Was heißt Gerechtigkeit?

  • 09.11.2012, 17:02

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg
traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

progress: Wie bist du zu dem Projekt gekommen?

Barbara Rothmüller: Das hat 2008 begonnen, als es an der Akademie eine Arbeitsgruppe zum Thema Antidiskriminierung gab. Man wollte sich einerseits anschauen, wer sich überhaupt für das Studium bewirbt und andererseits, ob im Zuge der Zulassungsprüfung bestimmte BewerberInnengruppen benachteiligt werden.

progress: Gibt es Verfahren, die fairer sind, als andere?

Rothmüller: Das ist schwierig. Es gibt unterschiedliche Probleme bei den verschiedenen Verfahren. Bei offenen Verfahren wie zum Beispiel an dem untersuchten Institut für bildende Kunst an der Akademie gibt es den Vorteil, dass man auf die Bedürfnisse der BewerberInnen besser eingehen kann, was ein Problem ist bei den stark standardisierten Verfahren wie dem EMS (Aufnahmetest für das Medizinstudium, Anm. d. Red.). Man muss sich überlegen, was Fairness in diesem Zusammenhang heißt. Wenn das Gleichbehandlung heißt, kann das der EMS gut sicherstellen.

progress: Aber bei standardisierten Tests haben Persönlichkeitsmerkmale trotzdem einen starken Einfluss.

Rothmüller: Ja, das ist das andere Problem, dass solche Tests natürlich nie neutral sind. Sie können auch indirekt benachteiligen, wenn sie Kriterien anwenden, die bestimmte Gruppen systematisch seltener erfüllen können. Auf der Medizin hat man aber auch einen geringen Anteil von Leuten mit niedriger sozialer Herkunft, das ist schon ein relativ elitäres Studium. Mit der Einführung des Tests ist der Anteil nochmal zurückgegangen.

progress: Verstärken Zugangsbeschränkungen die sozialen Hürden also?

Rothmüller: Was bei unserer Befragung auffällig war, war dass der Anteil von BewerberInnen niedriger sozialer Herkunft im Zuge des Verfahrens nochmal geringer wurde. Und dabei war es sowieso eine geringe Anzahl, die sich überhaupt beworben hat aus dieser Gruppe.

progress: Welch besondere Rolle nehmen Kunstuniversitäten da ein?

Rothmüller: Es gibt in den letzten Jahren den Versuch, die formale Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, das heißt, dass man zum Beispiel nicht nur mit der klassischen Matura studieren kann, der Zugang also erleichtert wird. Dadurch erhofft man sich, die so genannten „bildungsfernen Schichten“ eher ins Studium zu leiten. Was man an den Kunstunis jetzt sehr gut sehen kann, ist, dass diese Strategie eigentlich nur begrenzt aufgehen wird. Weil die meisten Kunststudien konnten immer schon ohne Matura, also ohne formale Voraussetzungen, studiert werden. Und trotzdem ist das offenbar kaum eine Option für Leute mit niedriger sozialer Herkunft. Wenn nicht mehr alle Matura haben müssen, dann versucht man im Gegenzug die Vorkenntnisse über diese Zulassungsverfahren zu kontrollieren.

progress: Ist das finanzielle Aushungern der Unis eine bewusste Taktik, um Zugangsbeschränkungen argumentierbar zu machen?

Rothmüller: Das hat tatsächlich die SPÖ mal in ihrem Bildungsprogramm geschrieben, da war sie aber noch in der Opposition. Sie hat gesagt: Man zwingt die Unis zu Zugangsbeschränkungen, weil ihnen das Geld fehlt, das sie brauchen. Aus einer Organisationslogik heraus macht das auch Sinn, wie soll man mit den Ressourcenengpässen umgehen? In Wirklichkeit ist das natürlich ein Problem, das von der Politik kommt und an die Unis weitergegeben wird, die das wiederum an die Studierenden weitergeben.

progress: Inwiefern kann der Begriff des offenen Hochschulzugangs als Euphemismus gesehen werden?

