Nadja Etinski

Auf der Suche nach Utopia

  • 03.05.2024, 10:28
Zwischen Hyperpolitik und Entpolitisierung – Warum wir dringend konkrete Utopien brauchen.

Während Rechtsextremismus und Gewalt in Deutschland und Österreich zunehmen, fehlt es an politischen Alternativen und konkreten Zukunftsvisionen.

Die gegenwärtige politische Landschaft in westlichen Demokratien ist geprägt von einem häufig gebrauchten, doch oft diffusen Begriff: der Krise der Demokratie. Inflationär verwendet, verweist er auf eine Schwächung demokratischer Institutionen, den Aufstieg demokratiefeindlicher, rechter Parteien und zunehmende autoritaristische Einstellungen in der Bevölkerung. Aber gibt es überhaupt noch glühende Verteidiger:innen einer progressiven  Demokratie, die dieser negativen Entwicklung etwas entgegensetzen? Beobachten wir nicht eher eine zunehmende Entpolitisierung in allen Gesellschaftsschichten?

Einer Entpolitisierung würde der Historiker Anton Jäger vehement widersprechen. Er beobachtet im Gegenteil eine „hyperpolitisierte“ Gegenwart. Mit dem Konzept der Hyperpolitik beschreibt er in seinem Buch mit demselben Titel eine Gesellschaft, die sich zwar in einem Zustand intensiver Politisierung befindet, aber dabei ohne entscheidende politische Konsequenzen verharrt. In diesem Spannungsfeld entsteht eine paradoxe Dynamik: politische Energie wird erzeugt, ohne dass ersehnte Veränderungen eintreten. Diese Analyse wird zum Beispiel durch die Black Lives Matter Demo 2020 in Wien greifbar, die trotz der außergewöhnlich hohen Beteiligung letztlich durch das Fehlen einer nachhaltigen institutionellen oder organisierten Form keine signifikante Verbesserung der Lebensrealität Schwarzer Menschen in Österreich erzielte. Darüber hinaus ist eine gewisse Bescheidenheit und inhaltliche Leere vieler Parteiprogramme zu beobachten, die immer mehr Menschen resignieren lässt. Die Zeit der Massenmobilisierung ist vorbei – es sei denn es handelt sich um rechtspopulistische Themen.

 

Gefährliche Entwicklungen und das Anbiedern an Rechte Narrative

Wer heute aus linker Perspektive das gute Leben für alle einfordert, wird häufig belächelt. Glück wird im öffentlichen politischen und psychologischen Diskurs oft als individuelles Streben betrachtet und nicht als ein gemeinsames Ziel, das es politisch zu erkämpfen gilt. Diese Sichtweise verhindert eine kollektive Ausrichtung auf das Streben nach einem besseren Leben und einer solidarischen Gemeinschaft. Sozioökonomischen Umstände werden individualisiert und privatisiert, persönlicher Erfolg wird dadurch zu etwas, auf das die Politik keinen Einfluss hat. Wenn also die Welt, in der wir leben, schlecht ist, ändern wir nicht die Welt, sondern die Art, wie wir mit ihr umgehen. Diese Entpolitisierungstendenz und Individualisierung ist international beobachtbar. Konkrete Utopien hingegen haben das Glück und ein gutes Leben für alle zum Ziel und formulieren klare Vorschläge, wie dieses zu erreichen ist.

Anstatt utopische Ziele zu formulieren, zeichnet sich die Parteienlandschaft in Deutschland und Österreich durch einen Mangel an visionären Konzepten aus. Dieser zeigt sich auch in der Anpassung an rechtsextreme Positionen. Das Anbiedern an rechte Narrative schafft eine gefährliche Dynamik, die dazu führt, dass gesellschaftliche Tabuthemen Eingang in den politischen Diskurs finden. Bedrohungen für die Demokratie werden verharmlost und nationalistische Narrative gewinnen an Dominanz. Die aktuelle politische Landschaft scheint sich zunehmend nach rechts zu orientieren und es fehlt an klaren Gegenpositionen und Alternativen. Narrative rechtsextremer Parteien wie der AFD oder der FPÖ werden mittlerweile von konservativen, liberalen, grünen und auch sozialdemokratischen Parteien übernommen. Der deutsche Bundeskanzler war im Oktober groß auf der Titelseite des Spiegel mit folgendem Zitat abgebildet:„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Solche Sätze hätte man noch vor wenigen Jahren von keinem Sozialdemokraten erwartet – ja nicht einmal von der Ex-Kanzlerin Angela Merkel, die der konservativen CDU angehörte.

