Intergeschlechtlichkeit – Eine malträtierte und tabuisierte Vielfalt.

  • 22.06.2016, 11:17
Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Identität, Geschlecht und Sexualität sind weltweit ausschlaggebende Faktoren in allen Gesellschaften – Institutionen, Wissenschaften, Rechtsordnungen, Bildungssystem und Religionen sind darauf aufgebaut. Unsere gesellschaftliche Dichotomie lässt sich kinderleicht auf zwei corpora zusammenfassen und definieren. Auf der einen Seite haben wir die Frau und auf der anderen den Mann. Natürlich findet man immer wieder leichte definitorische Abweichungen, doch das sind die starren vorherrschenden Normen der Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, die von unseren Gesetzbüchern wahrgenommen werden. Und das bei rund 7,39 Milliarden Menschen. Ich wiederhole: 7.390.000.000 Menschen. Diese triviale Sicht auf Körperlichkeit und Wahrnehmung spiegelt sich konzentriert auf juristischer, aber verstärkt auch auf medizinischer Ebene, was für zahlreiche Menschen, die nicht der Norm entsprechen, imponderables Leiden verursacht.

WAS IST INTERGESCHLECHTLICHKEIT? Intergeschlechtlichkeit ist ein Überbegriff für Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale die willkürlich gesetzten Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ überschreiten. Es kann sich hier um chromosomale, anatomische und/oder hormonelle Geschlechtsmerkmale handeln. Deswegen kann auch nicht von einem bestimmten intergeschlechtlichen Körper die Rede sein. Es gibt ihn einfach nicht: Diversität ist das Stichwort. Darüberhinaus kann auch nicht von einer Geschlechtsidentität gesprochen werden. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen definieren sich als Mann oder Frau, viele aber auch als Inter*, Trans* oder anderes.

Intergeschlechtlichkeit wird manchmal bereits bei der Geburt eines Kindes festgestellt, manchmal in der Pubertät – wenn diese anders verläuft als erwartet, und manche erfahren davon, wenn ein unerfüllter Kinderwunsch besteht und nach einer medizinischen Lösung gesucht wird. Bei sehr viele Menschen bleiben intergeschlechtliche Merkmale ein ganzes Leben lang unbemerkt. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,7 Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich ist, d. h. auf die derzeitige Weltbevölkerung berechnet kommen wir zu der Zahl von ca. 125.630.000 Menschen. Das sind 125.630.000 Gründe, das bestehende Zwei- Geschlechter-System zu beseitigen und ein Gesellschaftsmodell der Inklusion einzuführen.

Tobias Humer ist Obmann und Mitbegründer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich), Teil des unabhängigen Netzwerkes Plattform der Intersex Österreich ist. Tobias hat sich dazu bereit erklärt, seine Geschichte zu erzählen.

progress: Wie hast du über deine Intergeschlechtlichkeit erfahren und wie ist dein familiäres Umfeld damit umgegangen?
Tobias Humer: Meinen Eltern wurde sehr früh mitgeteilt, dass ich kein ,normales‘ Mädchen sei und dass meine Entwicklung beobachtet werden sollte. Sie waren deshalb einige Male bei Ärzt_innen und im Krankenhaus. Sie haben sich stets sehr unwohl gefühlt, weil ich ständig rumgereicht und von zahlreichen Mediziner_innen als Sensation betrachtet wurde. Ihnen wurde verordnet, jedes Jahr ins Krankenhaus zu gehen, doch sie entschieden sich dagegen, was eigentlich ziemlich gut war. Leider wurde meine Intergeschlechtlichkeit danach aber verschwiegen. Es wurde nie darüber geredet. Das Tabu war so stark, dass auch ich es nicht schaffte, darüber zu sprechen, obwohl ich mir meines „Anders-Seins“ recht früh bewusst war. In der Pubertät begann mein Körper dann, sich immer weiter von der weiblichen Norm zu entfernen und es wurde immer schwieriger für mich, nicht aufzufallen. Es gab niemand, mit dem ich darüber sprechen konnte und ich wusste auch von niemandem, di*er so war wie ich. So entschied ich mich mit vierzehn Jahren, mich umzubringen.

