Europa kann mehr als nur Wirtschaftsunion!

  • 19.03.2019, 17:10
Von rechts bedroht, von links verschmäht, von den Brit_innen verlassen: Was hat diese EU ihren Bürger_innen eigentlich anzubieten?

Irgendwie, so ist man dieser Tage geneigt zu denken, läuft‘s nichts so ganz rund. Friede und Freiheit, Wohlstand und ein gutes Leben für alle; mit diesen Visionen ist das Staatengebilde namens Europäische Union einst an den Start gegangen. Nun ja, „wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, soll Franz Vranitzky einmal gesagt haben. Die EU krankt. An dem Verlust einer ihrer bedeutendsten Mitgliedstaaten – das Vereinigte Königreich. An einem Konflikt zwischen „Nord“ und „Süd“ und einem zwischen „West“ und „Ost“. Oder allgemeiner vielleicht an einer Art allumfassenden Orientierungslosigkeit: Wo wollen wir hin – und wie?

Zumindest dem äußeren Anschein nach ist man sich auf Seiten der Rechten und radikalen Rechten wei- testgehend einig: Eine Stärkung des Nationalstaates soll es sein. Zahlreiche Kompetenzen sollen von Brüssel in die jeweiligen Landeshauptstädte wandern, allen voran die Souveränität über die eigenen Außengrenzen. Die Fraktion der Nationalkonservativen und extremen Rechten innerhalb des Europäischen Parlaments, „Europa der Nationen und der Freiheit“ (ENF), darf sich berechtigte Hoffnungen machen, dass ihre Anliegen auf institutioneller Ebene demnächst mehr Gehör finden. Vom 23. bis zum 26. Mai sind 450 Millionen Europäer_innen zum 9. Mal aufgerufen, ein Europäisches Parlament zu wählen – das erste Mal ohne Brit_innen. Laut aktuellsten Umfragen (Jänner 2019) wird sich die Sitzanzahl der ENF im Mai fast verdoppeln.1 Von 1994 bis zur Wahl 2009 hatten nationalkonservative und rechtsextreme Kräfte im Europäischen Parlament beständig an Boden verloren.2 Seither schwingt das politische Pendel in die Gegenrichtung.

„Nationalist_innen aller Länder vereinigt euch!“

Im August 2018 hat sich der ehemalige Chefstratege Donald Trumps und Ex- Breitbart-Herausgeber Steve Bannon in Brüssel ein schmuckes Büro einrichten lassen. Das Ziel seiner Initiative „Die Bewegung“: Die Koordination und Organisation rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte innerhalb Europas. Oder kurz: die Zerstörung der EU, wie Bannon selbst in mehreren Interviews verlautbaren lies.3 Doch so einfach wie Bannon sich das offenbar vorstellt, ist die „Vereinigung der Nationalist_innen aller Länder“ wohl doch nicht. Bei genauerem Hinsehen ist die Harmonie innerhalb der europäischen Rechten eben doch nur eine scheinbare. Der Grundkonsens – mehr nationale Souveränität, weniger Migration – trägt eben im Namen, dass er sich nur schwierig mit anderen nationalen Interessen vereinbaren lässt. Bis auf die Niederlande und Italien stieß Bannon mit seiner „Bewegung“ bisher auf wenig positive Resonanz.

Inwieweit sich das Kräfteverhältnis tatsächlich nach rechts verschieben wird, ist derzeit schwer auszumachen. Fest steht, dass die „Mitte“, also die konservative EVP sowie die Sozialdemokrat_innen, im Mai wohl herbe Verluste einfahren werden. Wäre morgen EP-Wahl, konstatiert die konservative deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung „hätte eine Große Koalition aus EVP und Sozialdemokraten keine Mehrheit“.4 Und vielleicht liegt auch gerade hier der Hund begraben. Wie auch immer man zur EU stehen mag, es gibt wohl kaum jemanden, der_die von sich behaupten würde, für dieses Staatengebilde in seinem derzeitigen Zustand vollends zu „brennen“. Was ist der Kitt, der diese Union zusammenhält? Egal wie dieser aussehen mag, besonders attraktiv scheint er derzeit nicht zu sein: Läppische 42,6 Prozent der Wahlberechtigten fanden bei den letz- ten EP-Wahlen 2014 auch wirklich den Weg zur Urne. In Österreich waren es 45,4 Prozent, in der Slowakei gerade einmal 13 Prozent.