Sowohl in Deutschland, als auch in Österreich wird aktuell über das Aussetzen des Asylrechts diskutiert. Die FPÖ fordert wiederholt „einen sofortigen Asylstopp“, obwohl es sich dabei um einen Verstoß gegen die EU-Menschenrechtskonvention handelt. Wo bleibt der Aufschrei?Diese Forderung entbehrt jeder realen Grundlage. Die Zahl der Anträge auf Asyl in Österreich sinkt seit Jahren. Das liegt auch an der Kooperation Österreichs mit Ungarn und Serbien, die bereits an der EU-Außengrenze durch illegale Pushbacks die Anzahl der Asylanträge bedeutend minimieren. Die Gewalt, mit der flüchtende Menschen an den EU-Außengrenzen konfrontiert werden, wird von fast allen politischen Parteien Deutschlands und Österreichs bewusst in Kauf genommen oder zumindest geduldet. Die Linke in Deutschland und in Österreich die KPÖ und die SPÖ unter Andreas Babler sind die einzigen Parteien, die nicht auf diesen Zug aufspringen. Doch wo bleibt eine offensive Gegenpolitik?

 

Die Klimakrise als Chance für neue Utopien

Kriegerische Auseinandersetzungen nehmen weltweit zu und auch Hunger und Klimaschäden werden Menschen weiterhin dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und irgendwo anders Schutz zu suchen. Vor dieser Realität können wir uns nicht verschließen. Vor allem die Klimakrise muss dabei mitgedacht werden. Diese wäre eigentlich eine Chance, um neue politische Lösungen und Perspektiven in den Diskurs einzubringen. Zwei Dinge macht die drohende Klimakatastrophe nämlich deutlich: 1. Alles verändert sich und auch wir müssen etwas ändern, um uns anzupassen. 2. Der Kapitalismus und seine Logik des ewigen Wachstums sind mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten einfach nicht vereinbar. Hier wäre eine radikale Politik der Endlichkeit einzufordern.
 Doch keine politische Partei formuliert konkrete Vorschläge, wie die Katastrophe abzuwenden ist. Kein:e Politiker:in entwirft eine konkrete Utopie, die zukünftigen Generationen ein unbeschwertes Leben auf diesem Planeten noch ermöglichen könnte.

Ähnlich wie in Deutschland und in Österreich die Klimakrise im politischen Diskurs ausgeblendet und verharmlost wird, geschieht es auch mit rechter Gewalt und extremistischen Ideologien. Doch marginalisierte Menschen können die wachsende Bedrohung nicht einfach wegschieben und ignorieren. Rassismus und Antisemitismus nehmen in Deutschland und Österreich massiv zu. Wir erleben eine brandgefährliche Situation, aber ich beobachte innerhalb der Regierung kein Interesse, sich damit auseinanderzusetzen. Während es für die Mehrheit der Gesellschaft einfacher ist, die angesprochenen Probleme und ihre eigene Verantwortung zu ignorieren, wären Betroffene froh, wenn wir eine Gesellschaft bauen, in der sie nicht um ihr Leben fürchten müssen. Wenn man sich vor Augen führt, wie schnell antisemitische Gewalt seit dem 7. Oktober angestiegen ist, bekommt man es mit der Angst zu tun. In Deutschland wurden dem Bundeskriminalamt seitdem 680 antisemitische Straftaten gemeldet. In Österreich warnte die Israelische Kultusgemeinde vor einem Anstieg der antisemitischen Vorfälle auf 300 Prozent im Vergleich zu den Daten im Vorjahr. Bereits in den ersten 13 Tagen seit Beginn des Kriegs wurden 76 antisemitische Vorfälle gemeldet. Dabei wurden jene nach dem 20. Oktober, wie zum Beispiel die heruntergerissene Israel-Fahne vor dem IKG-Gebäude, oder der Brand und die Hakenkreuz-Schmierereien im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs in der Statistik noch nicht einmal berücksichtigt. Auch die Zahl rassistischer Vorfälle und Einstellungen in Deutschland und Österreich hat erheblich zugenommen. Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA), die am 25. Oktober veröffentlicht wurde, liegt Österreich gemeinsam mit Deutschland an der traurigen Spitze.