Rothmüller: Der offene Hochschulzugang ist ein Idealbild, das mit der Realität schon länger nicht viel zu tun hat. Bei den Kunstunis, den FHs und den Sportstudien gab es immer schon Zulassungsverfahren. Und interessanterweise sind die Studierendenproteste 2009 ja von der Akademie ausgegangen, gleichzeitig ist es dort sehr traditionsreich, Zulassungsverfahren zu haben, und das wird auch nicht in Frage gestellt. Das fand ich fast schon ein bisschen irritierend. Wenn man von „offenem Hochschulzugang erhalten“ spricht, übersieht man also, dass es da schon längst Einschränkungen gibt.

progress: Gab es überhaupt jemals so etwas wie einen offenen Zugang?

Rothmüller:Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Bildungs- und Berufswahl war und ist in Österreich extrem sozial selektiv. Weil diese Selbstselektion, wie das in der Bildungssoziologie heißt, so stark ist, hat es vielleicht sogar so lange einen zumindest theoretisch offenen Zugang gegeben. Selbstselektion ist aber auch ein problematischer Begriff – er spielt auf eine naturhafte Auswahl, eine Auslese an, als wäre das nicht ein sozial ausverhandelter Prozess. Und er suggeriert, dass es da um eine Auseinandersetzung der Individuen mit sich selbst ginge, und möglicherweise sogar noch eine bewusste. Tatsächlich kann man aber sehen, dass diese Selbstausschlussprozesse hochkomplex und meistens eine Folge von sozialem Ausschluss sind, der auf eine bestimmte Art verinnerlicht wird.

progress: Wie kann man mehr Leuten ermöglichen, diesen Ausschlüssen zu entgehen?

Rothmüller: Das ist nicht nur, aber schon auch Aufgabe der Unis. Weil wenn uns bekannt ist, dass Frauen, oder Menschen je nach sozialer Herkunft, in bestimmte Richtungen driften, dann müssen die Unis bis zu einem gewissen Grad auch Verantwortung übernehmen und gegensteuern. Und sich Konzepte überlegen, wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrer Anteile auch an den Unis repräsentiert sind. Ich finde, es gibt gute Gründe, dass man das gesellschafts- und hochschulpolitisch als Ziel hat.

progress: Warum gibt es beim EMS so starke geschlechtsspezifische Unterschiede?

Rothmüller: Darüber zerbrechen sich einige ForscherInnen den Kopf, darauf gibt es verschiedene Antworten. Möglicherweise liegt es am Schulsystem. Man hatte früher ein ähnliches Problem in den USA beim zentralisierten SAT-Test. Da gab es zuerst eine Benachteiliung der Männer, daraufhin wurde der Test korrigiert. Dann waren umgekehrt die Frauen benachteiligt und dann wollten sie ihn nicht mehr korrigieren. Es ist also immer auch eine Machtfrage. Es gibt natürlich noch andere Benachteiligungskategorien, die man sich anschauen müsste. Soziale Herkunft etwa klingt immer so abgedroschen, ist aber nach wie vor ein Riesenproblem.

                                                                                                                                                                                           

progress: Gibt es eine Möglichkeit von fairen Zugangsbeschränkungen?

Rothmüller: Naja, ich will nicht ausschließen, dass das irgendwie erreichbar ist, aber im Moment sicher nicht so einfach, wie die Leute sich das vorstellen. Vor allem sehe ich keine Debatte darüber, was soziale Gerechtigkeit beim Studienzugang heißt. Wenn Leute bestimmter Fraktionen oder Parteien sagen: „Es muss fair sein“ denk ich mir ja natürlich muss es fair sein, kein Mensch würde sagen: „Ich bin für unfaire Zulassungsverfahren!“ Aber es macht sich niemand drüber Gedanken, was heißt das, Fairness und soziale Gerechtigkeit? Wie ist es systematisch sicherzustellen? Das muss endlich gesellschaftlich ausverhandelt werden und nicht nur als Rhetorik verwendet werden, um möglichst wenig Widerspruch gegen die Einführung von allen möglichen Verfahren zu haben.

progress: Woran liegt es, dass es so wenig Datenmaterial in diesem Bereich gibt?

Rothmüller: Ich weiß es nicht, möglicherweise daran, dass Gerechtigkeit insgesamt nur von eingeschränktem Interesse ist.

Nachlese:

Angst und Bange

Gesichter der STEOP

Reaktionäre Reaktionen

AutorInnen: Vanessa Gaigg