Iberien igelt sich ein
Im von Massenarbeitslosigkeit geplagten Spanien verfestigt sich die Meinung, dass Migration ein verzichtbares Übel sei, warnt die Internationale Organisation für Migration (IOM).
Im von Massenarbeitslosigkeit geplagten Spanien verfestigt sich die Meinung, dass Migration ein verzichtbares Übel sei, warnt die Internationale Organisation für Migration (IOM).
Die nicht enden wollende Wirtschaftskrise lässt die Ablehnung von MigrantInnen in Spanien deutlich steigen. Immer mehr SpanierInnen sind der Meinung, sie sollten das Land verlassen. „Das Klima gegenüber jenem Bevölkerungsteil hat sich besorgniserregend verschlechtert“, zu diesem Schluss kommt auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) in ihrem jüngsten Länderbericht „Die Auswirkung der Krise auf Immigranten in Spanien“. 37 Prozent lehnen mittlerweile Einwanderung generell ab. Demgegenüber stehen 33 Prozent der SpanierInnen, die sich tolerant zeigen. Ein Drittel der Befragten gab sich gleichgültig in dieser Thematik, wenngleich die IOM diesen Bevölkerungsteil als „eher ablehnend“ einstuft. Vier von fünf SpanierInnen sind zudem überzeugt, dass Migration zu Lohndumping führt. Die Mehrheit der MigrantInnen verdient in Spanien weniger als den Mindestlohn. Wie der IOM-Bericht überdies darlegt, steigen Arbeitslosigkeit und extreme Armut unter EinwandererInnen (10,8 Prozent) weit rascher als unter SpanierInnen (6,7 Prozent).
Gefährliches Klima. „Der Nährboden istgesättigt. Wenn wir nicht gegensteuern, wird dies zu einer Situation der Fragmentierung der Gesellschaft und der Exklusion der Immigranten führen“, warnt Walter Actis, Co-Studienautor. Zwischen 1996 und 2010 stieg, angetrieben vom Bauboom und einer blühenden Tourismuswirtschaft, die Zahl der gemeldeten MigrantInnen in Spanien von knapp 500.000 auf mehr als 5,5 Millionen – inklusive der EU-BürgerInnen und Eingebürgerten. „Die Krise hat zwar den Migrationsdruck gebremst. Die Bedingungen, unter denen MigrantInnen leben, sind aber besorgniserregend“, so Actis.
2007 waren lediglich zwölf Prozent der SpanierInnen der Meinung, Menschen mit irregulärem Aufenthaltsstatus sollten abgeschoben werden. Mit 2010 stieg der Wert bereits auf ein Fünftel. 43 Prozent fordern die Ausweisung von ImmigrantInnen, die lange Zeit ohne Erwerb verbleiben. Die Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen war zwischen 2008 und 2011 doppelt so hoch wie jene unter SpanierInnen, die zuletzt 25 Prozent überschritten hat. Sowohl die amtierende Rechtsregierung unter Premier Mariano Rajoy als auch dessen sozialistischer Vorgänger, José Luis Rodríguez Zapatero, haben MigrantInnen über weiterlaufende Arbeitslosenbezüge zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewegt. Zugleich forcierte Spanien Abschiebungen. 2011 waren mehr als 13.000 MigrantInnen in den Auffanglagern C.I.E (in den Nordafrika-Exklaven CETI genannt) interniert. 60 Tage dürfen sie bleiben, und offiziellen Zahlen zu Folge wurden 48 Prozent in ihre Ursprungsländer abgeschoben. Laut Zahlen von NGOs hingegen waren es mehr als 11.000 Menschen, die im Vorjahr in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt wurden. Mit Ende 2012 soll die 24.000-Personen-Schwelle überschritten werden.
