Für einen anständigen Aufstand. Statt einem Aufstand der Anständigen.
Dass im deutschsprachigen Raum Millionen von Menschen gegen Rechts auf die Straßen gehen ist nicht alltäglich und schwer zu übersehen. Doch parallel dazu findet auch ein weniger sichtbarer Kampf um die Deutungshoheit über die Proteste statt. Sind wir jetzt gegen Rechts oder gegen Rechtsextrem? Wer ist Teil dieser „Brandmauer" und was soll sie beschützen? Und was ist eigentlich „unsere Demokratie“? Kann ein Aufstand anständig sein? Wir stecken mitten in einer Weichenstellung des zukünftigen politischen Diskurses. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir auch entscheidend mitbestimmen.
Der steigende Rechtsextremismus ist kein Zufall, sondern ein gesellschaftliches Produkt. Proteste sollten deshalb nicht bei einem konservativen „Demokratie verteidigen!" stehenbleiben, sondern klare Systemkritik äußern. Ein Kampf gegen Rechts muss den Kampf für das gute Leben aller beinhalten.
Eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute: Seit langem gab es keine so großen Proteste gegen Rechts mehr wie in den letzten Wochen und Monaten. Millionen Menschen auf den Straßen, nicht selten so viele, dass Proteste abgesagt werden mussten, weil sie zu groß waren. Die Schlechte: diese Proteste sind in weiten Teilen konservativ.
Konservativ in dem Sinne, dass der inhaltliche Schwerpunkt oft auf der Verteidigung und dem Erhalt der herrschenden Verhältnisse liegt. Das klingt natürlich schöner, wenn vom Aufstand der Anständigen und der Rettung der Demokratie die Rede ist - gemeint ist dasselbe. Der Ansatz: um gegen den aufkommenden Faschismus zu kämpfen, müssen wir als Restgesellschaft einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den wir verteidigen. In diesem Fall den Erhalt der repräsentativen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und so weiter. Es geht zu oft um das absolute Minimum. Und wehe, es geht um mehr: was soll denn mit den Konservativen passieren, wenn nicht mehr zwischen Rechts und Rechtsextrem unterschieden wird? Lieber integrieren: und wenn dann auf einzelnen Demos selbst CDUler_innen Brandreden gegen die AFD schwingen (dürfen), schlägt das großdeutsche Herz höher.
Aber ist dieser neue Antifaschismus, der die Quarzhandschuhe abgelegt und sie gegen Samthandschuhe getauscht hat, die richtige Strategie? Wie breit kann eine Bewegung sein, damit sie stabil bleibt, aber nicht unbeweglich wird? Treten wir kurz einen Schritt zurück. Rechtsradikale entstehen natürlich nicht im luftleeren Raum und nur weil sie vermeintlich antidemokratisch sind, müssen wir nicht plötzlich auf einen rein defensiven Systemerhalt zurückweichen. Denn was wird hier eigentlich verteidigt?
Was verteidigt wird. Das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus beschreibt der Soziologe Vivek Chibber als nicht gerade glorreich: Eigentum und dessen Verteilung bestimmen maßgeblich die politischen Geschicke. Reiche kommen leichter in die Politik oder können von außen Lobbyismus in ihrem Interesse betreiben. Gelebte Partizipation von oben also, während die meisten von uns froh sein können, wenn sie es am Sonntag zur Wahlurne schaffen und dann die nächsten Jahre jemand anderes für uns bestimmt. Und unabhängig von der aktuellen Regierung: in Zeiten des globalen Kapitalismus sind Maßnahmen wie nachhaltige Umverteilung von Reichtum oft schwer möglich. Die wirtschaftliche Macht von Großkonzernen schafft einen engen Rahmen, aus dem realpolitisch schwer auszubrechen ist. Und wenn dann in Österreich die obersten fünf Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen, ist das demokratiepolitisch mindestens schwer bedenklich. Treffen sich ein Elektriker und eine Milliardenerbin auf einer Demo. Verteidigen beide die gleiche Demokratie?
Von dieser demokratischen Schieflage im Kapitalismus profitieren natürlich nur wenige - sollten die restlichen 95% dann nicht mit Leichtigkeit Reformen im Sinne der Mehrheit erkämpfen können? Nicht wenn ihnen andere Interessen wichtiger erscheinen! Wem weisgemacht wird, dass das größte Problem "die Ausländer" seien, der sieht im österreichischen Milliardär einen Landsmann und kein Demokratieproblem. Rechte Kulturkämpfe treiben die inszenierten Unterschiede zwischen Geschlechtern, Herkunft und so weiter voran und verschleiern damit zugrundeliegende Machtverhältnisse.
Kurz nach dem zweiten Weltkrieg schreibt die politische Theoretikerin Hannah Arendt ihr politisches Hauptwerk, The Origins of Totalitarianism. Darin nennt sie als zentrale Bedingung für den Erfolg totalitärer Ideologien die Handlungsunfähigkeit durch Verlassenheit. Wer von sich und seinen Mitmenschen stark entfremdet ist, wenn eine Gesellschaft sich im Gegeneinander, statt im Miteinander befindet, bieten Nationalismus und Führerkult Halt. Diese gefährliche Entfremdung spüren wir im krisengebeutelten, individualistischen Spätkapitalismus immer mehr. Handeln ist für Arendt das selbstermächtigte, gemeinsame und politische Agieren von Menschen auf Augenhöhe. Repräsentative Demokratien wie unsere entpolitisieren in diesem Sinne ihr Wahlvolk, ist doch ihre zentrale Dynamik nicht das aktive politische Handeln, sondern gerade die Stimm-Abgabe, um andere für sich entscheiden zu lassen. 25% Nichtwähler_innen sind kein Zufall: Das resignierte "Wählen ändert eh nix" ist heutzutage keinem übelzunehmen. Um es mit KIZ zu sagen: „Ihr könnt im Wahllokal ankreuzen, wer den Puff besitzt - Es bleiben immer die gleichen Freier, den'n ihr ein'n lutschen müsst."
Kurzum: Rechtsextremismus ist weniger eine Gefahr, als vielmehr Produkt und Stütze der herrschenden Verhältnisse. Unser politisches System fördert Unmündigkeit, unser wirtschaftliches verhindert bedeutsame Veränderungen im Interesse der Mehrheit. Zeit für einen Strategiewechsel?
Das gute Leben. Ein rein moralistisches „Gegen Rechts" ist wenig überzeugend, überlegte Systemkritik muss deshalb eine weitere Komponente beinhalten. Demos gegen Rechts müssen den Anspruch haben, mit beiden Beinen in der breiten Gesellschaft zu stehen. Das heißt aber nicht, Politiker_innen aus möglichst allen Ecken einzuladen. Der Protest auf der Straße ist kein Wahlspektakel, sondern das Sprachrohr derjenigen, die nicht täglich in Medien und Parlament zu Wort kommen. Breit aufgestellt zu sein heißt stattdessen den Anspruch zu haben, nicht immer dasselbe, links-liberale Publikum anzusprechen, sondern klarzumachen, dass „Gegen Rechts" auch „Für das gute Leben" heißt. Ein gutes Leben ist eines ohne finanzielle Not, ohne Repression oder Vereinsamung, stattdessen materielle Sicherheit, freie Gesundheitsversorgung und gesellschaftliche Teilhabe. Es ist selbstverständlich, dass ein glaubhafter Kampf gegen Rechts auch feministisch, antirassistisch und kapitalismuskritisch ist. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Arbeiterin, die Gendern komisch findet, willkommener ist als ihr Chef, der Prideflags postet und Löhne drückt.
Dieses gute Leben für Alle muss wieder zum Politikum werden. Denn gut und für alle schließen sich nicht aus. Mein gutes Leben ist eben nicht von deinem guten Leben bedroht, sehr wohl aber von radikaler Vermögenskonzentration wie in Österreich. Unsere Mitstreiter_innen im Kampf gegen Rechts und für das gute Leben sind die 95%, für die das gute Leben noch fern ist. Ihre Wut und Angst vor sich zuspitzenden Verhältnissen ist verständlich. Diese Menschen müssen wir abholen wo sie stehen, um eine befreite, gerechte und radikal demokratische Gesellschaft des Miteinanders zu erkämpfen.
Moritz Leitner arbeitet und studiert Erziehungswissenschaften und Philosophie in Innsbruck.
Foto © Elias Posch
Arendt, H. (2011). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft : Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus (14. Aufl.). http://ci.nii.ac.jp/ncid/BA45745696
Chibber, V. (2021). Das ABC des Kapitalismus: Band I-III.