Verzögerte Erinnerung
Etwa 8000 tschechische Roma fielen zwischen 1939 und 1944 dem Holocaust zum Opfer. Über einen Kampf ums Gedenken, bei dem kein Ende in Sicht ist.
Etwa 8000 tschechische Roma fielen zwischen 1939 und 1944 dem Holocaust zum Opfer. Über einen Kampf ums Gedenken, bei dem kein Ende in Sicht ist.
20 Kilometer nördlich von Brünn liegt Hodonín. Mitten im böhmisch-mährischen Plateau gelegen, windet sich - von Süden kommend - eine Landstraße zu der kleinen, versteckt gelegenen Gemeinde hinauf. Verlässt man Hodonín nordöstlich auf derselben Straße, gelangt man nach etwa 500 Metern zu einer Abzweigung, die in den Wald hineinführt. Wer an dieser Stelle abbiegt, kommt zu einem umzäunten Areal, das, auf einem Abhang gebettet und von Bäumen umgeben, von der Straße aus nicht sichtbar ist. Hinter dem Zaun befinden sich ein großes Haus und mehrere kleine Holzhütten. In der Mitte eine etwas größere Baracke mit gemauerten Schornsteinen, daneben ein Swimmingpool. Keine Menschenseele. Vor dem Zaun ein großer Stein mit goldener Inschrift.
Zwischen Mai und August 1943 wurden aus Hodonín 849 Menschen in Lastwägen direkt nach Auschwitz II (Birkenau) deportiert. Im Protektorat Böhmen und Mähren war Hodonín eines von zwei „Zigeunerlagern“, in denen gemäß der NS-deutschen Reichsverordnung „Bekämpfung der Zigeunerplage“ Frauen, Männer und Kinder inhaftiert waren, die als „Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ oder „nach Zigeunerart Umherziehende“ klassifiziert wurden. Im mährischen Hodonín und dem böhmischen Lager Lety leisteten die InsassInnen unter einem rigorosen Strafregiment und verheerenden hygienischen Bedingungen Zwangsarbeit. Es brachen Epidemien aus, Hunderte starben an Typhus und Fleckfieber. Etwa 8000 tschechische Roma, deren Namen in Listen erfasst wurden, kamen nach Auschwitz. Knapp 1000 überlebten, 600 kehrten in ihre Heimat zurück.
SPÄT EINGESTANDENE SCHULD. Da der Holocaust in den Schulbüchern der ČSSR, der tschechoslowakischen sozialistischen Republik, gänzlich ausgespart wurde, war es auch lange Zeit ein Tabu, über die Verfolgung von Angehörigen der Roma-Minderheit zu sprechen. Gedenken fand bis zur Revolution 1989 ausschließlich im geheimen Kreis der Betroffenen statt, daran änderte sich auch in der Tschechoslowakei nach der Wende zunächst nichts. Der Knalleffekt kam 1994, als Paul Polansky, ein amerikanischer Hobbyhistoriker, den tschechischen Staat der Vertuschung eines Völkermords bezichtigte. Eine Gruppe ehemaliger Dissidenten griff Polanskys Anschuldigungen auf und erhob Anklage gegen die Tschechische Republik. Erstmals wurde die tschechische Bevölkerung, und nicht, wie zuvor, die deutschen Nazis, offen mit der Frage der Schuld und der MittäterInnenschaft konfrontiert. Die Untersuchungen ergaben, dass an jeglichen Elementen der Verfolgung - von der Administration bis zu den Erschießungskommandos in den Lagern - durchwegs tschechische BeamtInnen beteiligt gewesen waren. Unter den Überlebenden und jenen geschätzt 300.000 slowakischen Roma, die heute in Tschechien leben, überwog ab diesem Zeitpunkt die Angst, Opfer rassistischer Übergriffe zu werden: Insbesondere nach der Gründung der Republik erklomm der Hass gegen Roma als lebendiges Relikt einer ungeliebten Ära neue Höhen. Die meisten Betroffenen der NS-Verfolgung, die als ZeitzeugInnen für historische Recherchen helfen wollten, baten um Anonymität. Dennoch wurde 1998 das „Komitee für die Entschädigung des Roma-Holocaust“ gegründet, dessen Präsident Čeněk Růžička, Sohn eines Überlebenden des KZ Lety, seither der wichtigste Ansprechpartner auf Seiten der Roma ist. 2001 erhielten erstmals auch Roma Entschädigungszahlungen, die Tschechien seit Ende der 1990er an Holocaust-Opfer zahlte. Der öffentliche Diskurs um die Erinnerung kam erst nach dem EU-Beitritt Tschechiens ins Rollen, als im Brüsseler Sitz des EU-Parlaments die Ausstellung „Lety - Die Geschichte eines verschwiegenen Völkermords“ gezeigt wurde. Initiator war Milan Horáček, gebürtiger Tscheche und Europaabgeordneter für die deutschen Grünen. In Tschechien entpuppte sich der amtierende konservative Präsident Václav Klaus als Vertreter einer revisionistischen Position, der äußere Umstände (Flecktyphus-Epidemie in einem Lager für „Arbeitsscheue“ des Protektorats) für den Tod von Lagerinternierten machte. Dieses Paradigma fiel, als der damalige sozialdemokratische Premierminister Jiří Paroubek öffentlich zu Protokoll gab, dass das ehemalige Lager wohl tatsächlich ein KZ gewesen sei. Die Ausstellung wurde daraufhin in den Tschechischen Senat verlegt, und Paroubek setzte mit seinem Besuch eine symbolische Geste der Anerkennung.
