Vom Dummstellen und Ignorieren - Geschichten der österreichischen Gedenkpolitik
Am 5. Mai 1945 befreiten die alliierten Truppen das Hauptlager des Konzentrationslagers Mauthausen. Davor litten über 190.000 Gefangene aus ganz Europa und Afrika dort unter der Schreckensherrschaft der Nazi-Aufsehenden. Diese Tatsache ist den meisten Österreicher_innen bewusst. Doch neben dem Hauptlager in Oberösterreich gab es noch über 40 Neben- oder Außenlager. Diese wurden teilweise früher befreit oder kurz vor der Kapitulation der Wehrmacht aufgelöst und zerstört, um die Verbrechen zu vertuschen.
Der Verantwortung gerecht werden.
Nach der Waldheim-Affäre und der langsam anlaufenden Beschäftigung Österreichs mit der eigenen Täter_innenrolle wurde auch der Gedenkdienst eingeführt. Dieser Ersatzdienst zum Zivildienst ist eine wichtige Institution, um Österreichs Verantwortung am Holocaust immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich selbst habe meinen Gedenkdienst bei der Amicale de Mauthausen, der französischen Überlebendenorganisation, geleistet. Die Amicale veranstaltet jährlich Reisen nach Österreich und ich durfte als Übersetzer und Helfer mit dabei sein. Während ich von den Zuständen im KZ schon oft gehört und gelesen hatte, waren es die Erlebnisse, die die ehemaligen Gefangenen nach 1945 machen mussten, die mich oft wirklich aus der Fassung brachten. Das Hauptlager in Mauthausen ist heute eine Gedenkstätte, die dazu genutzt wird, Menschen über die Verbrechen der Nazis aufzuklären und jährlich eine internationale Befreiungsfeier auszurichten. In den kleineren Nebenlagern stellt sich die Situation sehr unterschiedlich dar. An manchen Stätten wird ebenfalls jährlich der Verbrechen gedacht und es gibt Museen oder Informationstafeln, an anderen Orten gibt es nahezu keine Hinweise auf die grausame Geschichte innerhalb des NS-Systems und die ansässige Bevölkerung tut oft noch immer, was sie auch schon damals tat: sie schweigt und verdrängt.
Zwischen Erinnerung und Ignoranz.
Doch zunächst ein kleiner historischer Überblick über das Hauptlager nach der Befreiung. Zwar wurde das Lager selbst von der US-Armee befreit, das umliegende Gebiet fiel jedoch, so wie ganz Oberösterreich, in die sowjetische Besatzungszone. Die Befreier _innen nutzten dies auch gleich und verwendeten den Steinbruch, in dem die Gefangenen zu harter körperlicher Arbeit gezwungen wurden, noch bis 1947 weiter. Danach wurde das Lager an die österreichische Regierung zurückgegeben mit der Auflage, es als Gedenkstätte zu erhalten, dabei sollte auch mit den ehemaligen Gefangenen zusammengearbeitet werden. Bertrand Perz, Historiker am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien, berichtet in einer Studie zur Gedenkstätte in Mauthausen davon, dass es den Überlebenden vor allem wichtig war, die Orte zu erhalten und darzustellen, wo sie wie gelitten hatten. Diese Entwicklung begegnet Besucher_innen der Gedenkstätte bis heute: die Perspektive der Täter_innen wird in den Führungen oft nur angeschnitten, die Orte, die vor allem die Opfer betreffen, nehmen mehr Raum in der Erzählung ein. Eine weitere Entwicklung aus der damaligen Zeit prägt das Gedenken bis heute: die Opfer wurden anhand der Nationalität kategorisiert, wodurch zum Beispiel nicht gesondert kundgemacht wurde, wer aufgrund jüdischer Herkunft und wer als politische_r Gefangene_r nach Mauthausen deportiert wurde. Die Kontinuität des nationalen Gedenkens wurde dann auch konsequent verfolgt: 1949 wurde von der Amicale de Mauthausen ein Mahnmal für die französischen Opfer gebaut, in den Jahren darauf folgten fast alle restlichen Länder. Neben dieser „Nationalisierung“ des Gedenkens merkt Perz auch noch einen anderen Aspekt der Mahnmäler an: „Das vorherrschende Erinnerungsnarrativ in Mauthausen – national, männlich, heroisch – wurde erst sehr spät und auch nur in Ansätzen durchbrochen. Erst 1970 wurde eine Gedenktafel für alle weiblichen Häftlinge […] enthüllt.