Das verwundert kaum, sind die Anreize zur Wahl zu gehen entsprechend gering. Eine „gemeinsame“ Union ist – trotz allen verlautbarten Ehrgeizes – bis dato noch nicht weit über einen gemeinsamen Binnenmarkt hinausgekommen. Was der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors schon 1992 prophezeite, gilt auch heute noch: „Niemand verliebt sich einen Binnenmarkt“.5 Das Europäische Parlament selbst genießt Kompetenzen, die weit unterhalb einer jeden anderen demokratischen Vertretung diesen Typs liegen; besitzt beispiels- weise kein Initiativrecht, mit welchem es eigene Gesetzesvorschläge einbringen könnte, oder keine entsprechenden Instrumente um die Exekutive wirklich in die Schranken weisen zu können.

Das Problem ist der Status quo.

Nach wie vor dürfen bei dieser europäischen Wahl nur nationale Listen gewählt werden. Ein entsprechen- der Antrag von Sozialdemokrat_innen, Grünen und Liberalen wurde noch im Februar 2018 abgelehnt.6 Vor allem die konservative EVP-Fraktion wehrte sich vehement gegen eine entsprechende Änderung des Wahlrechts. Vielleicht hat Jürgen Klute, bis 2014 Mitglied des EU-Parlaments, Recht, wenn er meint, dass „die im Erscheinungsbild zunächst weniger radikal rechten Bestrebungen im Blick auf die weitere Entwicklung der EU das größere Problem zu sein scheinen“. Vielleicht ist nicht der prognostizierte Rechtsruck die Gefahr, sondern genau der status quo. Oder anders gefragt: Wie ist diese Union zu dem geworden, was sie gerade ist?

Über den Status einer Wirtschaftsunion ist dieses Staatengebilde bis heute kaum hinausgekommen. Gemeinsame sozialpolitische Standards, einen europäischen Mindestlohn oder eine tatsächliche demokratische Vertretung – eine explizit politische Union sucht man bis heute vergeblich. Auch innerhalb der Linken, auch innerhalb der GUE/NGL-Fraktion, gibt es daher zahlreiche Stimmen, die einen dezidiert antieuropäischen Ton anschlagen.

„Ohnehin“, so erklärt die Europaexpertin Ulrike Guérot in einem Interview, „haben wir das Links-Rechts- Schema ersetzt durch die Frage: ‚Wie hältst du’s mit Europa?‘“.7 Der Graben verlaufe demnach nicht zwischen dezidiert „linken“ und „rechten“ Kräften, sondern zwischen jenen, die mehr Europa fordern und jenen, die mehr Nationalstaat wollen. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung am Brexit skizzieren: Die Konfliktlinie um den EU-Austritt verläuft nicht etwa zwischen Tories und Labour, sondern eine jede der Parteien ist in sich gespalten zwischen „leave“ und „remain“.

Mit Blick auf die Europawahl im Mai stellt das die europäische Linke vor gewisse Herausforderungen: Wie kann diesen diversen im Aufwind begrif- fenen nationalistischen Strömungen begegnet werden? Mit einer Union, die gemeinhin als „unreformierbar“ gilt, als undemokratisches wie technokratisches Dickicht und Walhalla der Lobbyist_innen – und die es nach Ansicht einiger Linken auch gar nicht wert ist zu reformieren? Auf den Nenner gebracht, könnte man wohl fragen: Wie kann ein linker Entwurf für Europa aussehen?

Europa? Hauptsache anders.

Zumindest – und das ist durchaus positiv – gibt es derzeit einige Vorschläge. Auch wenn diese nicht immer besonders wohlwollend klingen mögen. Auf die Herausforderungen der Neoliberalisierung der letzten Jahrzehnte sowie soziale und ökologische Krisen habe „die heutige EU und die drei sie beherrschenden Parteien, die Konservativen, die Sozialdemokratie und die Liberalen“ keine adäquaten Antworten mehr, erklärt etwa Florian Birngruber, Sprecher der KPÖ. Entgegen dem Rechtsruck, der Militarisierung und einer Politik der Abschottung will man als KPÖ, die als Teil der Europäischen Linken ins EU- Parlament einziehen will, „soziale und ökologische Menschheitsfragen in den Mittelpunkt“ stellen. Hierfür fordere man „nicht weniger als einen Neustart auf Grundlage eines neuen, demokratischen Vertragswerkes“.