DAS SYMBOL LETY. Wer in Tschechien Lety hört, denkt jedoch sofort an die sich heute dort befindende Schweinemast. In den vergangenen Jahren konnte die tschechische Regierung das Versprechen, die Farm den Besitzern abzukaufen und dem Komitee zur Errichtung eines Mahnmals zur Verfügung zu stellen, dazu nutzen, mit der antiziganistisch gefärbten Einstellung der Mehrheitsbevölkerung zu spielen. Als 2008 der Kauf des Areals kurz bevorstand, verlautbarte Premier Paroubek, man wolle die angeblich benötigten 25 Millionen Dollar doch lieber in das Bildungsniveau sozial benachteiligter Roma-Kinder investieren. Seit einigen Jahren fragt das Europäische Parlament regelmäßig nach „Fortschritten“ in der Sache Lety. Der Grund dafür ist, dass eine Resolution des Europäischen Parlaments, die allgemeine Standards für einen menschenwürdigen Umgang mit der europäischen Roma- und Sinti-Minderheit definierte, als einzige konkrete Forderung an einen konkreten Mitgliedsstaat die Schließung der Farm enthielt.
Um von Lety abzulenken, bemühte sich die tschechische Regierung um eine „Ersatzleistung“, was 2009 den Lagerort Hodonín zurück auf die Bildfläche brachte. Es sollte ein „internationales Forschungs- und Ausbildungszentrum“ für Schulklassen auf dem Arsenal entstehen. Doch auch drei Jahre später sucht man dieses vergebens. Nur der Gedenkstein gibt etwaigen BesucherInnen ein sicheres Indiz, dass sie hier überhaupt richtig sind. Seitens der Mediensprecherin des Museums heißt es auf Anfrage, dass man „mit dem Projekt schon seit Längerem nichts mehr zu tun“ habe. „Bitte wenden Sie sich an das Pädagogische Museum in Prag.“ Der Verantwortliche in Prag kann zu seiner eigenen Arbeit keine nähere Auskunft geben, man beschäftige sich aber intensiv mit den Plänen für eine Gedenkstätte.
EUROPÄISCHE WILLKÜR? Die Sturheit im Umgang mit Lety und die zeitweilige Ignoranz gegenüber Forderungen der Hinterbliebenen fügt sich gut in ein Bild Tschechiens als Land ein, dessen Probleme von der wachsenden Zahl gewaltsamer rassistischer Übergriffe bis zur selbstverschuldeten Ohnmacht gegenüber einer verelendeten und zusehends sozial isoliert lebenden Minderheit reichen. Was dabei schnell übersehen wird: „Zigeunerlager“ gab es nicht nur in Tschechien. Und: Antiziganismus ist ein europäisches Problem, das alle EU-Mitgliedstaaten betrifft. In Österreich wurde zuletzt wegen des Verbots des sogenannten „bandenmäßigen Bettelwesens“ über die Kriminalisierung einer ohnehin stigmatisierten Bevölkerungsgruppe - nämlich jener der Roma und Sinti - diskutiert. Im burgenländischen Lackenbach waren nach dem „Anschluss“ 2300 Roma unter KZ-ähnlichen Bedingungen inhaftiert. 1941 erfolgte die Deportation von 5000 Burgenland-Roma in das Ghetto Łódź in Polen. Niemand überlebte. Weitere 2900 wurden 1943 direkt nach Auschwitz deportiert. In Lackenbach steht schon lange ein Mahnmal. Ob es jemand kennt?