“ Während also bald nach der Befreiung von Hinterbliebenen mit der Aufarbeitung und dem Gedenken an die Verbrechen begonnen wurde, war der Umgang der – von den Gräueltaten nicht betroffenen – Österreicher_ innen mit dem Ort des Verbrechens von Ignoranz geprägt. Schon bei den Vorbereitungen zur ersten internationalen Befreiungsfeier 1947 wurde bemerkt, dass Anwohner_innen im Teich beim ehemaligen Steinbruch badeten. Und auch der in Mauthausen aufgewachsene Professor für Ästhetik des Nationalsozialismus, Terrence E. Hoffer, berichtet, dass er noch in den 70ern als Kind dort „etwas Abkühlung im kühlen Nass im Teich des Steinbruches“ suchte. Doch nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Politik schien die Schrecken der Vergangenheit einfach vergessen zu wollen. Während die Opfergemeinschaften das Lager erhalten wollten, um es als Mahnmal und Gedenkstätte zu nutzen, kam von den Konservativen des Landes ein anderer Vorschlag: komplette Schleifung des Geländes und Errichtung eines riesigen Kreuzes. Die ÖVP wollte also damals das Gedenken an den Holocaust vereinnahmen, indem ein ihr zugehöriges christlich Symbol an der Stelle der zentralen Verbrechen stehen sollte. Die SPÖ war ebenfalls für den Abriss eines Großteils des Geländes, allerdings ‚nur‘ aus Kostengründen.
Tödlich, aber vergessen: Außenlager in Oberösterreich.
Vollständige Verwahrlosung und Versuch des Verdrängens gab es im Außenlager Gusen. Man kann im Fall von Gusen auch nur schwer von einem ‚klassischen’ Außenlager sprechen, da dort zeitweise mehr Gefangene zur schweren Stollenarbeit gezwungen wurden und mehr Menschen dabei getötet wurden, als im Hauptlager Mauthausen. Teilweise wurden die Bedingungen in Nebenlagern wie Gusen als noch schlimmer als in Mauthausen selbst beschrieben und von den Gefangenen gefürchtet. Die Lager Gusen I, II und III lagen in Oberösterreich, dort wurden zwischen 1940 und 1945 über 80.000 Menschen festgehalten, die schwerste Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisteten. Mehr als die Hälfte von ihnen starb. Alle Überreste von Gusen II wurden von den US-Truppen aufgrund von Seuchengefahr vollständig niedergebrannt. Das ehemalige Areal von Gusen I ist Mitte der 50er-Jahre ebenfalls fast verschwunden, am unteren Fuße der Stollen, in denen die Gefangenen ihre Zwangsarbeit verrichteten, entstanden langsam wieder Wohngebäude. Heute ist hier eine Siedlung. Als ich mit den Mitgliedern der Amicale zum ersten Mal auf diesem Gelände spazierte, lief mir ein Schauer den Rücken hinab. Wie konnten sich die Leute hier einfach so wieder ansiedeln? Wie kann man heute noch dort wohnen? Irgendwann standen wir vor einer Villa und ein Sohn eines mittlerweile verstorbenen ‚Ehemaligen‘ erzählte mir davon, dass wohl hier früher der SS-Kommandant gelebt haben musste. Heute kann man nicht in das große Anwesen hineinblicken: ein riesiger Zaun und Überwachungskameras beschützen die Bewohner_innen. 1961 errichteten ehemalige Häftlinge mitten in der Wohnsiedlung, am ehemaligen Platz des Krematoriums, ein Mahnmal. Seit 2001 ist dort auch ein Museum untergebracht. Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich auch in Ebensee, das ebenfalls in Oberösterreich liegt. Wenn man mit einer Gruppe das ehemalige Areal des Lagers besuchen will, muss man zuerst durch eine Wohnsiedlung marschieren. Früher waren hier die Gefangenen untergebracht, heute stehen an der Stelle Familienhäuser, Besucher_innen treffen auf zugezogene Vorhänge, hohe Zäune und wenig Freundlichkeit. 2009 gab es sogar einen rechtsextremen Angriff auf ein Mitglied der Amicale: Jugendliche schossen mit einer Soft-Gun und schrien dabei „Sieg Heil, ihr Schweine!“
Wo Österreich auch heute noch von Zwangsarbeit profitiert.
