Waffen der Kritik
Der Behemoth, Franz Neumanns umfassende Studie über das NS-Regime, beginnt mit einer simplen Einsicht: Der Nationalsozialismus lässt sich nicht mit Argumenten und Propaganda bekämpfen – adäquat ist allein seine gewaltsame Zerstörung. Neumann selbst hat seine Arbeit diesem Ziel verschrieben. Er gehörte zu jenen TheoretikerInnen, die nach ihrer Beschäftigung am exilierten Institut für Sozialforschung in den Dienst des Office of Strategic Services (OSS) traten, um in der Abteilung für Forschung und Analyse dem amerikanischen Geheimdienst zuzuarbeiten. Der nun auf Deutsch erschienene Band Im Kampf gegen Nazideutschland dokumentiert neben den internen Berichten von Franz Neumann auch jene von Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse. Die Lektüre der Texte ist so spannend wie aufschlussreich: Sie zeigen die Machtkämpfe zwischen den herrschenden Cliquen in Deutschland auf, insistieren auf der Mitschuld der Führer der Industrie an den Nazi- Verbrechen, statten die Anklage der späteren Nürnberger Prozesse mit Argumenten aus.
Der alte Kalauer von der Praxisferne der Kritischen Theorie war schon immer falsch – doch vor dem Hintergrund der Tätigkeit der Kritischen Theoretiker im OSS wird er zur blanken Lüge. Bedauerlich ist an manchen Stellen die Zurückhaltung des Herausgebers. Gerade dort, wo die Analysen den üblichen Weitblick vermissen lassen, wäre viel gewonnen, sie mit dem Lauf der Geschichte zu konfrontieren. Neumann schreibt etwa 1944, dass das deutsche Volk angesichts der drohenden Niederlage dem Regime letztendlich die Kooperation verweigern würde. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Heimatfront blies noch munter zur Jagd auf russische Kriegsgefangene, als die Rote Armee bereits vor Berlin stand. Die marxistische Provenienz der Berichte, die ihnen oft Schärfe verleiht, macht sich leider auch in der Verklärung der deutschen Massen bemerkbar. Die grundlegende Erkenntnis des Behemoth, dass der NS-Staat nur durch den Kampf gegen den Feind, zuvorderst den jüdischen, bestehen kann, wird in den versammelten Texten anschaulich. Die Berichte von Neumann, Kirchheimer und Marcuse waren nicht der „Einsatz [der Kritischen Theorie] als praktisch gewendetes Analyseinstrument“, wie Axel Honneth im Vorwort meint. Vielmehr waren sie nichts anderes als das: Kritische Theorie selbst.
Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949.
Hrsg. von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries.
Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2016, 812 Seiten, 39,95 Euro (E-Book 35,99 Euro).
Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.