Gedenken im Zeichen des Zwiespalts

  • 18.07.2018, 11:47
Geschichtspolitik im Spannungsfeld zwischen Opfermythos und Anbiederung – Täter, Opfer und Erinnerung in den Kinderjahren der Zweiten Republik.

Wir schreiben den Nachmittag des 1. November 1948. Am Wiener Zentralfriedhof versammeln sich tausende Antifaschist_innen. Unter ihnen befinden sich viele ehemalige KZ-Insass_innen, Widerstandskämpfer_innen und politisch Verfolgte. Der KZ-Verband hatte dazu aufgerufen, um im Rahmen der Enthüllung des von ihm initiierten Gedenkkreuzes an die „hingerichteten Kämpfer und ihre Angehörigen“ zu erinnern. Nur ein paar Meter von ebenjenem Gedenkkreuz entfernt stand zu diesem Zeitpunkt bereits das Opferdenkmal der Stadt Wien, welches nur wenige Stunden zuvor enthüllt worden war. Wären die Feierlichkeiten des KZ-Verbandes zu ihrem ursprünglich geplantem Zeitpunkt genehmigt worden, hätten die beiden Veranstaltungen zeitgleich und in direkter Konkurrenz zueinander stattgefunden. Ein Blick auf die geschichtspolitischen Entwicklungen in den Kinderjahren der Zweiten Republik zeigt, wie es zu diesem Konkurrenzverhältnis kommen konnte und wo die zentralen Konfliktlinien hinsichtlich der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Opfer verliefen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches präsentierten sich SPÖ, ÖVP und KPÖ noch in trauter Einigkeit als antifaschistische und demokratische Vertreter_innen der befreiten Republik. Im November 1948 waren Erstere allerdings bereits auf Distanz zur KPÖ und allen als kommunistisch gebrandmarkten Organisationen gegangen. Die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP demonstrierten bei der Eröffnung des Opferdenkmals Geschlossenheit, beschworen den „Geist der Lagerstraße“ auf und verbanden damit Täter_innen und Opfer des Austrofaschismus zu Geschädigten der Großdeutschen Aggressionspolitik. Die kommunistischen Widerstandskämpfer_innen wurden hingegen entweder gar nicht erwähnt, oder gar Ziel verbaler Seitenhiebe. Dieses Verhalten war jedoch nicht nur das Resultat eines Zerwürfnisses mit der KPÖ, dem KZ-Verband und allen vermeintlich kommunistischen Organisationen. Vielmehr war es Ausdruck des ersten großen geschichtspolitischen Paradigmenwechsels in der Zweiten Republik.

Antifaschismus als brüchiger Konsens.