Doch nicht nur in Oberösterreich, auch in anderen Bundesländern ging und geht man mit der Geschichte des Nationalsozialismus recht sorglos um. In Kärnten gab es zum Beispiel ein Außenlager am Loibl-Pass an der Grenze zu Slowenien. Das Lager war ein Doppellager, da von beiden Seiten des Berges ein Tunnel gegraben werden sollte. Die Gefangenen mussten unter schwersten Bedingungen an diesem Prestige-Projekt des Nazi-‚Gauleiters’ Friedrich Rainer arbeiten. Als Jugoslawien kommunistisch wurde, wurde der Grenzübergang vorerst gesperrt. Erst 1964 wurde der Tunnel eröffnet. Die überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiter wurden nicht eingeladen. Die Mitglieder der Amicale kamen jedoch trotzdem und eine Frau eines ehemaligen Gefangenen berichtet 1964 von dem großen Unterschied der Empfänge in Österreich und Jugoslawien: „Auf der österreichischen Seite gab es zwar eine höfliche, aber sehr formelle Feierlichkeit, gedämpfte nette Worte, ein Versprechen auf ein Denkmal von drei Offiziellen. Auf der jugoslawischen Seite hingegen hunderte Menschen […], der Bürgermeister, ehemalige Partisan_innen und alle singen sie inbrünstig die Marseillaise als wir ankommen!“ Österreich hat aber auch nicht dazugelernt. Im Jahr 2017 gab es am Nordlager am Loibl-Pass eine Kontroverse um den Besitzer des Grundstücks, der nicht verstehen konnte, warum der auf dem ehemaligen Gelände des Lagers errichtete Jäger-Hochsitz den ehemaligen Gefangenen unpassend erschien. Ich könnte hier noch viel mehr Geschichten anführen, wie zum Beispiel die ‚Serbenhalle‘ in Wiener Neustadt, die ebenfalls von KZ-Gefangenen errichtet wurde und wo mittlerweile Opern stattfinden. Der Besitzer der Halle weigerte sich, eine Gedenktafel aufstellen zu lassen oder Besucher_innen über die Geschichte des Ortes zu informieren. All diese Geschichten zeigen, wie ignorant die österreichische Bevölkerung und wie verständnislos und unsensibel die österreichische Politik handelte und handelt. Die Ignoranz, die sich bis heute in Teilen der Bevölkerung findet, hat viele Gründe. Die Generation der Täter_innen verschwieg meist die Teilnahme an den Verbrechen. (Vor kurzem lief hierzu etwa der Film über den Altnazi und späteren ÖVPler Franz Murer in den Kinos.) Die Kinder jener Kriegsgeneration wurden außerdem oft nicht ausreichend innerhalb des Schulsystems aufgeklärt. Zuhause hörten viele nur die Leidens-, also Frontgeschichten der Väter, die sich als ehrbare Soldaten darstellten, die bloß loyal ihren Dienst verrichteten. Erst mit der Affäre um Kurt Waldheim, ehemaliges SA-Mitglied und späterer ÖVP-Bundespräsident, sollte sich dies ändern. Langsam begann das offizielle Österreich, Entschädigungen auszuzahlen und sich mit seiner Mittäter_innenschaft zu beschäftigen. Der Verantwortung dieser Verbrechen muss aber auch heute noch nachgekommen werden, ganz im Sinne eines „Nie wieder!“
Paul Pumsenberger studiert Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und Philosophie an der Universität Wien.