Kill the Masters
30 werden ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass es dazu zahllose Bücher gibt. Die Sache mit dem Erwachsenwerden wird ernst und langsam auch alternativlos. Viel schlimmer aber ist, dass der Freundeskreis erwachsen wird, Abschlüsse macht und beginnt, sich nach einer unsichtbaren Choreographie zu bewegen.
Längst hatte ich mich darauf eingestellt, auf Partys oder Events die elende Frage nach dem Studienfach zu beantworten. Geeignet sind je nach Umfeld und Stimmung „Das Leben“, „Studierende“ oder bequeme Lügen wie „Astrophysik / Sozialwissenschaften / Was mit Medien“, die gelangweilt abgenickt werden. Das Studium ist, besonders bei sogenannten Twenty-Somethings, der Default. Leute mit schulischer Ausbildung, ohne Ausbildung, festen Jobs, Behinderung, Krankheit oder Erwerbslosigkeit kommen in diesem Mikrokosmos nicht vor und werden darum auch nicht mitgedacht. Kellnern etwa ist unter Studierenden schließlich kein Beruf, sondern ein Nebenjob.
Irgendwann, spätestens mit 30, sind alle Partys in diesen homogenen Zirkeln ausgesessen, die Abschlussarbeiten abgegeben. Die Tiraden über stressige Klausurphasen (während der eigenen stressigen Pitchphase), verdammt frühe Vorlesungszeiten (9 Uhr, übel, da mach ich die dritte Rauchpause) –, Beschwerden über die Lehrqualität („Niemand sagt mir, was ich wie tun soll, die Uni bereitet einfach nicht auf das Leben vor!“) scheinen vorbei, meine Freund_innen können endlich meine eigene Not im Großraumbüro nachvollziehen.
VERSCHIEDENE HAMSTERRÄDER. Man möchte niemandem die Arbeitswelt an den Hals wünschen, aber die kleine boshafte Stimme im Kopf freut sich doch ganz kurz, dass mit dem Masterabschluss auch die letzten flügge geworden sind und endlich 40 Stunden pro Woche mit 25 Urlaubstagen im Jahr runterreißen müssen. Die Schadenfreude währt nicht lange, denn letztlich sind desillusionierte und erschöpfte Freund_innen, die plötzlich im gleichen Hamsterrad mitrennen müssen, nichts Erfreuliches. Dass die Hamsterräder in völlig unterschiedlichen Käfigen stehen, dämmert mir langsam, als ich merke, dass meine berufseinsteigenden Freund_innen sich längst an den Futtertrögen der Macht positioniert haben.
Noch in der Uni-Bib oder der Kneipe wird ein Startup oder Beratungsunternehmen gegründet. In der Mensa finden sich bei günstigen, warmen Mahlzeiten wertvolle Netzwerke zusammen. Unterstützt von Infopoint, Studierendenvertretung, psychologischem Dienst oder speziellen Angeboten der Kinderbetreuung können im Uni-eigenen Hackspace oder Bandraum Fertigkeiten ausprobiert und entwickelt werden. Rabatte beim Nahverkehr und Laptopkauf, dem Uni-Dönerladen oder dem städtischen Kulturangebot, Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen und damit Wissen – die Ressourcen werden verteilt. Des einen Bildungsförderung ist des anderen Ausschluss, Barriere oder gläserne Decke.
PRIVILEGIEN POPPEN AUF. Man muss nicht erst in einer Burschenschaft vernetzt sein, um von akademischen Strukturen auch langfristig zu profitieren: etwa durch Alumni-Netzwerke, Mentoring-Projekte mit dem Vorstand und der Startpositionierung an den richtigen Schnittstellen. Die ersten treten ihr Erbe an oder studieren direkt aus der staatlich geförderten Eigentumswohnung der akademisierten Eltern heraus.
War es bisher Common Sense, gerade als klassischerweise linke_r Studierende_r, Klassenunterschiede, Rassismus und Sexismus irgendwie blöd zu finden, wandeln sich diese Einstellungen mit dem zunehmenden Profit an den eigenen Privilegien. Zuvor von Möglichkeiten und Lebenswegen überfordert, verengt sich mit der beruflichen Qualifizierung im Angesicht des ernsten Lebens der Blick nach und nach. Steuerlasten wollen gemindert werden und selbsternannte Leistungstragende sich abgesichert wissen.
Die 4-Zimmer-Altbauwohnung, einst als Studi-WG angemietet, bleibt besetzt und eignet sich mit eingefrorenem Mietvertrag und ohne Mitbewohner_in perfekt als zukünftiges Familiennest für die nächste Generation Elite. Herrschaftskritisch, im Rahmen einer selbstverständlich gleichberechtigten Beziehung, wird die Haushaltsarbeit aufgeteilt, indem man via App eine Putzfrau engagiert. Sozialneidisch denke ich an meine dreckige Wohnung und beäuge die vom als kärglich bejammerten Einstiegsgehalt angeschafften neuen Couchgarnituren und Einbauküchen. Die frischgebackenen Master beneiden mich derweil um meine langjährige Berufserfahrung. Ich versuche, mir vor Augen zu halten, was für ein Glück ich hatte, mit 16 Vorstellungsgespräche und Gehaltsverhandlungen führen zu dürfen, scheitere aber, als ich mich daran erinnere, dass die Gleichaltrigen seinerzeit auf Klassenreise in New York waren und ich mir frühestens in fünf Jahren ein neues Sofa leisten kann.
Auch ohne die vermisste Berufserfahrung kann die Werkstudentin von gestern morgen meine neue Vorgesetzte sein. So lebe ich in der ständigen Furcht, eines Tages Vorgesetzten ausgeliefert zu sein, deren eigene Erfahrungen als Arbeitnehmende sich darauf beschränken, schon einmal Promotionsmaterial in der Fußgängerzone verteilt oder eine Kickstarter- Kampagne aufgesetzt zu haben. Das Praktikumsprojekt und ein_e gewogenr_e Professor_in sind „Referenzen”, der Bekanntenkreis „Kontakte”.
Auf den Partys gibt es jetzt richtiges Essen, dazu werden Visitenkarten gereicht, Projektideen und Kooperationen besprochen. Aus meinem bewunderten Erfahrungsschatz heraus rate ich, nun unironisch, zu Berufsunfähigkeitsversicherung und Steuerberatung. Das bringt mir diverse Anfragen für das Korrektorat von Bewerbungsanschreiben ein, und ich wünsche mir die Hausarbeiten der anderen zurück, für die ich leider nie genug Adorno gelesen hatte, obendrein nichts von akademischen Zitierregeln verstanden habe und daher leider nicht helfen konnte. Ich werde endlich nicht mehr gefragt, was ich studiere, sondern danach, was ich eigentlich studiert habe.
Anne Pohl sollte an dieser Stelle angeben, was sie wo studiert hat.