Wir sind also gesellschaftlich an einem Punkt, an dem wir über konkrete Gewalterfahrungen seitens der Polizei, staatlicher Institutionen, oder rechter Gruppen auf den Straßen und im Internet sprechen müssen. Wir sind immer noch an einem Punkt, an dem Rassismus und Antisemitismus für viele betroffene Alltag ist. Wo bleibt die breite Diskussion darüber? Wo die gesellschaftliche Auseinandersetzung? Wo politische Initiativen und Projekte? Das Ziel von Politik muss sein, diese Gewalt zu reduzieren. Ist das bereits utopisch?

Anstatt sich mit aktuellen Bedrohungen der Demokratie auseinanderzusetzen, versuchen die Regierungen in Österreich und in Deutschland, ihr eigenes Versagen zu kaschieren. Progressive demokratische Kämpfe der Bevölkerung werden von der Politik selbst bekämpft. Das zeigt sich unter anderem an der Kriminalisierung der Proteste gegen die Klimapolitik. Die aktuelle Situation erinnert an die Handlung des Romans Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch. Dass Buch zählt heute zur Schullektüre und beschreibt, wie offene und deutliche Drohungen an die Gesellschaft von der Bevölkerung ignoriert und verharmlost werden. Die Brandstifter kündigen offen an, Brände stiften zu wollen, doch es wird ihnen nicht geglaubt und erst recht nichts dagegen unternommen. Am Ende wundert man sich darüber, dass es brennt.

 

Utopie oder Dystopie? Das Fehlen klarer Visionen

Aktuell liegt die FPÖ in allen Umfragen auf Platz eins. Was machen wir, wenn sie die Wahlen nächstes Jahr gewinnt? Wie gehen wir mit der Gewalt gegen marginalisierte Gruppen und den Anstieg rechtsextremer Ideologie in der Gesellschaft um? Ist es wirklich schon utopisch, wenn man ein Leben ohne Gewalt und Armut auf einem bewohnbaren Planeten fordert? Egal, wie die Antwort darauf lautet, bleibt die zentrale Frage: warum tut es niemand?

Die politische Konzeptlosigkeit zeigt sich in der Orientierungslosigkeit der Parteien. Es fehlt an Zukunftsvisionen, die über das Anbiedern an rechte Narrative hinausgehen. Ein Funke Hoffnung entflammt mit Andreas Babler als neuer Spitze der SPÖ. Sein Plädoyer für sozialdemokratische Werte, eine Politik gegen rechte Gewalt und kapitalistische Ausbeutung bietet eine mögliche Antwort. Babler setzt dem rechten Diskurs aktiv etwas entgegen, wenn er über Gerechtigkeit, Solidarität und Respekt spricht. Doch obwohl er dabei nicht wirklich radikal ist, wird er für seine Rhetorik belächelt. In der berühmten Rede, die ihm zum Wahlsieg verholfen hat, stellte er fest: „Wir sind also Träumer, wenn wir das alles umsetzen wollen.“ Er setzt der inhaltlichen Leere der österreichischen Parteienlandschaft sozialdemokratische Forderungen entgegen, indem er betont, dass diese Träume realisierbar sind. Bablers Rede war hoffnungsvoll und kämpferisch, doch stellt sein Programm nicht die einzige mögliche Zukunftsvision dar. Die Tatsache, dass die Sozialdemokratie in Österreich bereits als größter Traum gilt, während sie in Deutschland völlig undenkbar geworden ist, zeichnet ein düsteres Zukunftsbild.

Bis zur nächsten Wahl verbleibt weniger als ein Jahr, in dem noch Einiges passieren kann. Dass eine offensive, emanzipatorische Politik, in der niemand zurückgelassen wird, utopisch geworden ist, zeigt deutlich, wie es um konkrete Utopien in der Gesellschaft steht. Wir müssen die Klimakrise mitbedenken und radikalere Utopien formulieren. Die Forderung nach einem guten Leben für alle und einer progressiven, demokratischen Bewegung ist kein Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit.

 

 

Nadja Etinski studiert Zeitgeschichte und Medien an der Uni Wien, arbeitet als Buchhändlerin und schreibt regelmäßig Artikel zu gesellschaftspolitischen Themen.

 

Foto © Vanessa Hundertpfund