Gedenken und Gegenwart

  • 12.11.2013, 13:23

Jedes Jahr findet am 9.November, dem Tag des Gedenkens an das Novemberpogrom, eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof statt. Heuer haben um die 200 Menschen teilgenommen, um der Vergangenheit zu gedenken und die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Margot Landl hat für progress online an der Kundgebung teilgenommen.

Jedes Jahr findet am 9.November, dem Tag des Gedenkens an das Novemberpogrom, eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof statt. Von diesem Ort haben die NationalsozialistInnen während der Jahre 1939 bis 1942 über 10.000 Menschen in Vernichtungslager deportiert.  Heuer haben um die 200 Menschen teilgenommen, um der Vergangenheit zu gedenken und die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Margot Landl hat für progress online an der Kundgebung teilgenommen.

 

„Weit, weit in Polen, am Ufer des Dnester, ist der Krieg entbrannt, bei Nacht und Nebel bin ich mit mein Esther und mit mein‘ Weib davon gerannt.

Wochen und Wochen durch Steine und Feld, Tage und Nächte in der einzigen Kält‘. Das konnten die zwei nicht ertragen, jetzt bin ich allein auf der Welt.“ ---

 

Nach dieser Strophe ist das Lied zu Ende, die Ziehharmonika gibt unter dem letzten Druck noch ein paar knarrende Töne von sich, dann ist es still. Sekunden später erklingt Applaus für jenen älteren Herrn, der sich mit einem leichten Nicken und einem zarten Lächeln für den Beifall bedankt, bevor er das Instrument abstellt. Auf einer Bierbank vor der Bühne sitzt ein altes Ehepaar andächtig nebeneinander. Die Frau hält immer noch den Blick gesenkt, auf ihren Lippen liegt ein zaghaftes Lächeln. Als der Veranstaltungsleiter vom Wiener Arbeiter*innen Syndikat sich bei dem Musiker Isaac Loberan bedankt, dass er auch ohne seinen kurzfristig verhinderten Partner vom Klezmer Ensemble „Scholem Aljechem“ aufgetreten ist, antwortet dieser schlicht: „Es war mir wichtig“.

 

Am Platz der Opfer der Deportation

Wichtig ist die Veranstaltung wohl für alle Menschen, die sich am Abend des 9. November 2013 zur Gedenkfeier anlässlich der Novemberpogrome vor 75 Jahren bei dem Gedenkstein am ehemaligen Wiener Aspangbahnhof eingefunden haben. Seit 1994 heißt dieser Ort „Platz der Opfer der Deportation“. Der kleine Park ist nach dem jüdischen Publizisten Leon Zelman benannt. Etwa in der Mitte der Grünanlage sind heute, anlässlich der Gedenkfeier, drei weiße Planen befestigt, auf denen in neun Spalten alphabetisch Namen aufgelistet sind. Es sind um die 800 Namen jener Menschen, die  am 5. Juni 1942 deportiert wurden. Darüber steht in roter Schrift geschrieben: „In den Jahren 1939 – 1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht mehr zurück.“ Die etwa 800 Namen auf den Transparenten benennen ausschließlich die Deportierten des Transports vom 5. Juni 1942 nach Izbica.

 

Foto: Christopher Glanzl

 

„Ich bin von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung“ erklärt ein junger blonder Mann in einer grünen Regenjacke, während er die Transparente betrachtet. „Wir betreuen Asylwerber und sind heute Mitveranstalter der Gedenkfeier, denn jeder von uns trägt eine Verantwortung – damals wie heute. Und das Problem der Diskriminierung ist immer noch aktuell.“

 

„Wir wussten von nichts“ – Wir wissen von nichts?

Der aktuelle Aspekt ist in der Kundgebung präsent. Sowohl im Bewusstsein der Anwesenden, wie auch in den Reden der verschiedenen RepräsentantInnen. Wilhelm Mernyi, der Vorsitzende des Mauthausen-Komitees Österreich, zitiert aus den Aussagen von SS-Männern, die diese während ihrer Gerichtsprozesse nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands tätigten. Es sind Aussagen wie: „Ich wusste nicht, was dieses Zeichen auf der Fahne bedeutete. Ich war ständig betrunken und hab von alldem nichts mitbekommen. Meine rechte Hand hob ich nur gegen die Sonne“. Ein paar Leute kichern über die Dummheit dieser Ausreden, „Unfassbar!“, murmeln einige. Die meisten wissen offensichtlich nicht, ob sie angesichts dieser unverschämten Aussagen lachen oder weinen sollen. „Die verarschen uns sogar noch vor Gericht!“, wettert Mernyi. Er spannt den Bogen bis ins 21.Jahrhundert, konkret bis zum aktuellen „Objekt 21“-Prozess, der letzte Woche in Wels mit Schuldsprüchen für alle Angeklagten sein Ende fand: „Wieso hat es bis zu diesem Prozess so lange gedauert? Wieso war der Verfassungsschutz so lange untätig? Und wieso werden hier immer noch viele Zusammenhänge verschwiegen?“. An diesem Abend geht es auch um das, was heute passiert, vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

 

„Niemals vergessen“ steht schwarz auf weiß auf einem beleuchteten Transparent, das zwischen zwei Bäumen zur Straße hin befestigt wurde und die Ankommenden zur Veranstaltung führt. Wenn man von der S-Bahn-Station Rennweg den Gleisen in Richtung des Platzes der Opfer der Deportation folgt, hört man bereits von fern die Stimmen der RednerInnen. Nur wenige Autos fahren heute auf der Straße neben der Zugstrecke, die Nacht ist kühl und ruhig. Einzig die S-Bahn Richtung Floridsdorf, die alle paar Minuten vorbeirattert, und das Surren der Scheinwerfer stören die Andacht ein wenig. Am Rand des Platzes haben einige AktivistInnen provisorische Stände aufgebaut, um im Zuge der Veranstaltung auch Mitglieder für ihre Organisationen anzuwerben. Ankommenden, die über diese Tatsache meist wenig begeistert sind, werden sofort Flugblätter der „Revolutionären KommunistInnen“ in die Hand gedrückt. Außerdem sind auch VertreterInnen von Gruppen wie „Nazis raus aus dem Parlament“ oder das „Antifa Komitee für Griechenland“ mit Flyern, Spendenkassen und Broschüren anwesend.  Insgesamt stört das die Veranstaltung ein wenig. Es entsteht das Gefühl, dass hier versucht wird, die Veranstaltung für partielle Interessen zu instrumentalisieren, die jedoch nicht mehr alle BesucherInnen betreffen und so möglicherweise in ihrer Andacht stören.

 

Foto: Isabella Riedel

 

Die etwa 180 TeilnehmerInnen der Gedenkfeier stehen in welkem Herbstlaub im Halbkreis um die kleine zeltartige Überdachung des RednerInnentisches und des Notenständers. Scheinwerfer beleuchten die Transparente und das Rednerpult, ein paar Bierbänke sind aufgestellt, um vor allem den zahlreichen älteren TeilnehmerInnen das lange Stehen abzunehmen. Für die Facebookveranstaltung „NIEMALS VERGESSEN! Nie wieder Faschismus! Mahnwache und Kundgebung“ haben von etwa 700 eingeladenen Gästen lediglich sechzehn zugesagt. Das Publikum hier wird von älteren Personen dominiert. „Die Gedenkfeier als Projekt der Initiative Aspangbahnhof  gibt es bereits seit 1994. Allerdings waren noch nie so viele TeilnehmerInnen wie heuer da“, erklärt einer der Organisatoren vom Wiener Arbeiter*Innen Syndikat. Die Accessoires des Abends sind Schirm, Handschuhe und Baskenmütze. Die Menschen haben ihre Hände in den Hosentaschen vergraben, um sie bei dem nasskalten Wetter ein wenig anzuwärmen. Um die acht Grad Celsius und den immer wieder einsetzenden leichten Nieselregen erträglicher zu machen, haben die Veranstalter ein paar Behälter mit warmem Tee bereitgestellt. Auf einer der Parkbänke sitzen zwei Frauen und trinken Tee aus ihren Thermoskannen. Dampf steigt auf in der nasskalten Spätherbstluft.

 

Auf der Bank daneben sitzt eine asiatisch aussehende Frau, die eine lachende Filzsonne an ihren braunen Parka geheftet hat. Sie ist Künstlerin unter dem Namen Lilli Fortuna und hat durch eine Freundin, welche Mitglied der Grünen ist, von der Gedenkfeier erfahren. Auf die Frage, warum sie an diesem Abend hier ist, antwortet sie: „Ich lebe mittlerweile seit 27 Jahren in Wien. Nun besitze ich seit zwei Jahren auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Als ich von Japan hergekommen bin, habe ich sehr viele Holocaust-Dramen gesehen. Für mich wäre es eine Schande, als neue Staatsbürgerin über diese Zeit nicht Bescheid zu wissen.“ Ihr aktueller Bezugspunkt ist dabei die Europäische Union: „Es braucht eine Art Vereinigte Staaten von Europa. Es darf nie wieder Krieg geben und wir müssen achtsam miteinander umgehen.“

 

Vom Verbotsgesetz bis zur EU

Auch die weiteren RednerInnen beziehen sich in ihren Appellen auf das Hier und Jetzt. Zur Sprache kommen Themen wie die vor kurzem von FPÖ-PolitikerInnen erneut geforderte Abschaffung des NS-Verbotsgesetzes oder der Umgang der Europäischen Union mit Flüchtlingen. Isabella Riedl vom „Verein Gedenkdienst“ erwähnt in ihrer Rede unter anderem die Ergebnisse der letzten Nationalratswahl. „Es ist wichtig, dass wir, wenn wir über diese Ereignisse sprechen, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter erwähnen. Die letzte Nationalratswahl hat gezeigt, dass eine Partei, die sich nicht definitiv von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und rechtsextremen Burschenschaften abgrenzt, für einen maßgeblichen Teil der Österreicherinnen und Österreicher eine wählbare Alternative ist. Das sollte uns zu denken geben.“ Die junge Frau erntet kräftigen Applaus für ihre Worte.