Vor 20 Jahren, am 13. November 1992 erschütterte der rassistische Mord an der aus der Dominikanischen Republik stammenden Lucrecia Pérez das Land. Es war der erste dieser Art im demokratischen Spanien nach der Franco-Diktatur, die 1977 ihr Ende gefunden hatte. Eine Gruppe junger Neo-Faschisten hatte Pérez mit der Dienstwaffe eines Zivilgardebeamten, der an der Bluttat beteiligt war, erschossen. „Damals erkannte man ebenso wenig wie heute, dass es eine gefährliche Strömung gewaltbereiter Rassisten in Spanien gibt“, sagt Macel Camacho, Sprecher der Plattform gegen Xenophobie und Rassismus: „Es gilt, die Erinnerung an Lucrecia wachzuhalten, um einem aktuellen Widererstarken dieses Übels entgegenzuwirken.“
In den letzten zwei Dekaden hat Zuwanderung nach Spanien ein spektakuläres Wachstum erfahren, sagt Tomás Calvo Buezas, emeritierter Universitätsprofessor für Sozialanthropologie an der Madrider Universidad Complutense und Gründer des Studienzentrums für Migration und Rassismus an der hiesigen politikwissenschaftlichen Fakultät. Dem Anstieg von einem auf zwölf Prozentpunkte gemessen an der spanischen Gesamtbevölkerung, exklusive der „Sin Papeles“ ohne legalen Aufenthaltsstatus, steht ein knapp fünfprozentiger Zuwachs an rassistischen Gewalttaten gegenüber. Bislang funktionierten, so Calvo Buezas, die Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung, die nun jedoch deutliche Bugdetkürzungen erfahren haben. Doch damit nicht genug, wie Calvo Buezas betont: „Die Krise schafft rascher ein immer gefährlicheres Klima. Denn die Neonazi-Fraktionen oder NeofaschistInnen, wie die Goldene Morgenröte in Griechenland, nähren sich an der Mittel- und Unterschicht, indem sie diesen einen Konkurrenzkampf um Jobs und Gehälter mit MigrantInnen vorgaukeln.“
Online-Bastionen. Auch im Internet wachsen spanische Neonazi-Communities. Gab es 1992 lediglich 200 einschlägige Websites, gibt es aktuell mehr als 2000. Gleichzeitig steigt die Zahl an Lokalen, Bars und Konzerten von Neonazi-Bands landesweit. „Die Krise ist der ideale Nährboden, auf dem Neonazi- Bewegungen wachsen und gedeihen“, warnt der Sozialanthropologe weiter. Nicht minder steigt die Zahl der rechtsextremen Parteien in Spanien abseits der üblichen, wie der einstigen Einheitspartei Francisco Francos, der Falange de las J.O.N.S., und ihrer unzähligen ideologischen Klone. In den vergangenen Jahren schafften deklariert xenophobe neue Fraktionen wie España 2000 in Alcalá de Henares – einer der Wiegen der spanischen Sprache – und anderen Orten der Region Valencia, Plataforma per Catalunya im katalanischen Vic oder Democracia Nacional auch den Einzug in Stadt- und Gemeinderäte, nicht jedoch in Regionalregierungen.
In den Einsparungen im Sozialwesen, dem Aus der Gesundheitsversorgung (progress berichtete) für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, dem von Amnesty International mehrmals angeprangerten Kontrollwahn der spanischen Polizei gegenüber MigrantInnen und Massenabschiebungen sieht Calvo Buezas „institutionellen Rassismus“.
Übergriffe auf Chinesinnen. Der steigende Rassismus gilt längst nicht mehr ausschließlich LateinamerikanerInnen, MaghrebbürgerInnen oder Menschen aus dem Subsahara-Afrika. Seit der Polizeiaktion Operación Emperador gegen die chinesischeMafia Mitte Oktober, die in Spanien bis zu 1,2 Milliarden Euro jährlich „gewaschen“ habe, sehen sich nun auch chinesische StaatsbürgerInnen in Spanien Übergriffen ausgesetzt. Anfang November streikte das Gros der von chinesischen ImmigrantInnen betriebenen Geschäfte. „SchülerInnen werden von KollegInnen und Eltern als Mafiosi beschimpft. GeschäftsinhaberInnen ergeht es gleich. ChinesInnen wurden sogar in der Metro Madrids verfolgt“, beklagt Jorge García, Sprecher der Spanisch-Chinesischen Handelskammer. Ende November wurden einige der Hauptangeklagten bereits wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Ressentiments bleiben aber weiterhin bestehen.
Der Autor Jan Marot ist freier Journalist für Iberien und den Maghreb und lebt in Granada, Spanien.