Manifest gegen die Krise der Ökonomie
Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.
Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.
Über 230 ProfessorInnen, Hochschullehrenden und ForscherInnen aus diversen Wirtschafts- und Forschungsinstituten rund um den Globus schließen sich dem Aufruf an. Auf der ErstunterzeichnerInnenliste sind prominente Namen wie Thomas Piketty, Robert Pollin, Paul Davidson und u.a. Markus Marterbauer und Elisabeth Springler aus Österreich zu finden. Interessierte können den Aufruf unterstützen und das Manifest unterzeichnen unter: www.isipe.net
Das Manifest übt scharfe Kritik am aktuellen Zustand der Wirtschaftswissenschaften aus, gefordert wird ein grundlegender Wandel in den Wirtschaftstheorie und deren Lehre. Der Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft konnte die Krise weder vorhersagen noch liefert sie grundlegende Verbesserungsvorschläge. Das wirft die Frage auf ob sie die Funktion einer Wirtschaftstheorie erfüllt. „An den Universitäten werden bereits längst veraltete und widerlegte Theorien unterrichtet und die Kritik daran ausgeblendet“, so eine Sprecherin der Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien, die Ökonomie sei „auf einem Auge blind. Wir wollen die Realität in die Hörsäle zurückholen und nicht länger hinnehmen, dass eine Vielzahl relevanter Theorien nicht im Studienplan vorkommt“. Die Studierenden wollen eine Veränderung bewirken und im Kleinen passiert das auch: „wir organisieren unsere eigenen Lehrveranstaltungen und Lesekreise, unterrichten uns gegenseitig, bauen Netzwerke auf und organisieren gerade eine Konferenz“, so die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien.
Manifest:
Internationaler studentischer Aufruf für eine Plurale Ökonomik Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird, und die Auswirkungen gehen weit über den universitären Bereich hinaus. Die Lehrinhalte formen das Denken der nächsten Generation von Entscheidungsträgern und damit die Gesellschaft, in der wir leben. Wir, 40 Vereinigungen von Studierenden der Ökonomie aus 19 verschiedenen Ländern, sind der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die ökonomische Lehre zu verändern. Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie behindert uns im Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel. Wir benötigen einen realistischen Blick auf die Welt, kritische Debatten und einen Pluralismus der Theorien und Methoden. Durch die Erneuerung der Disziplin werden Räume geschaffen, in denen Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden können.
Vereint über Grenzen hinweg rufen wir zu einem Kurswechsel auf. Wir maßen es uns nicht an, die endgültige Richtung zu kennen, sind uns aber sicher, dass es für Studierende der Ökonomie wichtig ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven und Ideen auseinanderzusetzen. Pluralismus führt nicht nur zur Bereicherung von Lehre und Forschung, sondern auch zu einer Neubelebung der Disziplin. Pluralismus hat den Anspruch, die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Im Zentrum sollten dabei drei Formen des Pluralismus stehen:
- Theoretischer Pluralismus,
- methodischer Pluralismus und
- Interdisziplinarität.
