Zu Ende, aber nicht vorbei
Richard Wadani schreibt über seine Desertion aus der Hitler-Wehrmacht und das lange Ringen um Anerkennung.
Richard Wadani schreibt über seine Desertion aus der Hitler-Wehrmacht und das lange Ringen um Anerkennung.
Letztes Jahr ging ein Kapitel zu Ende, das für mich an einem Herbsttag des Jahres 1944 begonnen hatte. Damals war ich aus der Hitler-Wehrmacht desertiert und an der Westfront zu den Alliierten übergelaufen. Ich hatte beschlossen, gegen jene zu kämpfen, die sich 1938 Österreich einverleibt hatten. Die Hitler-Wehrmacht war für mich eine fremde Armee, sie war die Armee der OkkupantInnen. Trotzdem wurde ich, wie viele andere auch, in Österreich nach dem Krieg lange Zeit als Feigling und Verräter bezeichnet. Es dauerte 65 Jahre bis die Republik uns rehabilitierte und uns offiziell Anerkennung aussprach.
Wie alles begann. Ich wurde 1922 unter dem Namen Wedenig geboren und wuchs als Sohn österreichischer Eltern in Prag auf. Mein Vater war sozialdemokratisch eingestellt, ich selbst sympathisierte mit den KommunistInnen und war Mitglied der JPT, der Sportbewegung der KP. Ich hatte einen um zwei Jahre älteren Bruder, der 1944 in Norwegen fiel. Wir wuchsen bei den Roten Falken auf und waren sportlich im ATUS aktiv. Bei den Roten Falken waren sehr gute FunktionärInnen, konsequente SozialistInnen mit einer revolutionären Einstellung. Diese Erziehung zeigte mir den Weg in die Zukunft. Mit der Besetzung Österreichs durch Deutschland wurden wir deutsche StaatsbürgerInnen und verloren in der Tschechoslowakei die Arbeitsbewilligung. Wir kehrten also nach Wien, die Heimatstadt meiner Mutter, zurück.
Mit Beginn des Krieges drohte mir die Einberufung zur Wehrmacht. Auf Anraten eines vertrauten Arbeitskollegen meldete ich mich 1939 freiwillig zur Luftwaffe, weil ich mir dort die größten Überlebenschancen ausrechnete. Für mich war aber ohnehin klar, dass ich nicht für Hitler kämpfen wollte.
1941 wurde ich an die Ostfront kommandiert, wo ich als Kraftfahrer einer Luftwaffeneinheit im Hinterland, in Polen und der Ukraine, eingesetzt war. Im Frühsommer 1942 unternahm ich zusammen mit einem Kameraden einen ersten Versuch, überzulaufen. Unser Plan, bei einer unserer Suchfahrten nach abgestürzten Flugzeugen einfach die Frontlinie zu überqueren, erwies sich aber leider als undurchführbar. Ein Glück, dass es keine langen Befragungen gab und wir nach Aufnahme eines Protokolls wieder zurückgeschickt wurden. Über das Ausmaß der Strafe hätte nämlich kein Zweifel bestanden. „An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben!“, hatte Hitler schon 1925 in Mein Kampf geschrieben.
Im Frühjahr 1944 wurde ich in eine Dolmetscherschule der Luftwaffe versetzt. Als diese aufgelöst wurde, kam ich nach Frankreich an die Westfront. Am ersten Tag sondierte ich die Lage an der Hauptkampflinie mit der festen Absicht überzulaufen. Vor den Löchern war viel Stacheldraht, und es gab Sicherungen durch Stolperdrähte mit Handgranaten sowie regelmäßige Wachpatrouillen. Darüber hinaus war nicht absehbar, wie die Amerikaner auf der anderen Seite auf Überläufer reagieren würden. Aber schon in der zweiten Nacht, vom 15. auf den 16. Oktober, verließ ich gegen drei Uhr früh mein Schützenloch, wo ich meine Waffe zurückließ. Nur ein weißes Tuch, das mir meine Mutter mitgegeben hatte, trug ich bei mir. Unter Todesangst und nach stundenlangem Robben durch einen Jungwald, der zwischen den Frontlinien lag, gelang es mir, die Front zu überqueren. Als ich die amerikanischen Linien erreichte, stand ich auf, schwenkte das weiße Tuch, das ich an einem Stück Holz befestigt hatte, und rief: „Don’t shoot, don’t shoot!“ Doch die Amerikaner schliefen. Ich musste sie durch mein Geschrei erst wecken. Schon einige Tag später erhielt meine Mutter die Nachricht, dass ihr Sohn „in feiger Weise zum Feind übergelaufen ist und somit zum Verräter des Deutschen Volkes wurde.“
Ich wurde in einem Gefangenenlager in Cherbourg interniert, wo ich mich, da es keine österreichische kämpfende Einheit gab, zur tschechoslowakischen Armee meldete, die im Rahmen der britischen Streitkräfte kämpfte. Ich war als Kraftfahrer eingesetzt. Im November 1945 kehrte ich nach Wien zurück, um meine Mutter zu suchen. Ich fand sie in sehr schlechter gesundheitlicher Verfassung, quittierte daher meinen Dienst und wurde im Jänner 1946 als österreichischer Staatsbürger aus der tschechoslowakischen Armee entlassen. Zurück in Wien wurde ich bald mit der politischen Realität der Zweiten Republik konfrontiert. So wurde ich, als ich am Arbeitsamt vorsprach (ich trug damals noch die englische Uniform), von einem Sachbearbeiter angestänkert: „Wie kommen Sie dazu, in einer fremden Armee gedient zu haben?“
Neubeginn. Ich begann als Funktionär in der KPÖ zu arbeiten, wo ich mich vor allem mit dem österreichischen Sport befasste. 1961-1977 war ich Bundestrainer und Bundeskapitän im Österreichischen Volleyballverband. Ab 1970 war ich bis zu meiner Pensionierung Lehrbeauftragter an der Bundesanstalt für Leibeserziehung in Wien. Parallel dazu baute ich im Pensionistenverband Österreichs den Seniorensport auf. Nach der Zerschlagung des Prager Frühlings trat ich aus der KPÖ aus, blieb jedoch politisch engagiert.
Als Sprecher des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“ setze ich mich seit 2002 für die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren ein. Im Jahr 2009 gelang es uns, die von der Bundesstiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas entwickelte Wanderausstellung „Was damals Recht war …“ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht in einer für Österreich adaptierten Version nach Wien zu holen. Sie wurde am 1. September eröffnet und löste breite Debatten aus, die zum Beschluss des Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetzes 2009 führten.
Nun hat das Ringen um Rehabilitierung ein erstes Ende gefunden, die Arbeit ist aber noch nicht zu Ende. Um dem Gesetz Leben einzuhauchen, muss die Ausstellung in aktualisierter Form in den Bundesländern gezeigt werden. Stationen in Kärnten, der Steiermark und Vorarlberg sind bereits fixiert, andere sollen folgen. Denn eines ist klar: Rehabilitierung funktioniert nur, wenn sie öffentlich geschieht. Daher gilt es, das späte Bekenntnis Österreichs zu den Wehrmachtsdeserteuren gesellschaftlich zu verankern.
Richard Wadani, 1922 in Prag geboren, desertierte 1944 aus der deutschen Wehrmacht. Heute ist er Ehrenobmann des Vereins Personenkomitee „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“.