Gewalt an der Grenze

  • 27.10.2014, 14:03

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

An der Straße von Gibraltar kommt es seit Monaten zu rassistischen Übergriffen. Jan Marot sprach mit der spanischen Flüchtlingshelferin Helena Maleno über die Hintergründe.

progress: Wie ist die aktuelle Situation der MigrantInnen in Boukhalef bei Tanger?

Helena Maleno: Man ist vom zivilen Terror eines mit Macheten bewaffneten radikalen Mobs zu institutioneller Gewalt übergegangen. Anstatt Täter zu verfolgen, kam es zu Festnahmen von Flüchtlingen. Konkret waren es 26 Personen, die es wagten, für mehr Schutz zu demonstrieren, was in Marokko unangemeldet verboten ist. Sie wurden verurteilt und mit regulären Linienflügen von Casablanca aus in ihre Herkunftsländer deportiert. Andere wurden direkt abgeschoben, oftmals ohne Gerichtsverfahren, ohne Feststellung ihrer Identität, ihrer Herkunft oder ihres Alters, ohne gesetzliche Garantien. Daher leben Flüchtlinge hier in permanenter Angst und Panik vor Attacken und Festnahmen. Wir fordern von Marokko ein, dass es die Konvention für migrantische ArbeiterInnen, die es unterzeichnet hat, auch umsetzt und über die bilateralen Verträge mit Spanien stellt. Letztere und der Druck seitens der EU sind für die Gewalt und Rechtlosigkeit verantwortlich. Das Einzige, was Brüssel und Madrid mit der Forcierung des Grenzschutzes erreichen, sind schreckliche Menschenrechtsverletzungen an der migrantischen Bevölkerung. Wir in Europa tragen Verantwortung für die Grausamkeiten, die MigrantInnen erfahren.

Hat die NGO Walking Borders ihre Sicherheitsmaßnahmen verschärft?

Natürlich. Dabei werden wir von der FrauenrechtsNGO OAKfoundation unterstützt. Sie helfen uns dabei, Migrantinnen zu schulen, was den Schutz vor sexuellen Übergriffen angeht. Das geht zwar mit einem Verlust der persönlichen Freiheit einher, ist aber absolut notwendig. Zudem sind wir nach all den rassistischen und oftmals sexuellen Gewaltakten der vergangenen Monate auch im Bereich der Traumabewältigung aktiv.

Welche Gruppen stehen hinter den Angriffen?

Es gibt drei Akteure. Die Hintermänner, die Aktionen planen, Macheten kaufen und Gruppen finanzieren. Sie richten sich an Kleinkriminelle, die Gewaltakte koordinieren und anführen. Hinzu kommen radikal-islamistische Elemente, die mit Parolen gegen MigrantInnen – zum Beispiel „Sie trinken Alkohol!“ und „Sie respektieren den Islam nicht!“ – Hass schüren und die Massen zusätzlich aufstacheln. Das spricht viele Jugendliche aus der Mittel- und Unterschicht an.

Gab es seitens der spanischen oder marokkanischen Institutionen Unterstützung für die Flüchtlinge?

Nein. Wir haben uns nicht viel erwartet. Die spanische Rechtsregierung und das Außenministerium haben nie von der marokkanischen Regierung Erklärungen zu den Übergriffen auf eine spanische Staatsbürgerin und Menschenrechtsaktivistin eingefordert. Politische und vor allem ökonomische Interessen stehen im Vordergrund. Das ist traurig, aber die Realität. Die spanische Regierung ignoriert ihrerseits das wiederholte, direkte Abschieben von Flüchtlingen an den Grenzen von Ceuta und Melilla. Hier wurde vom Gericht in Cadíz Anklage gegen den Guardia-Civil-Chef von Melilla erhoben. Ein weiteres Verfahren läuft, weil im Februar während eines Polizeieinsatzes in Ceuta 15 MigrantInnen ertrunken sind. Madrid ignoriert die Grundrechte von Flüchtlingen.