Theoretischer Pluralismus verlangt, die Bandbreite an Denkschulen in der Lehre zu erweitern. Wir beziehen uns dabei nicht auf eine bestimmte ökonomische Tradition. Pluralismus heißt nicht, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern eine lebendige, intellektuell reichhaltige Debatte anzuregen. Pluralismus heißt, Ideen kritisch und reflexiv miteinander zu vergleichen. Während in anderen Disziplinen Vielfalt selbstverständlich ist und sich widersprechende Theorien als gleichberechtigt gelehrt werden, wird die Volkswirtschaftslehre häufig dargestellt, als gäbe es nur eine theoretische Strömung mit eindeutigem Erkenntnisstand. Natürlich gibt es innerhalb dieser dominanten Tradition Varianten. Allerdings ist das nur eine von vielen Möglichkeiten, Ökonomik zu betreiben und die Welt zu betrachten. In anderen Wissenschaften wäre so etwas unerhört. Niemand würde einen Abschluss in Psychologie ernstnehmen, der sich nur mit Freudianismus beschäftigt, oder ein politikwissenschaftliches Studium, in dem nur der Leninismus auftaucht. Umfassende volkswirtschaftliche Bildung vermittelt die Vielfalt der theoretischen Perspektiven. Neben den für gewöhnlich gelehrten auf der Neoklassik basierenden Ansätzen ist es notwendig, andere Schulen einzubeziehen. Beispiele für diese Schulen sind die klassische, die post-keynesianische, die institutionelle, die ökologische, die feministische, die marxistische und die österreichische Tradition. Die meisten Studierenden der Volkswirtschaftslehre verlassen die Universität, ohne jemals von einer dieser Perspektiven auch nur gehört zu haben. Es ist essentiell, schon im Grundstudium reflektiertes Denken über die Ökonomik und ihre Methoden zu fördern, beispielsweise durch Veranstaltungen zu philosophischen Aspekten der Volkswirtschaftslehre sowie Erkenntnistheorie. Theorien können losgelöst aus ihrem historischen Kontext nicht nachvollzogen werden. Studierende sollten daher mit der Geschichte des ökonomischen Denkens, Wirtschaftsgeschichte und den Klassiker der Ökonomie konfrontiert werden. Momentan fehlen solche Kurse entweder vollständig oder wurden an den Rand des Lehrplans gedrängt.
Methodischer Pluralismus bezieht sich auf die Notwendigkeit unterschiedlicher Forschungsmethoden in der Volkswirtschaftslehre. Es ist selbstverständlich, dass Mathematik und Statistik wesentlich für unsere Disziplin sind. Aber viel zu häufig lernen Studierende nur, quantitative Methoden zu verwenden. Dabei wird zu selten darüber nachgedacht, ob und warum diese Methoden angewandt werden sollten, welche Annahmen zugrunde liegen und inwieweit die Ergebnisse verlässlich sind. Es gibt außerdem wichtige Aspekte der Ökonomie, die durch quantitative Methoden allein nicht verstanden werden können: Seriöse ökonomische Forschung verlangt, dass quantitative Methoden durch andere sozialwissenschaftliche Methoden ergänzt werden. Um beispielsweise Institutionen und Kultur verstehen zu können, müssen qualitative Methoden in den Lehrplänen volkswirtschaftlicher Studiengänge größere Beachtung erfahren. Dennoch besuchen die meisten Studierenden der Ökonomik nie eine Veranstaltung zu qualitativen Methoden.
Für ein umfassendes volkswirtschaftliches Verständnis sind interdisziplinäre Ansätze notwendig. Studierende müssen deshalb innerhalb ihres Studiums die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften zu beschäftigen. Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft. Ökonomische Phänomene können nur unzureichend verstanden werden, wenn man sie aus ihrem soziologischen, politischen oder historischen Kontext reißt und in einem Vakuum darstellt. Um Wirtschaftspolitik intensiv diskutieren zu können, müssen Studierende die sozialen Auswirkungen und ethischen Implikationen ökonomischer Entscheidungen verstehen. Die Umsetzung dieser Formen von Pluralismus wird regional variieren. Sie sollten jedoch folgende Ideen einbeziehen:
- Vermehrte Einstellung von Lehrenden und Forschenden, die theoretische und methodische Vielfalt in die Studiengänge der Ökonomik tragen;
- Erstellen und Verbreiten von Materialien für plurale Kurse;
- Intensive Kooperationen mit sozialwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Fakultäten oder Aufbau spezieller Einrichtungen zur Verantwortung interdisziplinärer Programme.
Dieser Wandel mag zwar schwierig erscheinen. Doch er ist bereits in vollem Gange. Weltweit treiben Studierende diesen Wandel Schritt für Schritt voran. Mit Vorlesungen zu Themen, welche nicht im Lehrplan vorgesehen sind, können wir wöchentlich Hörsäle füllen. Wir haben Lesekreise, Workshops und Konferenzen organisiert, haben die gegenwärtigen Lehrpläne analysiert und alternative Programme entwickelt. Wir haben begonnen, uns selbst und andere in den Kursen zu unterrichten, die wir für notwendig erachten. Wir haben Initiativen an den Universitäten gegründet und nationale und internationale Netzwerke aufgebaut.
Kontakt: pluralismus@wu.ac.at
Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien