Tocotronic „das rote Album"
MARIE: Am 1. Mai erschienen, ist es nicht nur aus politischen Gründen rot. Tocotronis neuestes Album verschreibt sich der Liebe. Schon im ersten Song „Prolog“ verspricht uns Sänger Dirk von Lowtzow:-„Liebe wird das Ereignis sein“. Ein wenig später, mit Samtstimme: „Ich öffne mich und lasse dich in mein Leben“. Ohne dem üblichen bisschen Bisschen Melancholie geht’s nicht. Die Platte ist insgesamt ruhiger geworden, als wir Tocotronic kennen. Es stellt sich die allgemeine Frage zu Texten über Liebe: Wie weit kann man gehen? Wo beginnt der Kitsch? Zum Song „Die Erwachsenen“ gibt es ein Video. Es sind wunderschöne Teenager darin zu sehen, die durch Berlin turnen, Fertigpizza essen und knutschen. Cut. Closeup: Dirk mit grauem Haar: „Wir wollen (…) knutschen bis wir müde sind“. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen nicht die Band ist 22 alt, sondern ihre Musiker. Ich höre ihnen trotz aller Zärtlichkeit - die zum Beispiel in dem berufsjugendlichen Titel „Rebel Boy“ vorkommt, -gerne zu. Aus Rock ist nun endgültig Pop geworden. Die Songs bleiben im Kopf hängen. Mein Lieblingszitat: „..und du schriebst die Diplomarbeit, über Empfindlichkeit". Seit dem ersten Hören kann ich die Texte auswendig mitsummen. Bei so viel Liebe fühle ich mich ein wenig dümmlich, aber es ist so (verdammt) schön.
KATJA: Älter werden ist schwer und nicht immer so glamourös wie bei, sagen wir, David Bowie. Wenn man eine Lieblingsband hat, die diesen Prozess quasi parallel zu einem selbst durchlebt und man sich ein auf Platte gepresstes Beweisstück dazu anhören muss, mag man sich zeitweise aus dem Fenster werfen. Älterwerden heißt in diesem Falle Langeweile, geistiger Abbau, Einfalt und sinnlose Lieblich- und Zufriedenheit. Vielleicht projiziere ich ein wenig zu viel in diese Band und ihre Musik hinein, jedoch begleiten sie mich wie meine erste Adidastrainingsjacke und daher erlaube mir eine strenge und liebevolle Kritik: Alle Texte sind Nonsens („Wir sind Babys“). Alle Melodien sind beliebig. Manche Kombinationen davon sind so- gar irgendwie peinlich („Rebel Boy“): „Check dich mit mir ein, du wirst mich befreien“. Es tut mir viel mehr weh, diese Platte so zu zerreißen als sie anzuhören; Das sei hiermit festgehalten. Die Nostalgie ist jedoch das einzig noch relevante an dieser Band, daher werde ich auch für immer ihre Konzerte besuchen, ihre alten Songs zitieren und ihre Shirts tragen, daran besteht kein Zweifel. Das rote Album aber ein zweites Mal anhören? Eher nicht.
Katja Krüger ist Einzelpersonunternehmerin und studiert in Wien Gender Studies.
Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst.