Gegenöffentlichkeit, die keine ist
AJ+ präsentiert sich auf den ersten Blick wie ein progressives, alternatives Medium. Doch hinter den eingängigen Kurzvideos steht ein global agierender Medienkonzern mit antisemitischer Agenda.
AJ+ gibt vor, ein Medium „für die vernetzte Generation“ zu sein, das ein „Licht auf soziale Kämpfe wirft und Stimmen stärkt, die den Status Quo bekämpfen“. Finanziert wird der Kanal von Al Jazeera. Der global agierende Medienkonzern aus Katar möchte mit AJ+ ein neues Publikum ansprechen. Ein Schönheitswettbewerb für Meerschweinchen in Peru; Schüler*innen, die vor dem Krankenhaus für ihren krebskranken Lehrer singen; jesidische Frauen, die gegen ISIS kämpfen und ein Clip über die USA, die den Israelis 38 Millarden Dollar Militärhilfe überweisen, damit sie noch mehr palästinensische Kinder töten können. Wait, what? Das alles sind Videos, die AJ+ innerhalb einer Woche auf Facebook veröffentlicht hat. AJ+ gestaltet seine Videos so, dass in den ersten drei bis fünf Sekunden eine eyecatching Überschrift und interessante Bilder zu sehen sind: Clickbait, das dank Facebook-Autoplay funktioniert. Die Videos sind meist nicht länger als eine Minute, untertitelt, ohne Voiceover und am Ende immer mit dem schwarz-gelben AJ+-Logo versehen.
EMSIGE ANTISEMITISCHE BIENE. AJ+ hat über sechs Millionen Likes auf Facebook und mehr als eine Milliarde Views. Seit Juni 2014 online, war das Portal bereits 2015 der zweitgrößte Videoproduzent im Facebook-Nachrichtensektor. Die Themen sprechen ein globales, vernetztes Publikum an: BlackLivesMatters, der Syrienkonflikt, feministische Themen wie sexualisierte Gewalt an US-Colleges, gemischt mit süßen Videos von Tieren und den neuesten Grausamkeiten der Israelis. AJ+ betont, trotz der hundertprozentigen finanziellen Abhängigkeit von Al Jazeera völlige Freiheit bei der Contentauswahl zu haben. Das scheint zum Teil auch zu stimmen: AJ+ setzt sich für die Rechte der LGBTIQ-Community ein und äußert sich klar feministisch. Im nun zweijährigen Bestehen hat AJ+ fast überall von sozialen Missständen berichtet. Über die Proteste im Zuge der Sommerspiele in Rio, die Festung Europa und politische Unruhen in Indien – doch bestimmte Teile der arabischen Halbinsel werden in der Berichterstattung ausgespart. Kein einziger Post über die schrecklichen Arbeitsbedingungen beim WM-Stadionbau in Katar oder über sonstige Missstände in den Golfstaaten. Während AJ+ sich mit seinem westlichen Publikum freut, dass Schwule und Lesben in den USA nun heiraten dürfen, wird in Katar Homosexualität mit fünf Jahren Gefängnis und 90 Peitschenhieben bestraft. Darüber verliert AJ+ ebenfalls kein Wort.
DER VERBINDENDE FAKTOR. Bis zur Absetzung von Al Jazeera America teilte man sich mit AJ+ die Büros. Wie es dort zugegangen ist, beschrieben ehemalige Angestellte, die Al Jazeera wegen Sexismus und Antisemitismus verklagten und zum großen Teil recht bekamen. Während AJ+ empowernde feministische Clips produzierte, wurden Frauen in den gleichen Büros diskriminiert und waren sexistischen Übergriffen ausgesetzt. Antisemitische Äußerungen standen an der Tagesordnung, der CEO von Al Jazeera America tätigte vor versammelter Belegschaft Aussagen wie „whoever supports Israel should die a fiery death in hell“. Das stellt jedoch keinen Kontrast zu AJ+ dar, sondern kann als verbindender Faktor zu Al Jazeera gesehen werden. Nur verzuckert AJ+ seinen Antisemitismus und kleidet ihn in das Mäntelchen der Israelkritik.
Nun ist eine Unterscheidung zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels, Antizionismus und Antisemitismus nicht immer leicht. Der Politiker und Aktivist Naran Sharansky hat dazu den 3-D-Test entworfen und meint, antisemitische Kritik könne daran erkannt werden, dass sie Israel „delegitimiert, dämonisiert und mit doppeltem Standard“ misst. AJ+ teilt jede Woche mindestens zwei bis drei Videos zum Thema Israel, keinem anderen Land außerhalb der USA widmet der Kanal dermaßen viel Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für dämonisierende Berichterstattung ist der Fall Dima al Wawi. Dima war 12 Jahre, als sie von israelischen Soldaten festgenommen und am Kopf getreten wurde. Sie musste als jüngste weibliche Gefangene in einem israelischen Gefängnis ausharren und durfte keinen Kontakt zu ihren Eltern haben, so AJ+. Warum Dima im Gefängnis war, wird verschwiegen: Sie stach mit einem Messer mehrmals auf einen israelischen Soldaten ein. Gefragt, ob sie ihre Tat bereue, meinte sie, das Einzige, was sie bereue, wäre, dass der Mann nur verletzt, aber nicht tot sei. Der Kontakt zu ihren Eltern wurde ihr verboten, weil sie für die Radikalisierung ihrer Tochter mitverantwortlich waren. Damit sei nicht bestritten, dass die Unterbringung einer 12-Jährigen in einem Gefängnis unvertretbar ist. Illustriert sei an diesem Beispiel jedoch die verzerrende Berichterstattung durch das bewusste Weglassen bestimmter Informationen.
In einem für AJ+-Verhältnisse recht langen Video besucht eine Reporterin die AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) Konferenz. Der Text liest sich wie eine Undercover Story: „Dena went inside the pro-Israel lobby AIPAC“. Den Juden und Jüdinnen auf dem Kongress wird vorgeworfen, sie kümmerten sich mehr um Israel als um die USA. Unterschwellig bedient AJ+ das antisemitische Klischee, dass „die Juden kein Vaterland“ kennen würden. Im Video heißt es, Menschen seien zum Kongress gekarrt worden, um bei ihren Repräsentant*innen für Israel zu lobbyieren, und sogar Schüler*innen würden dazu benutzt. In Palästina ist eine 12-jährige eine Heldin, weil sie („allegedly“) versucht hat, einen Soldaten umzubringen – in den USA ist es moralisch verwerflich, wenn eine wahlberechtigte Schülerin mit ihrem Abgeordneten über Israel spricht. Diese Clips sind kurz, pointiert und werden als unbedenklich konsumiert, geshared und geliked. AJ+ schafft es, einem riesigen, sich tendenziell progressiv verstehenden Publikum antisemitische Inhalte leicht bekömmlich zu servieren.
Anne Marie Faisst ist Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Universität Wien.