ALLES WAS ANDERS IST, IST KRANK. Inter* Menschen sind einer steten Pathologisierung und Stigmatisierung ausgesetzt, die irreversible Schäden mit sich bringen. Die Medizin klassifiziert diese Vielfalt als „Störung der Geschlechtsentwicklung“ (disorders of sex development, DSD) was sich gut in der Auflistung im ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) niederschlägt, wo bis 1992 auch Homosexualität als Krankheit gelistet war. Je nachdem wie der Wissensstand der Mediziner_innen ist, werden die Eltern von zwischengeschlechtlichen Kindern aufgeklärt – ihnen wird aber fast immer geraten, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Ist die Entscheidung gefallen, wird zum Skalpell oder zu Hormonen gegriffen: Eine zu große Klitoris wird verkleinert, ein zu kleiner Penis vergrößert, künstliche Vaginas werden angelegt, Hormone oder Pubertätshemmer verabreicht und oft auch eine Kombinationen solcher Methoden angewandt. Die Liste ist lang. Die meisten Eingriffe, die bei zwischengeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden, sind medizinisch nicht notwendig und somit rechtswidriger Natur, weil sie die Integrität und Autonomie des Kindes schädigen, doch unter dem Begriff „Heilbehandlungen“ stellen sie Ausnahmen dar. Diese Eingriffe ziehen in fast allen Fällen leidvolle und irreversible Konsequenzen nach sich, wie z.B. Zeugungsunfähigkeit (Sterilisation), lebenslange Abhängigkeit von künstlicher Hormontherapie, Sensibilitätsverlust, aber auch starke Traumata und Depressionen. Studien vergleichen die psychischen Folgen solcher Behandlungen mit denen von sexuellem Missbrauch und anderen schweren Misshandlungen. Dennoch ist dies auch in österreichischen OPRäumen gängige Praxis: alles unter dem Deckmantel der „Heilung“.

Welche Erfahrungen hast du mit Ärzt_innen gemacht?
Nach meinem Suizidversuch haben meine Eltern den Hausarzt gerufen, der mir eröffnet hat, dass es viele Menschen wie mich gibt und dass es ,eine Lösung‘ gibt für mein Problem – zwei Wochen später saß ich alleine vor einem Chirurgen, der mich fragte, ob ich ein Leben als Mann oder als Frau weiterführen möchte, wobei mir suggeriert wurde, dass es leichter wäre, eine Frau aus mir zu machen. Nochmal zwei Wochen später hatte ich eine kosmetische Genitaloperation hinter mir und kurz darauf war ich kastriert und bekam Östrogen. Alles ohne psychotherapeutische Unterstützung, ohne fundierte Aufklärung, und ohne mir zu erklären, dass ich auch so bleiben kann wie ich bin. Für ein paar Jahre habe ich dann versucht, diese Frau zu werden, die ich anscheinend sein sollte. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass sich das alles sehr falsch anfühlt. Mit 22 bin ich dann nach Berlin gezogen und hab dort das erste Mal in meinem Leben andere Inter* kennengelernt und begonnen, meine persönliche Geschichte in eine größere Geschichte einzuordnen. Eine Geschichte der Pathologisierung und Unsichtbarmachung von intergeschlechtlichen Menschen.

WIE KAM ES DAZU? Wenn wir einen Rückblick wagen, wie es historisch zu diesem krampfhaften Impuls der operativen Eingriffe gekommen ist, ist diese Entwicklung weniger rätselhaft als es scheint: Der amerikanische Psychologe und Sexologe John Money galt ab den 50ern bis in den 90er Jahre als wahre Instanz bezüglich Intergeschlechtlichkeit. Er setzte folgende drei Handlungsschritte für den Umgang mit normabweichenden Genitalien durch, die von der medizinischen Fachwelt, einhergehend mit der wachsenden Popularität der plastischen Chirurgie, aufgegriffen und angewendet worden sind: • die frühzeitige Geschlechtszuweisung, • die operative Angleichung in den ersten Lebensmonaten bis -jahren sowie • die Geheimhaltung der Diagnose, der Eingriffe und der Hormoneinnahmen. Gemäß der zynischen Aussage „it’s easier to dig a hole than to build a pole“ wurden Betroffene mehrheitlich in Mädchen „umfunktioniert“. Der Penis oder die Klitoris eines Kindes durfte nicht mehr als zwei Standardabweichungen von der Norm haben.

