Kann jede_r unterrichten?
„Teach for Austria“ rekrutiert angeblich „Top-AbsolventInnen“ für Schulen im sozialen Brennpunkt. Zwei Jahre lang unterrichten die Jung-AkademikerInnen an Neuen Mittelschulen, Berufsschulen und Polytechnischen Schulen. Wer profitiert davon?
Michael Fellner hat es geschafft. Seit September 2015 ist der BWL-Absolvent einer von 72 „Teach for Austria“-Fellows. Der 25-Jährige unterrichtet an einer Polytechnischen Schule in der Wiener Burggasse. Was hat den Top-Absolventen – Austauschsemester in den USA, Bachelor an der WU, Praktikum bei Red Bull – dazu bewogen, in einer Schulklasse mit Jugendlichen zu arbeiten? „Hier kann ich etwas für die Zukunft verändern“, meint Fellner: „Hier kann ich direkt, Tag für Tag, sehen, ob ich Erfolg habe oder nicht.“ In Fellners Schule werden Schülerinnen und Schüler unterrichtet, die zu 85 Prozent eine andere Muttersprache als Deutsch haben. Stolz ist Fellner auf das Projekt „Schulbuffet“: „Die Kids übernehmen regelmäßig das Buffet, von den Einkäufen über die Preisplanung bis hin zur Zubereitung der Speisen und den Verkauf. Durch solche Projekte bringen wir frischen Wind an die Schulen.“
Mit einem strengen, mehrteiligen Ausleseverfahren rekrutiert „Teach for Austria“ seit 2012 Jahr für Jahr ausgezeichnete Studienabsolventinnen und -absolventen. Für zwei Jahre übernehmen sie per Sondervertrag eine volle Lehrverpflichtung an Schulen in Wien und Salzburg. Die Fellows sind an Schulen tätig, die überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, nichtdeutscher Alltagssprache und finanziell schwachem Background besuchen. Das Besondere an „Teach for Austria“: Niemand von den Fellows hat Lehramt studiert. Die akademische Bandbreite der Lehrkräfte reicht von Archäologie über Sinologie und Quantenphysik bis zu Volkswirtschaft.
VERERBTE BILDUNG. Bildung wird in Österreich zu einem großen Teil nach wie vor „vererbt“. Will heißen: Vom ArbeiterInnenkind zum/r AkademikerIn – diese „Karriere“ ist in Österreich die Ausnahme. Laut Statistik Austria erreichen nur 6,6 Prozent der Kinder von Eltern mit Pflichtschulabschluss einen Uni- Abschluss – gegenüber 55,8 Prozent der Kinder mit „akademischen“ Eltern.
„Teach for Austria“ ist Teil des weltweiten „Teach for all“-Netzwerks, das ähnliche Programme in 36 Ländern durchführt. Der Geschäftsführer Walter Emberger betont: „Wir wollen Potenziale statt Defizite entdecken. Wir wollen Kinder fit machen für eine immer komplexer werdende Gesellschaft. Wir schauen auf den Output – was können die Kinder?“ Bildung als ökonomische Gleichung also. Dazu passt, dass „Teach for Austria“ zu einem großen Teil von Sponsoren aus der Wirtschaft finanziert wird. Die öffentliche Hand übernimmt die Gehälter der Fellows.
MANGELWARE LEHRKRAFT. Bis 2025 wird die Hälfte der rund 72.000 Lehrkräfte in Österreich in Pension gehen. „Der Markt an guten Leuten ist leer gefegt“, sagt der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann. QuereinsteigerInnen-Programme wie „Teach for Austria“ sind daher laut Stadtschulrat Wien positiv zu sehen. „Wir haben einen akuten Lehrermangel, und das sind junge, engagierte Leute“, so eine Mitarbeiterin des Stadtschulrats, die lieber anonym bleiben möchte. Als eine Konkurrenz zu den „normalen“ Lehrkräften sieht man das Programm nicht, denn: „Sie sind Teil des normalen Systems, eine Ergänzung.“ Michael Fellner bestätigt, dass man „keine Extrawurst“ erhalte.
Durch eine mehrwöchige Sommerakademie und Online-Kurse werden die „Teach for Austria“-Fellows auf den Unterricht vorbereitet. Ein Konzept, das an der Universität Wien auf Skepsis stößt: „Eine gute Germanistin ist noch lange keine gute Deutschlehrerin. Es gehört mehr dazu als fachliches Wissen und ein Pädagogik-Schmalspurprogramm“, meint eine Professorin am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien, die anonym bleiben möchte. Walter Emberger sieht es anders: „Wir wollen die Besten eines Jahrgangs. Die Motivation ist entscheidend.“
WER PROFITIERT? Ob die Schülerinnen und Schüler oder die Fellows den größten Nutzen aus „Teach for Austria“ ziehen? Unabhängige Studien darüber gibt es für Österreich bis dato nicht. Zahlen aus den USA zeigen, dass die von Fellows unterrichteten Schülerinnen und Schüler keine schlechteren Ergebnisse erzielen als jene, die von „normalen“ Lehrkräften unterrichtet werden – aber auch keine besseren. Deborah Appleman, Professorin am Carleton College, merkt an, man stärke ein „heroisches und altruistisches Narrativ“. Einer Verklärung als „Elite“ will „Teach for Austria“ entgegenwirken: „Wir wollen nicht elitär wirken. Es gibt bequemere Wege, den Lebenslauf aufzubessern.“ Für die Fellows gibt es allerdings ein umfassendes Förderungsprogramm, von dem „normale“ Lehrkräfte nur träumen können: Leadership-Ausbildung („exzellente Lehrkräfte sind exzellente Führungskräfte“), Praktika, Workshops, Networking-Abende. „Teach for Austria“ ermöglicht, mit finanzkräftigen Sponsoren im Hintergrund, all das, was im „normalen“ Alltag der Lehrerinnen und Lehrer fehlt: Karriereperspektiven, Weiterbildung, Wertschätzung. Es stellt sich die Frage, warum diese Unterstützung nicht zu den „normalen“ Lehrkräften fließt, die noch 40 Dienstjahre an den Schulen vor sich haben.
Ungefähr die Hälfte der Fellows bleibt nach zwei Jahren weiterhin im Schuldienst. Was Michael Fellner nach 2017 machen wird, ist noch offen. „Der Bildungsbereich ist schon cool. Hier kann ich mehr bewegen als bei einer Firma.“
Susanne Weber hat Politikwissenschaft in Wien und Brüssel studiert und arbeitet als Pressereferentin.