 

Währenddessen spielen ein paar Kinder etwas abseits hinter dem Gedenkstein um einen Baum herum Fangen. Einige Eltern haben ihre Sprösslinge zu der Gedenkveranstaltung mitgebracht, diese zeigen sich jedoch noch relativ unbeeindruckt von den Worten der RednerInnen. Als jedoch die Künstlerin Ivana Ferencova-Hrickova vom „Verein für Roma“ ihre kräftige Stimme erhebt, um ein Romalied zu singen, halten sie inne. Auch wenn sie die Bedeutung der Worte und Zeichen auf der Gedenkfeier noch nicht erfassen können, so spüren sie doch die feierliche wie betretene Stimmung, die an diesem Abend herrscht.

 

Erinnerung zwei Stunden lang

Um 20.30 Uhr haben schon viele TeilnehmerInnen die Gedenkkundgebung verlassen. Nach eineinhalb Stunden schließt die letzte Rede mit der Parole: „Nie wieder Faschismus!“. Danach tritt der Leiter der Veranstaltung noch einmal kurz an den notdürftigen Rednertisch, um ein paar letzte Worte zu sagen: „Wir wollen zeigen, dass die Anwesenden heute nicht alleine sind in ihrem Gedenken. Und wir hoffen, dass sie Kraft schöpfen können für ihren Alltag, der vielleicht immer noch von Rassismus geprägt ist.“ Danach schneidet ihm die ankommende S-Bahn das Wort ab. Innerhalb einer Viertelstunde wird das Equipment der Veranstaltung wieder abgebaut. Ein paar Polizisten schauen kurz vorbei, fahren aber nach einem kurzen Rundgang wieder weg. Die Gedenkfeier war ein Abend des Friedens und niemand wollte diesen Frieden brechen. Die Kabel werden eingerollt, die Bierbänke zusammengeklappt, die Transparente abgehängt. Die noch anwesenden AktivistInnen versuchen, ihre letzten Flyer loszuwerden.

 

Die wenigen übriggebliebenen BesucherInnen trinken den letzten Tee oder helfen, die Tische wegzuräumen. Unter ihnen ist Gerhard Burda vom Verein „Steine des Gedenkens für die Opfer der Shoah“, der noch angeregt mit zwei Leuten plaudert. In seiner Rede während der Veranstaltung hat er von seiner Bürgerinitiative im dritten Wiener Gemeindebezirk erzählt, welche „Stolpersteine“, kleine Messingtafeln zur Erinnerung an jüdisches Leben an dieser Stelle, in die Gehsteige Wiens einlässt. Morgen soll der 30. Gedenkstein gesetzt werden. Er erzählt auch von einer eingerichteten Personendatenbank für den dritten Bezirk, mit der jüdische Verwandte ausgeforscht werden können, welche während der Zeit des Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet wurden.

 

Foto: Christopher Glanzl

 

Österreich ist Meister der Verdrängung

Vor dem Gedenkstein mit den eingravierten Worten „In den Jahren 1939-1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht mehr zurück – Niemals vergessen.“ steht ein bebrillter, grau melierter Herr in einer dunklen Winterjacke. „Ich habe zufällig durch ein Plakat von der Veranstaltung erfahren. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin. Mich hat das Thema schon immer interessiert, es hat ja jeder irgendjemanden in der Familie, von der einen oder der anderen Seite, von den Guten oder den Bösen. Ein Verwandter von mir war bei der SS, mein Großvater hingegen war ganz anders“, erzählt er. Zur österreichischen Vergangenheitspolitik hält er fest: „Was mir immer mehr bewusst wird ist, dass ich viel Falsches in der Schule gelernt habe. Österreich ist ein Meister der Verdrängung und die Aufarbeitung ist ein schleichender Prozess.“ Als er sich zum Gehen wendet, fällt eines der Grablichter, die um den Gedenkstein herum im Kies aufgestellt sind, um und erlischt.

 

Die anderen Kerzen flackern noch schwach im Wind, es beginnt erneut zu nieseln. Um 21.00 Uhr sieht der „Platz der Opfer der Deportation“ wieder genauso aus wie normalerweise unterm Jahr. Unauffällig liegt der Gedenkstein zwischen Schotter und ein paar Gräsern. Und nur noch die Grablichter zeugen von dem Bemühen einiger Menschen, die Erinnerung an den Nationalsozialismus immer wieder aufflackern zu lassen.

 

Die Autorin Margot Landl studiert Lehramt für Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.

 

progress-online Schwerpunkt: Im Gedenken an das Novemberpogrom 1938:

"Was passiert, wenn wir vergessen uns zu erinnern?"

Einmal Palästina und wieder zurück

 

AutorInnen: Margot Landl