Deutlich optimistischer, der EU deutlich wohlgesinnter ist man da bei der transeuropäischen Bürger_innen-initiative „Pulse of Europe“. Sonntagnachmittag kurz vor 14 Uhr werden hier vor der Karlskirche EU-Fahnen geschwenkt, EU-Luftballons aufgeblasen, Flyer verteilt und diskutiert – um den „echten europäischen Geist“ wiederaufleben zu lassen, wie Sprecherin Elisabeth Rödler erklärt. Als überparteiliche Initiative will man sich auf keinen wirklich klaren politischen Kurs festlegen – was zählt ist „mehr Europa!“. Wie dieses Europa denn aussehen soll? Genau das wolle man „zur Debatte stellen“, wie Rödler erklärt. Als eine der Kernforderungen von „Pulse of Europe“ gilt daher, im Mai 2019 deutlich mehr Menschen an die Urne zu bringen als noch im Jahr 2014, um den Menschen zu zeigen: „Europa geht mich auch was an!“.

Als „Europas erste transnationale Partei“ geht das um DieM25 herum- organisierte Wahlbündnis „European Spring“ an den Start. Zwar hat sich auch dieses, wie jede andere Liste, an das europäische Wahlrecht zu halten, doch versucht man es hier durch die transnationale Hintertür: Jede der insgesamt acht nationalen Listen ist mit internationalen Kandidat_innen besetzt. So kandidiert beispielsweise auf Platz 1 der deutschen Liste der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Hinter ihm folgt die in Wien lebende Daniela Platsch. Da es keine entsprechende österreichische Liste gibt, buhlt sie gemeinsam mit ih- rem Team vom „Wandel“ vor allem um die Gunst der deutschen Wähler_innenschaft. Oder wie es auf einem ihrer Plakate heißt: „Piefke, Europa braucht dich!“.

„Bei der EU-Wahl im Mai“, so erklärt die auf Platz 2 gelistete Platsch, „haben wir endlich die Chance, ein tatsächlich grenzübergreifendes Demokratieprojekt ins EU-Parlament zu bringen“. Die Vision des European Spring, „ein neuer Deal für Europa“, trägt man entsprechend selbstbewusst vor sich her, denn diese sei „mit Sicherheit mehrheitsfähig“. „So eingerostet wie die etablierten Parteien denkt ja heute kein Mensch mehr“, findet Platsch. Aber aus der „Sackgasse der etablierten Politik“ komme man eben nicht von alleine raus. Was zählt sei, dass „wir unseren Hintern hochkriegen und uns über alle Grenzen hinweg organisieren“.

Eine Vision, eine Utopie für Europa!

Den „Etablierten“ gegenüber ähnlich konfrontativ gestimmt ist man auch bei den österreichischen Grünen, die mit Werner Kogler als Spitzenkandidaten in den Ring steigen. Man wolle, so Kogler, „Europa gegen die alten Nationalisten und die neuen Rechtsextremen verteidigen“ und stellt sogleich klar: „Jede Stimme für Türkis ist eine nicht-europäische Stimme“. „Ernsthafter Umwelt-, Natur- und Klimaschutz“, erklärt der Bundessprecher der Grünen, sei eine „Überlebensfrage, die nur gesamteuropäisch angegangen werden kann“. Dementsprechend setze man sich für ein „ökologisch nachhaltiges und sozial gerechtes Europa“ ein. So präsent und laut die Forderung der Nationalist_innen nach einem Europa der Nationalstaaten auch sein mag: Es gibt durchaus linke, progressive Alternativen, die eigene, konstruktive Entwürfe hervorbringen. Ihnen allen gemein ist die Forderung nach einer politischen Union, einem Europa, das mehr ist als ein Konglomerat verschiedenster nationaler Interessen, das nicht nur für Konzerne, sondern auch für seine Bürger_innen ein offenes Ohr hat. Ihnen zu Grunde liegt die Idee, dass die EU ihre Zukunft im Transnationalen zu suchen hat, dass ein solches Staatengebilde ihre Politik auf die europäische Ebene verlagern muss – insbesondere in Zeiten, in denen die Wirtschaft die nationale Ebene schon längst verlassen hat. Vielleicht braucht es mehr als nur die eingangs erwähnte europäische Vision. Vielleicht braucht es – wenn man das so nennen will – eine Utopie.

Johannes Greß studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

1 https://www.foederalist.eu/p/europa- wahl-umfragen.html

2 https://die-zukunft.eu/der-rechtsdrall-in- europa-und-die-gegenbewegungen

3 https://www.nzz.ch/international/wer- hat-angst-vor-steve-bannon-ld.1449491

4 https://www.kas.de/einzeltitel/-/content/ evp-parteienbarometer-oktober-november-2018

5 https://www.nzz.ch/articlef-0pt6-1.132729

6 https://diepresse.com/home/ausland/ eu/5367849/Keine-grenzenlose-Europawahl

7 https://die-zukunft.eu/wir-haben-das-rechts-links-schema-ersetzt-durch-die- frage-wie-haeltst-dus-mit-europa

AutorInnen: Johannes Gress