Nacherzählt ist nicht erfunden.
Märchenonkel der Nation wird Michael Köhlmeier zuweilen genannt, auch wenn er sich dagegen sträubt. Sein Werk besteht zum größten Teil aus Nacherzählungen von Sagen, Märchen und anderen Stoffen aus dem deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Sein aktueller Band, „Die Märchen“, erschien im Herbst 2019. Auf der Verlagsseite des Carl Hanser Verlags kann mensch lesen: „Als Kind hat Michael Köhlmeier Märchen gehört oder gelesen – heute schreibt er die Märchen unserer Zeit: keine Nacherzählungen bekannter Stoffe, sondern eigene Erfindungen, verstörende, unheimliche Geschichten.“ Michael Köhlmeier meint so einiges erfunden zu haben: „Jorinde und Joringel“, „Jossele und der Dibbuk“ oder „Der liebe Augustin“ unter anderem. Es sind mehr oder weniger ausgeschmückte Nacherzählungen, die Titel sind teilweise verfremdet. Der Verlag teilt auf Anfrage am 2. März 2020 mit: „Michael Köhlmeier ist ganz sicher der Urheber aller Märchen in diesem Buch, denn sie stammen alle aus seiner „Feder“ oder wohl aus seinem Computer, das heißt, er hat sie selber von A bis Z geschrieben. Und es findet sich unter den 151 Märchen kein einziges, das einfach identisch ist mit einer älteren Vorlage, und nur extrem wenige, die eine so große Ähnlichkeit haben, wie Sie es anmerken.“
Köhlmeier selbst ist da schon transparenter: „[…]in der Regel habe ich einfach Geschichten genommen, die mir gut gefallen haben, habe vom Plot 80 oder auch nur 20 Prozent übernommen und sie neu erzählt.“ Etwas bemerkt? Genau: Neu erzählt ist nicht neu erfunden! „Ein Katalogtext ist aber weder eine genaue literaturgeschichtliche Information, noch ein Quellenverzeichnis“, weist der Carl Hanser Verlag die Kritik zurück. Er sieht Köhlmeier in der Tradition der Grimms, Nacherzähler und Autor zugleich. Einen Kommentar mit Literaturangaben und Vergleichstexten wie in den Grimmschen Märchen, sucht mensch bei Köhlmeier vergeblich.
Die Dokumente, worin Grimm, Bechstein und Co. ihre Märchensammlungen als „eigene Erfindungen“ bewerben, müssen auch erst entdeckt werden. „Jorinde und Joringel“ oder der Joker (DCComics) sind noch relativ bekannt. Deshalb kann das Wissen vorausgesetzt werden, dass Köhlmeier ja nur der Nacherzähler sein kann. Bei Stoffen, die ursprünglich nicht auf Deutsch verfasst wurden, sieht es anders aus. Es ist viel schwieriger, zwischen Original und Hinzudichtung zu unterscheiden. So ist auch noch leichter, sich mit dem kulturellen Erbe anderer zu brüsten und dabei nicht erwischt zu werden.
Die kulturwissenschaftliche Bezeichnung dafür lautet kulturelle Aneignung. Michael Köhlmeier praktiziert sie zum Beispiel so: Die jiddische Maise (märchenartige Erzählung) „Jossele und der Dibbuk“ „erfand“ er ursprünglich für seinen Roman „Bruder und Schwester Lenobel“. In seiner Nacherzählung geht der jiddische Sprachduktus völlig verloren. Die Geschichte wird also aus ihrem kulturellen und sprachlichen Kontext gerissen, der auch noch verschleiert wird, weil die Leser_innen im Glauben gelassen werden, Köhlmeier hätte die Geschichte erfunden. Das ist nicht nur künstlerisch und stilistisch billig, sondern auch kulturell und politisch problematisch. Minderheitenkulturen wird nicht nur die Deutungshoheit und die Sichtbarkeit genommen, sie gehen auch noch leer aus. So schreibt die Süddeutsche Zeitung 2018: Um Geld zu verdienen, fing er an, Sagen des klassischen Altertums nachzuerzählen. „[…] Man müsse aufpassen, dass man nicht der Märchenonkel der Nation werde“, sagt Köhlmeier. „Aber die Honorare blieben gut.“
Jede Nacherzählung ist Interpretation. Das Problem bei Köhlmeiers Interpretationen ist allerdings, dass er sich verschleiert am Kulturerbe von Minderheiten bedient und der Verlag bewusst mit Köhlmeiers Urheberschaft kokettiert. Zu guter Letzt ist dieser Märchenband auch wieder ein Beispiel für einen alten, weißen, christlichen, heterosexuellen Mann, der seine Plattform besser hätte nutzen können. Es bleibt nicht dabei, dass Köhlmeier sich mehrere Stoffe anderer Kulturen aneignet. Er scheut sich nicht, rassistische und ableistische Motive zu benutzen, um seine Schauergeschichten zu illustrieren. Es ist inakzeptabel, dass 2019 immer noch Neuerscheinungen verlegt werden, die das N-Wort enthalten – wer sich fragt warum, sei „Exit Racism“ von Tupoka Ogette oder „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters empfohlen. Zu verurteilen ist diese Praxis auch deshalb, weil Michael Köhlmeier gerne auf Bühnen und Medien die antisemitische und rassistische Haltung der FPÖ kritisiert. Und er ist hier selbst in seiner Benutzung von Sprache und Text um keinen Deut besser, weil er sich hinter der „Schönheit der Märchen“ versteckt und glaubt, keine politische, kulturelle und ethische Verantwortung übernehmen zu müssen.
Mit jiddischen Erzählungen Verkaufszahlen und Profit zu machen und dabei den kulturellen Kontext zu verschweigen, ist fragwürdig. Dass Rezensent_innen die Vorgangsweise von Michael Köhlmeier und dem Carl Hanser Verlag nicht hinterfragen, ist bedenklich. Wirklich verstörend und schauerlich an seinen Märchen ist nur, dass die Irritation der weiß-christlichen, deutschen und österreichischen Leser_innenschaft auf dem Rücken von Minderheiten geschieht, die zu Fantasiegestalten stereotypisiert werden und ihre eigenen Geschichten nicht erzählen dürfen. Modern wollen sie sein, Köhlmeiers Märchen, aber das endet offensichtlich bei schnellen Autos, Radios und Parteitagen.