Lesestoff für den Sommer
Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.
Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.
Wie sollten wir sein?
„Wir leben in einer Zeit ziemlich großartiger Blowjob-Künstlerinnen. Jede Ära hat ihre Kunstform. Das 19. Jahrhundert, das weiß ich, war super für den Roman.“ Ein bisschen ist Sheila Hetis Roman wie die HBO-Serie „Girls“. Er handelt von schlechtem, ungeschöntem Sex und von Kunst, vor allem aber geht es um die Freundschaft zwischen zwei Frauen. Als „Wie sollten wir sein?“ 2012 in den USA erschien, wurde es zum großen Erfolg. Zu Recht. Der Kanadierin Sheila Heti ist ein Künstlerroman gelungen, der ganz ohne Form auskommt und die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Literarischem auflöst. Eine junge Frau namens Sheila soll seit Jahren ein feministisches Theaterstück fertigschreiben, lässt sich von ihrem Mann scheiden und führt mit ihrer besten Freundin, der Malerin Margaux, zahllose Gespräche darüber, was der Mensch, das Ich, die Kunst sein sollte. „Margaux ergänzt mich auf eine Weise, die spannend ist. Sie malt mich, und ich nehme auf Band auf, was sie sagt. Wir tun beide, was wir können, damit die andere sich berühmt fühlt.“ Die transkribierten Gespräche sind dann auch ein großer Bestandteil von Hetis Roman, der in seiner Stillosigkeit alles sein kann: geschwätzig, banal, klug, berührend und komisch. Antworten gibt er im Übrigen keine. (Sara Schausberger)
Sheila Heti: „Wie sollten wir sein? Ein Roman aus dem Leben“, aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, 2014, 336 S., gebunden 19,95 Euro, als e-book 16,99 Euro.
Mit Kindersicherung der Apokalypse entgegen
Jess ist 15, und allein schon die Nennung dieses Alters reicht ja, die Dämonen der späten Kindheit, die erwachenden Begehrlichkeiten des ungeschlachten Körpers, die ganze geballte Unzufriedenheit und fahrige Euphorie zu beschwören. Der Fall von Jess ist aber noch ein bisschen härter; sie ist die Tochter fundamentalistischer Christen, die glauben, dass die Endzeit unmittelbar bevorsteht, weshalb sie mit Jess und ihrer 17-jährigen Schwester Elise einen Roadtrip von Alabama nach Kalifornien unternehmen – mit aktivierter Kindersicherung der Apokalypse entgegen. Elise ist Vegetarierin, unglaublich hübsch und heimlich schwanger, während Jess, die pummelige Ich-Erzählerin, mit ihren Eltern von Fiesta Omelette zu Hamburger, von Schoko-Milchshake zu Bean Burrito zieht. Geschlafen wird in billigen Motels oder im Days Inn, die Familie ist sparsam, obwohl sie das Geld im Jenseits ja nicht mehr braucht. Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass das Szenario nie zum Ausnahmezustand gerät; die Figuren sind alle so himmelschreiend normal und plausibel – die schwitzige Autonähe, die schlecht verheimlichte Arbeitslosigkeit des Vaters. Dieses Buch ist eine großartige Mischung aus klassischem Road Trip, Coming of Age und liebevoll angeekelter Phänomenologie der amerikanischen Gegenwart. (Hannah Lühmann)
Mary Miller, „Süßer König Jesus“, aus dem Amerikanischen von Alissa Walser, Metrolit Verlag, 2. Auflage Berlin 2013, 288 S., gebunden 19,99 Euro, als e-book 14,99 Euro.
Geniale Fingerübung
In der deutschen Feuilletonlandschaft taucht in jüngster Zeit immer dann das Wort „Institutsprosa“ auf, wenn der Rezensent oder die Rezensentin darauf hinaus möchte, dass ein Werk, vorzugsweise ein Debüt, irgendwie „blutleer“ und „erfahrungsarm“ sei und man ihm anmerke, dass der Autoroder die Autorin einem bildungsbürgerlichen Elternhaus entstammt, welches ihm oder ihr das Studium an einem der großen Literaturinstitute ermöglicht habe. Fabian Hischmann, der sowohl am Hildesheimer als auch am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, hatte es nach Erscheinen seines Debüts nicht leicht, weil sich die RezensentInnen förmlich auf ihn stürzten und in seinem Roman eine „Fingerübung“ oder gar „infantile Hilfsverb-Prosa“ sahen. Neben diesen rezensorischen Gleichgültigkeits- bis Wutbekundungen steht die Nominierung für den Leipziger Buchpreis. Was ist los mit diesem Buch? Es ist ein solider, am Anfang wirklich und am Ende nur noch sanft verstörender, nun ja, Debütroman. Er erzählt die Geschichte des werdenden Lehrers und Hobbytierfilmers Max Flieger, der während eines Griechenlandurlaubs der Eltern in sein westdeutsches Herkunftsdorf zurückkehrt. Aus einem beunruhigenden Geflecht latent psychotischen Naturerlebens erhebt sich die reale Katastrophe, die den Ich-Erzähler nach Kreta und schließlich nach New York führt. Ziemlich großes Kino eigentlich. (Hannah Lühmann)
Fabian Hischmann, „Am Ende schmeißen wir mit Gold“, Berlin Verlag, 2. Auflage Berlin 2014, 256 S., gebunden 19,60 Euro, als e-book 14,99 Euro.
Der Nazienkel
Es ist die Geschichte von Martin, der jeden Abend das gleiche Ritual vollzieht, den exakt vermessenen Aufstrich in kleinen Portionen auf verschiedene Stellen des Tellers verteilt, der seine Zigarre mit der Laubsäge portioniert, „weil Tabak Laub ist“. Martin ist Anthroposoph, „Kulturmensch“, körperlich behindert, die Nazis wollen ihn sterilisieren lassen. Es ist aber auch die Geschichte von Martins Bruder Friedrich. Friedrich wird Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Er glaubt, dass körperliche Eigenschaften natürlicher Ausdruck von „Rasse" und Charakter seien; seine Aufgabe ist es, die Bevölkerung in den Grenzgebieten zu selektieren, zu entscheiden, wer „eingedeutscht“ werden soll und wer nicht. Und es ist die Geschichte von Friedrichs Enkel Per, einem deutschen Historiker, der zu Beginn der Handlung einen etwas plakativen Nazi-Enkel- Trauma-Zusammenbruch erleidet und dann beginnt, in einem Akt biographischer Selbstermächtigung der verästelten Geschichte seiner uralten protestantischen Bildungsbürgerfamilie nachzuspüren. Leos autobiographisches Buch ist besonders, weil es, wenn es das Genre „Aufarbeitungsliteratur von Nazienkeln“ gibt, dieses völlig neu verhandelt. Es ist gleichzeitig Bildungsroman von fast Thomas Mann’schem Geist, historische Forschungsarbeit und existenzielle Grundsatzreflexion. Nicht immer leicht zu lesen, aber unbedingt lesenswert. (Hannah Lühmann)
Per Leo, „Flut und Boden“, Klett-Cotta, zweite Auflage Stuttgart 2014, 350 S., gebunden 21,95 Euro, als e-book 17,99
Euro.