Unmittelbar nach Kriegsende war man von offizieller Seite äußerst bemüht, die These von Österreich als dem ersten Opfer des Nationalsozialismus hochzuhalten. Diese These sollte auch dadurch bekräftigt werden, dass plötzlich eine breite Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus herbeifantasiert wurde. So verkündete die Arbeiter-Zeitung, das Zentralorgan der SPÖ, anlässlich der Enthüllung des Opferdenkmals der Stadt Wien, dieses solle „Zeugnis ablegen für den hohen Beitrag“ den Österreich entrichtet habe, „als jeder Widerstand gegen die Mächte, die vorübergehend ganz Europa beugten, noch aussichtslos erschien“. Dass der bewaffnete Widerstand gering war und sich im Wesentlichen auf einige Kommunist_innen und slowenische Partisan_innen beschränkte, passte dementsprechend nicht ins Bild der offiziellen Geschichtsschreibung. Umso intensiver waren anfangs die Bemühungen, den Schein der Einigkeit aufrechtzuerhalten. Diese Bemühungen, die vom brennenden Verlangen nach staatlicher Souveränität befeuert wurden, manifestierten sich unter anderem in der Gründung des überpolitischen Bundes der politisch Verfolgten (KZ-Verband), dem im Rahmen des Opferfürsorgegesetzes (OFG) ab 1947 auch ganz konkrete Kompetenzen hinsichtlich der Anerkennung von NS-Opfern zugestanden wurden. Mit Beschluss des OFG wurden Menschen, „die in der Zeit vom 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität durch Maßnahmen eines Gerichts, einer Verwaltungs- (im Besonderen einer Staatspolizei-)Behörde oder durch Eingriffe der NSDAP einschließlich ihrer Gliederungen in erheblichem Ausmaße zu Schaden gekommen sind“, unter bestimmten Voraussetzungen als Opfer berücksichtigt. Tatsächlich bedeutete dieses Gesetz allerdings nur für einen Teil der NS-Opfer die Anerkennung und nur für wenige konkrete Fürsorgeleistungen. Schon bald wurden sich SPÖ und ÖVP des enormen Wähler_innenpotentials der ehemaligen Nationalsozialist_innen bewusst und so begann man, aktiv um deren Gunst zu werben. Spätestens ab 1947/48 schlug sich das sogar in verbalen Angriffen auf NS-Opfer und Widerstandskämpfer_innen nieder. So drohten Vertreter_innen von SPÖ und ÖVP etwa mit der Sprengung des Bundes der politisch Verfolgten. Der damalige Vizekanzler und Vorsitzende der SPÖ, Adolf Schärf, forderte gar ein Ende der angeblichen Privilegierung von NS-Opfern und verglich ihr Leid mit jenem österreichischer Kriegsgefangener. Letztere dürften zu Recht fordern, „daß andere nicht besser behandelt werden als sie.“ Die Bemühungen um die Gunst der „Ehemaligen“ gingen einher mit der zunehmenden Abgrenzung von der KPÖ, auf die die kommunistische Machtübernahme in der damaligen Tschechoslowakei wie ein Katalysator wirkte. Der ausufernde Antikommunismus gipfelte schließlich in der Sprengung des Bundes der politisch Verfolgten durch SPÖ und ÖVP. Offiziell aufgelöst wurde der Bund durch den damaligen SPÖ-Innenminister Oskar Helmer, der als einer der treibenden Antisemit_innen in seiner Partei galt und sich unter anderem aktiv um eine Verzögerung der Rückgabe arisierten Eigentums bemühte. Während die beiden Großparteien in weiterer Folge eigene Opferverbände gründeten, traten die KPÖ und ihre Sympathisant_innen das Erbe des KZVerbands an.

Tätergedenken.

Bundesweit schlug sich das geschichtspolitische Klima dieser Jahre auch in der Erinnerungskultur nieder. Außerhalb Wiens wurden Erinnerungszeichen fortan fast exklusiv für die gefallenen österreichischen Soldaten errichtet, worin sich auch das dichotome Geschichtsbild Österreichs widerspiegelte. Während man sich nach außen hin in der Opferrolle suhlte, wurden im Inneren die tatsächlichen NS-Opfer und das Erinnern an sie durch große Teile von Politik und Bevölkerung als unangenehmes Ärgernis empfunden. Gleichzeitig wurden Wehrmachtssoldaten ganz ungeniert für ihre Opferbereitschaft und ihre Pflichterfüllung verehrt. Bis heute ist die Erinnerungskultur in den ländlichen Gegenden Österreichs von unzähligen Kriegerdenkmälern geprägt. Hier wird immer noch völlig undifferenziert den gefallenen Soldaten der nationalsozialistischen Wehrverbände gedacht, während die NS-Opfer in der Erinnerung oft völlig ausgeklammert werden. Auf legislativer Ebene manifestierte sich diese Haltung im 1949 verabschiedeten Kriegsopferversorgungsgesetz, das in bestimmten Bereichen sogar zu einer Besserstellung von ehemaligen Wehrmachts- und SS-Soldaten gegenüber den anerkannten NS-Opfern führte. Die Bundeshauptstadt Wien nahm diesbezüglich allerdings eine gewisse Sonderrolle ein. Hier gab es auch ein Ringen um die (partei-)politische Vereinnahmung des antifaschistischen Widerstandes. Vor allem SPÖ und KPÖ, teilweise aber auch die ÖVP, versuchten hier den Kampf gegen den Nationalsozialismus für sich zu beanspruchen. Gleichzeitig gab es zwischen SPÖ und ÖVP Konflikte bezüglich der Bewertung der Zeit des Austrofaschismus von 1934-38. All diese Konflikte schlugen sich auch in der Errichtung der beiden Erinnerungszeichen am Wiener Zentralfriedhof nieder.

Totengedenken „im Zeichen deS Zwiespalts“.