Wie steht es um die MigrantInnen an den Grenzen zu den spanischen Enklaven, die auf ihre Chance warten, den Wall zu überwinden?

Ceutas Lager sind seit 2006 weitgehend abgerissen. Hier gibt es, anders als am Monte Gurugu bei Melilla, wo große permanente Zeltlager existieren, nur temporäre Schlafplätze für jene, die den Sprung nach Spanien wagen. Es ist schwer, dort Hilfe zu leisten. Zuletzt haben wir daher unsere Kräfte gegen die Gewalt an der Grenze forciert. Am Grenzwall ist vor allem das Recht auf Leben gefährdet, weil das Gewaltpotenzial der Grenzwache enorm ist. Zudem halten wir die Augen offen, um auf Flüchtlingsschiffe, die in der Zone der Straße von Gibraltar in Seenot geraten sind, hinweisen zu können. Außerdem informieren wir die MigrantInnen über ihre Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Gesundheitsversorgung, und leisten Aufklärungsarbeit gegen sexuelle Gewalt, für den Schutz vor Schwangerschaften und vor sexuell übertragbaren Krankheiten.

Kam es in der ngeren Vergangenheit am Grenzwall zu Todesfällen?

Ja, doch ich kann nur einen bestätigen. Ein Malinese starb bei einem Polizeieinsatz. Ein zweiter ist laut seinen Freunden nach einem Schlag auf den Kopf durch die Grenzwache Stunden später im Zeltlager wahrscheinlich an einer Hirnblutung gestorben. Wie verhält sich die Zivilgesellschaft? In zwischenmenschlicher Hinsicht ist die Solidarität groß, besonders seitens der ärmsten marokkanischen Schichten. Auch in Spitälern behandeln ÄrztInnen und PflegerInnen MigrantInnen kostenlos und ohne die Polizei einzuschalten. Dennoch spielt die Geschichte des Rassismus gegenüber schwarzen Menschen, die in der arabischen Welt und in Nordafrika über Jahrhunderte in erster Linie SklavInnen waren, eine Rolle. Dazu kommt, dass es den Regierenden ausgesprochen genehm ist, wenn sich schwache, arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander richten und nicht gegen die MachthaberInnen. Sie könnten sich sonst ja gar gemeinsam wehren. Aber mit Positivem kann man gegen den Hass und den Rassismus arbeiten. Hier dienen afrikanische Läden, Cybercafés und der Sport, zum Beispiel Fußball, als Bindeglied.

Wie steht es um Demokratisierungsund Protestbewegungen in Marokko?

Man hat diese Bewegungen auseinandergenommen und ihre führenden Köpfe inhaftiert. Hinzu kommt die Angst durch die Negativbeispiele des arabischen Frühlings: Ägypten, Libyen und Tunesien geht es jetzt keineswegs besser als unter den früheren Autokraten. So denken viele: „Besser wir bleiben so, wie wir sind, als wir haben Krieg.“ So sind es vor allem junge MarokkanerInnen, die oft im Ausland studiert haben, die sich organisieren, um die Demokratisierung voranzutreiben. Die europäische Entwicklungshilfe blockiert diese Bestrebungen jedoch. Sie dient in erster Linie dazu, Europas Interessen zu festigen und soziale Bewegungen zu schwächen, statt Reformkeime zu unterstützen.

 

Das Interview führte Jan Marot.

 

Zur Person: Die spanische Flüchtlingshelferin und Migrationsoziologin Helena Maleno (44) arbeitet bei der NGO Walking Borders/Caminando Fronteras im nordmarokkanischen Tanger für MigrantInnen aus Subsahara-Afrika an Europas Südgrenze.

Helena Maleno auf Twitter: @HelenaMaleno

„Walking Borders/Caminando Fronteras“ auf Facebook.

OAK Foundation: oakfnd.org

 

AutorInnen: Jan Marot