Hast du jemals versucht, die Ärzt_innen zu kontaktieren, die dich operiert und betreut haben?
„Ich habe den damals zuständigen Endokrinologen (Hormonspezialist) kontaktiert und mich mit ihm getroffen, und ihm auch klargemacht, wie unzufrieden ich mit der mir widerfahrenen Behandlung bin. Er reagierte darauf sehr respektvoll und zeigte sogar Reue – und überreichte mir dann fast meine gesamte Krankenakte, was wirklich selten ist. Oft fragen Inter*Personen nach ihren Akten und bekommen eine banale Ausrede wie „die Papiere sind leider bei einem Brand zerstört worden“. Als ich später meinen Personenstand ändern wollte, hat mir dieser Arzt dann auch einen Brief geschrieben, in dem er geschildert hatte, dass ich eigentlich ein Mann sei. Mit diesem Brief hatte ich am Standesamt in kürzester Zeit einen männlichen Eintrag – was mir klar vor Augen geführt hat, welche Definitionsmacht die Medizin hat."

HOFFNUNGSSCHIMMER. Wenn wir einen Blick über unseren Tellerrand wagen, findet man bisher zwar kaum Länder, die diese medizinische Praxis unterbinden, aber bereits viele, die zumindest im Personenstand mehr als nur zwei Geschlechter zulassen. In Australien und Neuseeland zum Beispiel ist der Passeintrag mit einem „dritten Geschlecht“ versehen, der mit einem „X“ gekennzeichnet ist. In Nepal dagegen wird dieser Eintrag mit einem „O“ festgehalten. Das „O“ steht hierbei für „others“ und das „X“ für zwischengeschlechtlich.

Im Dezember 2010 nahm sich der Deutsche Ethikrat der Debatte an und veröffentlichte eine 200-seitige Stellungnahme. Was die Politik daraus gemacht hat, ist eher problematisch. 2013 ist die Gesetzesnovelle des Personenstandsgesetzes in Kraft getreten. Sie besagt, dass die Angaben freigelassen werden müssen, wenn das Geschlecht des Neugeborenen nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, was einem Zwangsouting gleichkommt und die Eltern erst recht unter Druck setzt. Zusätzlich würde man Inter*Personen alles andere als gleichgestellt sehen, da sie nach dieser Novelle als geschlechtslos dargestellt werden. Als wahrlich avantgardistisch zeigte sich jedoch Malta. Im April 2015 wurde das „Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act 2015“ in Kraft gesetzt. Dieses Gesetz manifestiert die juristische Anerkennung von Trans*- und Inter*Personen und schützt sie umfassend vor Diskriminierung. Darüber hinaus ist Malta das erste Land, welches medizinische Eingriffe bei zwischengeschlechtlichen Säuglingen kriminalisiert.

Was hältst du von den letzten juristischen Veränderungen?
Dass der Deutsche Ethikrat sich der Sache angenommen hat, war grunsätzlich gut. So wie es jedoch die deutsche Politik umgesetzt hat, ist der Schuss nach hinten losgegangen. Wir als VIMÖ begrüßen allerdings das neue maltesische Gesetz und arbeiten daran, dass Ähnliches bald auch in Österreich passiert. Das Gesetz stützt sich auf drei Säulen: Erstens wurden geschlechtsverändernde Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen verboten. Zweitens gibt es neben männlich und weiblich nun eine dritte Option für den Geschlechtseintrag, und dieser ist leicht und unbürokratisch zu ändern. Und drittens wurde das Antidiskriminierungsgesetz ausgeweitet, sodass auch Inter*Personen ganz klar vor Diskriminierung geschützt sind. Was in Malta in Kraft getreten ist, ist eine wahre Revolution.

Interview mit Tobias Humer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich)
vimoe.at
plattform-intersex.at

Carmela Migliozzi studiert Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität Wien.

AutorInnen: Carmela Migliozzi