Im Zentrum der Debatte um ein zu errichtendes Denkmal stand seit 1945 die unter dem Namen Gruppe 40 bekannten Schachtgräberanlage am Wiener Zentralfriedhof, wo während der NS-Zeit hingerichtete Regimegegner_innen, teilweise in Massengräbern, verscharrt wurden. In Anwesenheit des Wiener Bürgermeisters Theodor Körner und weiterer politischer Prominenz wurde am 1. November 1948 am Zentralfriedhof das Opferdenkmal der Stadt Wien enthüllt. Obwohl das Denkmal durch die kurzfristige Miteinbeziehung der Opfer des Austrofaschismus in die Textierung geschichtspolitisch höchst brisant war, stand die Enthüllungsfeier ganz im Zeichen der Versöhnung zwischen SPÖ und ÖVP. Bei KPÖ, KZ-Verband und ihren Sympathisant_ innen war hingegen die Empörung groß, dass ausgerechnet mit der Nachfolgepartei der Christlichsozialen Partei den Opfern von Faschismus und Nationalsozialismus gedacht werden sollte. Denn während das austrofaschistische Regime von Vertreter_innen der ÖVP gern als patriotisches Bollwerk gegen den Nationalsozialismus gefeiert wurde, sah man es bei SPÖ und KPÖ als Wegbereiter des selbigen. Zum anderen fand wenig später die feierliche Enthüllung des hölzernen Gedenkkreuzes, nur wenige Meter vom Opferdenkmal der Stadt Wien, durch den KZ-Verband statt. Für einen der Beteiligten war der besagte 1. November ein besonders schmerzhafter Tag. Fritz Cremer, selbst Kommunist mit Verbindungen zum antinazistischen Widerstand, hatte das Opferdenkmal der Stadt Wien gestaltet und teilte dem KZ-Verband in einer Notiz mit: „Es ist für mich innerstes Bedürfnis, zum Tag der Enthüllung des Denkmals der Opfer des Faschismus Euch zu sagen, wie tief es mich erschüttert, daß diese Ehrung unserer geliebten Toten im Zeichen der Zwiespältigkeit durchgeführt wird.“ Diese Zwiespältigkeit nahm 1948 gerade erst ihren Anfang. Bis in die 1960er-Jahre waren die geschichtspolitischen Agenden von SPÖ und ÖVP von der Anbiederung an die ehemaligen Nationalsozialist_innen geprägt, während man gegenüber der KPÖ auf eine Politik der Isolierung setzte.

Abschied vom Opfermythos.

Abgesehen vom rechten Rand hat sich das Verhältnis zum Andenken an den Nationalsozialismus in Österreich seit den 1940er/50er-Jahren durchaus gewandelt. Erste Anzeichen für einen Paradigmenwechsel gab es bereits in den 1960er-Jahren, der Opfermythos sollte sich in der offiziellen Darstellung aber noch bis in die 1990er-Jahre hartnäckig halten. Ab der Jahrtausendwende wurden, wesentlich beeinflusst durch das unermüdliche Engagement vieler Aktivist_innen, endliche auch zunehmend an die bis dahin oft verdrängten Opfergruppen der Homosexuellen, Roma und Sinti, Euthanasieopfer, Deserteure und sogenannten „Asozialen“ erinnert. Darüber hinaus darf aber nicht darauf vergessen werden, dass die Frage wie und woran erinnert wird, immer untrennbar mit den geschichtspolitischen Agenden der handelnden Akteur_innen verbunden ist. Diese können dabei nicht nur eine identitätsstiftende Funktion erfüllen, sondern auch der Legitimation von Herrschaft dienen. Angesichts des heurigen Gedenkjahres und der ÖVP-FPÖ Regierung, unter der es begangen wird, lohnt sich zu analysieren, wie und woran erinnert wird. Wenn sich Vizekanzler Strache, der vor einigen Jahren noch als Hauptredner beim Totengedenken rechtsextremer Burschenschaften am Heldenplatz auftrat, plötzlich für ein zentrales Shoah-Mahnmal in der Wiener Innenstadt ausspricht und das Erinnern an die Opfer der Shoah als „eine ständige Verpflichtung“ bezeichnet, während er gleichzeitig Woche für Woche versucht, antisemitische und rassistische „Einzelfälle“ in seiner Partei zu vertuschen und schönzureden, muss das Motiv hinter solchen Statements kritisch hinterfragt werden.

Vincent Perle studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

AutorInnen: Vincent Perle