnen wissen gar nicht, was damals passiert ist. Deswegen gehe ich auch in die Schulen und unterrichte dort. Ich finde, das ist das Beste, das man gegen Homophobie machen kann. Mir ist auch wichtig, zu vermitteln, dass sie ihr Leben genießen sollen – und verhüten!

In den USA ist ja die Debatte über gleichgeschlechtliche Ehen voll im Gang. Wird Barack Obama damit Erfolg haben?

Ich denke, New York wird geschlossen hinter Obama stehen. Was mich jedoch schockiert, sind erste Umfragen, die zeigen, dass ein großer Teil der AfroamerikanerInnen und der spanischsprachigen Community gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ist. Aber ich denke trotzdem, dass Obama auch die nächsten vier Jahre US-Präsident bleiben wird – und ich bin ihm sehr dankbar.

Wird sich das Leben von LGBTQ-Personen dadurch wirklich so sehr ändern?

Nein – aber es wird Schritt für Schritt besser. Ein Kampf nach dem anderen, little by little.

Ich wollte ein Männerleben leben

  • 13.07.2012, 18:18

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Wir trafen die selbsternannte Weltenbürgerin Katja Kullmann, die schon zwischen Financial Times, dem Freitag, der EMMA als auch der GALA oder für Sie bummelte, an einem windigen Vormittag auf der Prater Hauptallee in Wien. Bei einem Kaffee am dortigen Antifaschismus-Platz erklärt sie uns, wo bei dieser Bandbreite an Medien ihre Loyalität liegt: Bei den linken Feministinnen, auch wenn die nicht mehr so viel EMMA lesen wie früher. In ihrer Erzählung spannt Katja Kullmann große Bögen, baut argumentative Kurven – und steht dabei aber immer auf dem Boden der Realität.

PROGRESS: Du beschäftigst dich in deinen Büchern sehr stark mit dem Generationenwandel. Was unterscheidet dich von der heutigen Studentin?

KULLMANN: Meine Frauengeneration hatte noch ein durchwegs positives Ideal von Freiheit und Autonomie. Das war für uns noch nicht neoliberal besetzt, sondern eine positive Utopie. Ich war eine Nach-68erin, hatte vereinzelt LehrerInnen, die sehr liberal waren. Ich gehöre zur ersten Frauengeneration, die zum Selbstbewusstsein erzogen wurde. Alte Säcke als Lehrer hatte ich zwar schon noch im Gymnasium, aber eine oder zwei junge Kolleginnen waren auch dabei. Zwischen diesen Polen bin ich aufgewachsen. Mein Ziel war es, mein Leben größer zu machen, als das meiner Eltern. Wir hatten das Versprechen vor uns, dass die Kindergeneration ein Stückchen weiter kommen sollte. Das habe ich absolut verinnerlicht. Ich bin dabei nicht der Schrankwand-Typ und ich brauche kein teures Auto, aber ich bin immer viel gereist und das war mir in puncto Freiheit und Autonomie immer wahnsinnig wichtig.

Sollte der Begriff Freiheit aus linker Perspektive zurückerobert werden?

Ich habe den Deal immer als fair empfunden: Ich strenge mich an, schreibe gute Noten und lerne Fremdsprachen, und damit komme ich dann weiter. Das war der Plan: nicht früh zu heiraten, nicht an den Herd gefesselt zu sein und auch was die Berufstätigkeit betrifft, mich nicht über 40 Jahre hochdienen müssen. Vor allem: immer selbstständig sein, von niemandem abhängig, und bloß Staats-Stipendium beantragen oder sowas. Heute reibe ich mich daran, dass es letztlich ein lupenrein neoliberaler Entwurf des Ich ist – ein perfekter Yuppie-, Westerwelle-, FDP-Lebenslauf. Obwohl es ursprünglich widerständig gemeint war. Die jüngere, eure Generation, ist da viel realistischer: Ihr wisst, wie hart es aussieht. Ihr habt den Vorteil, dass sich der Restglaube an Statussicherheit erübrigt hat. Keiner rechnet wahrscheinlich mit einer festen Anstellung oder anderen verlässlichen sozialen Absicherungen.

Wie hat sich diese Vorstellung vom perfekten Lebenslauf verändert?

Die Marge der Leute, die sich heute noch Praktika leisten können, wird immer kleiner: Denn sie werden nicht mehr bezahlt. Damit spielt das Elternhaus eine viel größere Rolle. Bei meinen Praktika war zumindest die Unterkunft gedeckt. Herkunftsfragen werden für Männer wie auch Frauen wichtiger. Denn Ausbildung ist unser neues Gut, unser weiches Kapital. Es ist zunehmend ungerecht verteilt, weil der Zugang schwerer wird.

Wie geht die Generation Praktikum mit den schlechten Rahmenbedingungen um?

