Publikumsgespräche bei Filmfestivals – Ein Leitfaden
Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.
Die Filmemacher_innen
Ahnungslose. Der Film war gut oder sogar sehr gut – das Publikumsgespräch ist es nicht. Angesichts der Aussagen des_der Filmemacher_in drängt sich die Frage auf, wie diese holzschnittartige Person ein derart vielschichtiges Kunstwerk erschaffen konnte. Es sind die Momente, wo die gesellschaftstheoretisch bewanderte Betrachter_in daran erinnert wird, dass Kunst eben doch mehr ist, als die Person des_der Künstler_in. Letztere agiert als Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse, kann dumm wie Stroh sein und dennoch einen sehr guten Film abliefern. Andere erinnern derartige Auftritte wiederum daran, dass Filme im Normalfall auf die Urheber_innenschaft von mehr als einer Einzelperson zurückgehen und die Wichtigkeit des_der Regisseur_in in Europa oftmals überschätzt wird. Auch das ist eine plausible Erklärung.
Betrunkene. Der Film ist solide, der_die Regisseur_in im Publikumsgespräch allerdings knapp vor der Alkoholvergiftung. Ein oder mehrere Publikumsgespräche pro Tag mit obendrein nicht allzu angenehmen Fragensteller_innen (siehe unten) zu führen, ist kein Leichtes. Wenn man ohnehin schon ein Problem damit hat, bis – sagen wir – 15:30 Uhr nüchtern zu bleiben, fällt einem das unter den verschärften Verwertungsbedingungen eines Filmfestivals keinesfalls leichter. So hat der_die betrunkene und mitunter aggressive Regiesseur_in doch etwas sympathisches – weil wir durch ihr Verhalten etwas über die Unaushaltbarkeit einer Gesellschaft lernen, in der wir alle zum Funktionieren und die bessergestellten auch noch zu funktionierendem Selbstmarketing gezwungen sind.
The Natural Born Österreicher_in. Sie sind der Meinung, ihr Österreicher_innentum alleine mache ihre Filme hochwertig und förderungswürdig. Ob sie sich nun auf einem Filmfestival wie der Diagonale, das sich österreichischen Filmen verschrieben hat, oder einem internationalen Filmfestival wie der Viennale befinden, scheint dabei zweitrangig zu sein. „Österreich zuerst“ ist die Devise. Allerdings nicht, wenn es um die Programmierung dieser Austroschinken geht, die dann doch ausnahmslos in den Hauptabend und keinesfalls in das Nachmittagsprogramm fallen darf. (The Natural Born Österreicher_in schlechthin ist Ulrich Seidl, der unerklärlicherweise nicht beim Reality-TV, sondern im Programmkino gelandet ist. Wahrscheinlich, weil ATV einfach zu schlecht zahlt.)
The Exceptional Competent Person. Sie ist leider die absolute Ausnahmeerscheinung auf Filmfestivals. Ein_e Regisseur_in, die nicht nur einen guten Film fabriziert hat, sondern auch in der Lage ist, mit dem Publikum kompetent und nachvollziehbar über das eigene Werk zu sprechen. Zumindest letzteres sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber – siehe oben – leider überhaupt nicht.
Das Publikum
The Material Guy_Girl. Nach einem interessanten oder kontroversen Film, der viel Stoff für ein spannendes Publikumsgespräch böte, ist die Zeit oft allzu kurz. Die Moderation lässt nur wenige Fragen zu und alles nähert sich schneller als gewollt seinem Ende. Die vorletzte oder letzte verfügbare Frage schnappt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Material Guy (oder weitaus seltener: Das Material Girl). Er_sie stellt fragen wie: „Warum habt ihr das mit Video gedreht?“ / „Ist der Super-8 retrotrend nicht schon lange over?“ / „Ist die Digitalisierung ein Problem?“ Der Rest des Saales langweilt sich zu Tode, während Material Guy_Girl sich im siebten Himmel des Expert_innentums wähnt.
Die Lobenden. Du sitzt in einem Film und denkst dir, dass die Zeit anderweitig möglicherweise besser verbracht hätte werden können. Genau genommen bist du fassungslos, dass ein qualitativ und inhaltlich derart fragwürdiges Werk, 1.) staatlich gefördert wurde und 2.) nach seinem offensichtlichen Scheitern öffentlich – auf einem abermals staatlich geförderten Filmfestival – vorgeführt wird. Das Publikumsgespräch beginnt mit peinlichem Schweigen, bis sich dann doch jemand zu Wort meldet. Die Person lobt den Film in höchsten Tönen, dankt dem_der Regisseur_in sowie „dem ausgezeichneten Ensemble“. Erschreckenderweise ist sie nur in 50 Prozent der Fälle mit einer der beteiligten Personen verwandt, bekannt oder verschwägert.
Professionelle Kritiker_innen. Sie melden sich im Publikumsgespräch so gut wie nie zu Wort, weil sie den Film mitunter nicht ganz gesehen haben und wegen ständig nahender Deadlines keine Zeit haben, länger als unbedingt nötig anwesend zu sein. In Zeiten verschärfter kapitalistischer Zurichtung belassen es Journalist_innen gerne dabei, sich die ausführlichen Pressematerialien abzuholen und daraus Textmontagen zu fertigen, die mit dem Begriff „Kritik“ eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Aber zumindest stellen sie keine blöden Fragen (wenn sie nicht gerade ein Publikumsgespräch moderieren).
Filmwissenschaftler_innen. Schauen sich gerne Spielfilme an, die keine Handlung haben und glauben, selbige seien deshalb irgendwie besser oder kulturell höherstehend. Hat ein Film eine Handlung und man wagt es, den_die kompetente Kolleg_in um seine_ihre Einschätzung zu bitten, ist die Antwort meist die selbe: „Ach, wieder so ein narrativer Film.“ Sie schalten sich bei Publikumsgesprächen gerne in die Diskussion ein, moderieren sie zudem sehr häufig und lieben Name-, Film- und Genre-Dropping. Da niemand all diese Personen, Filme oder Genres tatsächlich kennen kann, werden ihre Einschätzungen kaum hinterfragt. Man will sich (und die Kolleg_innen) schließlich nicht blamieren.
Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.
Die Viennale beginnt am 20. Oktober und endet am 2. November 2016.