Bei den Mittzwanzigern und Jüngeren gibt es aus meiner Sicht einerseits solche, die das, was man in den 80ern Ellenbogengesellschaft nannte, extrem fahren. Das ist die Gruppe, die sich extrem ins Private zurückzieht, eine Affinität zu Psychotherapien und zu einer unglaublichen Innerlichkeit entwickelt hat. Sie wollen sich schützen und besitzen eine kaltschnäuzige Statusangst. Auf der anderen Seite sehe ich eine ganz starke Repolitisierung, gerade bei jungen Frauen, die unbelastet schwere Begriffe, mit denen meine Generation noch Schwierigkeiten hatte, wie Solidarität, auf den Lippen haben. Allein das Wort Feminismus nehmen die Jüngeren viel sportlicher in die Hand und sprechen es aus. Ich glaube, es gibt die Streber und die, die sich politisieren.

Warum fangen trotzdem so wenige etwas mit dem Wort Feminismus an?

Man sollte das nicht zu kleinreden. Ich sehe wirklich viele junge Frauen, die versuchen, den Feminismus neu zu bespielen, ihm neue Inhalte zu geben. Es gibt aber viele Ängste. Wir leben in einem Klima, in dem es einerseits diese starken, politisierten Bewegungen gibt und andererseits aber diese Diskussion, wo unglaublich schnell geschlechtsübergreifend abgewatscht wird. Es gibt viele Leute, die sagen, sie würden lieber hungern, als im Lidl bei den abgeranzten Hartz-IV-Leuten einkaufen zu gehen. Die Angst davor, zur „Gutmenschin“ oder „Wutbürgerin“ erklärt zu werden, ist heutzutage riesig. Denn als solches abgestempelt zu werden, macht dich zum Problemfall, zur Querulantin. Das ist ein Spiegel dieses Funktionieren-Müssens. Erstmals betrifft das beide Geschlechter: Dieser Leistungsdruck, diese fröhlich wirkende Stromlinienförmigkeit, die man erfüllen sollte, und die sehr stark ins Persönliche reicht. Damit hängt auch die Angst zusammen, das Wort Feminismus in den Mund zu nehmen, denn es klingt nach Problemen, nach Haltung. Seit den späten 90ern heißt es: Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Genau das ist aber die neue Ideologie.

Inwiefern wirkt sich das neue Prekariat auf die Geschlechterverhältnisse aus?

Es gibt dieses Zitat, dass es in jeder Schicht oder Klasse eine Unterklasse oder Unterschicht gibt, und das sind die Frauen. Seit über 20 Jahren kennen wir dieselben Zahlen: Frauen verdienen im Schnitt, quer durch alle Branchen, noch immer rund ein Viertel weniger als Männer. Und wenn sie zur Alleinerziehenden werden, ist das Armutsrisiko besonders hoch. Gerade in der sogenannten Kreativbranche werden Frauen, denen es beruflich oder finanziell mal nicht so gut geht, schnell pathologisiert – als ob sie ein psychologisches Problem hätten. Da heißt es dann: Die trinkt, die nimmt Drogen, die ist depressiv. Typen können genauso abgebrannt sein, aber potentiell gibt es immer das Bild vom Cowboy oder dem Lonely Wolf, wo gesagt wird, der hat einfach eine schwierige Phase. Genau dieses Bild – der lonesome rider, immer unterwegs, die Welt entdecken – war übrigens eine Art Leitbild für mich, als ganz junges Mädchen. Das hat wieder mit dem unbedingten Willen zur Autonomie zu tun: Es gab fast nur männliche Vorbilder dafür. Im Grunde wollte ich immer eher ein Männerleben führen, denke ich. In Teilen ist mir das auch gelungen.

Nach dem Erfolg deines Buches „Generation Ally“ und deiner Zeit als selbständige Journalistin folgte bei dir eine sehr prekäre Phase als Hartz-IV-Empfängerin. Wie hast du die erlebt?

Das ist eine schizophrene Erfahrung, die viele in den Nullerjahren gemacht haben. Als ich beim Amt als künftige Hartz-IV-Empfängerin vorsprechen musste, war das eine Mischung aus Arzt- und Vorstellungsgespräch. Ich hatte mir einen Businessplan zurechtgelegt, der natürlich nicht funktioniert hat. Denn du darfst dann im Grunde nicht mehr freiberuflich tätig sein. Es blieb dabei: Ich hatte 13 Euro am Tag, ich durfte nicht aus der Stadt weg, das war vollkommen irre. Ich dachte mir: Aha, jetzt bin ich also auch eine Verliererin – und so sieht das also aus: Sie lassen dich nicht mehr mitspielen.

Hat diese Erfahrung mit Hartz-IV deine Sicht auf die Welt verändert?

Meine Repolitisierung ist auf diesem Amtsflur passiert, weil ich gesehen habe, dass ich als Medienarbeiterin Teil einer Avantgarde bin, die systemisch freigesetzt ist. Das ist eine neurotische Branche, die mitforciert hat, dass der Fensterputzer und die Pflegekraft mit immer niedrigeren Löhnen in die Knie gezwungen werden. Und ich bin Teil derer, die den Quatsch auch noch erzählt haben: Jeder sei seines Glückes Schmied.

Würdest du sagen, du hast erlebt, was Armut ist?

Man darf so ein elitenartiges Prekariat, wie ich es erlebt habe, nicht verkitschen und vergleichen mit echter Armut. Damit meine ich, wenn du in der dritten oder vierten Generation SozialhilfeempfängerIn bist und es nicht zum Abitur geschafft hast, fehlt dir ein ganz wichtiges Kapital, das Kulturkapital. Das unterscheidet dann doch die akademisch Prekarisierten von dem Kollegen mit dem Hauptschulabschluss. In Bezug auf Status und Codes kann man sich dann trotzdem noch verkaufen, kann sich seinen Blog so einrichten, dass man so wirkt, als sei man beschäftigt und kann sich augenzwinkernd im abgefransten Kaffeehaus treffen. Das hilft erstens, vor sich selber viel zu verschleiern, und zweitens, diesen Shabby Chic zur Schau zu stellen. Jemand, der wirklich arm ist, kann das gar nicht so veräußern.

Wie ist denn das Frauenbild unter diesen Bobohipstern? Gibt’s da einen Backlash?

Das Abziehbild ist tendenziell männlich, wir denken ja sofort an die Typen mit den Jesusbärten und den Baumwollbeuteln. Den Hipster aber gab’s schon immer, der ist nicht neu. Das ist sozusagen eine urbane Avantgarde. Es gab schon den Yuppie, den Bobo, das taucht alle fünf Jahre auf. Was eigentlich damit gemeint ist, ist diese bunte Bildungselite, die sehr urban, intellektuell, gut vernetzt ist, die diese Codes kennt und die reiche Symbolsprache, an die auch Statusfragen gehängt werden. Auch wenn sie im Second Hand Shop um drei Euro ihre Karohemden kaufen, kann das statusmäßig ein total wertvolles Karohemd sein. Du musst nur wissen, wie das gerade zu tragen ist, und ab wann nicht mehr. Sobald das Elitenwissen dann im Mainstream angelangt ist und die BerlintouristInnen das auch tragen, suchst du dir was Neues.

Ist das Hipstertum so männlich, weil es so Ich-bezogen ist?

Ja, damit hat das sicher zu tun – was ich interessant finde, gerade weil der Begriff do it yourself stark verbreitet ist. Das ist ja auch ein Teil dieser Bewegung: Sehr viele der modischen und hippen Frauen stricken oder craften. Auch auf queerfeministischen Webseiten spielt das eine Rolle. Ich habe nichts gegen Stricken, ich kann aber die bildhafte Logik überhaupt nicht verstehen, und sehe nicht, was daran zum Beispiel widerständig oder feministisch ist. Der Hipster ist jedenfalls keine politische Figur, er demonstriert nicht, er beschäftigt sich mit sich selbst, seinen Gefühlen, seinen Style-Ängsten, und sieht dabei veträumt aus.

Gibt es denn heute positive feministische Rolemodels?

Es gibt heute ein unglaubliches Prinzessinnenwesen. In den 70er-Jahren waren es vor allem im Kinderfernsehen Figuren wie die Rote Zora, Ronja Räubertochter. Das waren aggressive, mutige, aufmüpfige Figuren und Namen. Heute haben wir Lillifee und die Manga-Ästhetik, also diese Verniedlichung. Schwierig finde ich auch, dass jüngere Frauen sich wieder so „girliehaft“ benennen, wie wir es vor 20 Jahren schon mal hatten: Sie nennen sich „Mädchen“ oder „Missys“. Ich kann nur sagen: Dieses Augenzwinkern hat der Feminismus schon einmal versucht – es funktioniert nicht. Ich glaube nicht, dass es die eine gibt, die saisonal das Rolemodel schlechthin ist. Das entspricht auch nicht der Vielfalt und Diversität der Frauen. Für mich ist es Le Tigre Kathleen Hanna. Ich glaub auch, dass Anke Engelke eine Breitenfunktion besitzt, die ganz anders ist, als eine klassische fernseh-feminine Frau. Es ist grundsätzlich erst mal gut, dass es heute mehr interessante Frauen in der Öffentlichkeit gibt, glücklicherweise nicht nur verzweifelte Schlauchboot-Lippen-Trägerinnen.

Warum ist es heute überhaupt so kompliziert, Feministin zu sein?

Die Welt ist ganz schön unübersichtlich. Und ich denke, der Feminismus leidet wie auch andere politische Inhalte und Strömungen darunter, dass die Leute vereinzelt sind. Darüber hinaus ist es vor allem der Leistungsdruck, unter dem wir leiden, und die Angst davor, zu nervig und zu kompliziert zu sein, in dem Moment, in dem man Prinzipienfragen stellt. Ich glaube, dass Feminismus ganz oft mit innerem Unmut anfängt. Man muss den Mut finden, Dinge auszusprechen, dazu muss man stark sein. Und viele Leute fühlen sich gerade nicht stark, haben Angst, sich verwundbar zu machen. Aber ich habe den positiven Eindruck, dass es eine neue Sehnsucht gibt, sich mit anderen zusammenzutun und dass das, erst mal im Kleinen, auch gerade wieder passiert. Niemand kann alleine Verhältnisse umstoßen.

 

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