Essen trägt die ganze Welt in sich

  • 10.06.2014, 16:03

Geschlechterverhältnisse, Arbeitsorganisation, ja sogar Liebesgeschichten ließen sich anhand unseres Essens und der Art, wie wir darüber sprechen, rekonstruieren, sagt die Soziologin Eva Barlösius im Gespräch.

Geschlechterverhältnisse, Arbeitsorganisation, ja sogar Liebesgeschichten ließen sich anhand unseres Essens und der Art, wie wir darüber sprechen, rekonstruieren, sagt die Soziologin Eva Barlösius im Gespräch.

progress: Welchen Stellenwert hat Essen heute in unserer Gesellschaft?

Eva Barlösius: Inhaltlich hat sich der Stellenwert ein bisschen verschoben, aber die Bedeutsamkeit hat sich nicht im Geringsten reduziert. Essen ist eine Facette, in der sich alle gesellschaftlich wichtigen Prozesse reflektieren. Wenn Sie das Essen studieren, können Sie etwas über Geschlechterverhältnisse oder die soziale Position des Essenden lernen. Genauso kann man auch viel über die Prozesse der Globalisierung erfahren – also welche Lebensmittel zu uns kommen, wohin wir Lebensmittel exportieren oder wie sie verarbeitet werden. Das gibt auch Auskunft über die Familie oder darüber, wie Arbeit organisiert ist. Selbst wenn Sie die Geschichte einer Liebe erzählen möchten, eignet sich das Essens dazu. Essen ist für mich das Phänomen, das die ganze Welt in sich trägt.

Was sagt dann das, was wir essen, über uns aus?

Das Interessante ist, dass diese Frage suggeriert, dass das, was die Menschen tatsächlich essen, identisch mit dem sei, worüber sie sprechen, wenn es um Essen geht. Da muss man unterscheiden. Männer und Frauen etwa beschreiben sehr unterschiedlich, was sie gerne essen. Häufig leben sie aber zusammen oder in Familien – also kann das, was sie tatsächlich essen, gar nicht so verschieden sein. In der Art und Weise, wie wir über das Essen sprechen, es bewerten und uns gleichzeitig von bestimmten Formen distanzieren, spiegelt sich, als wer wir gesehen werden möchten. Wir drücken damit auch unsere wesentlichen moralischen und ethischen Grundsätze aus. Wenn man etwa großen Wert auf biologische Lebensmittel legt, ist darin implizit eine Kritik an den Globalisierungsprozessen enthalten.

Es unterscheiden sich aber auch die Geschmäcker – wodurch ist das geprägt?

Eigentlich ist es umgekehrt: Mit dem Geschmack rechtfertigen wir, was wir essen und was nicht. Es macht einen Unterschied, ob ich sage, ich esse gerne Vollmilchschokolade oder lieber bittere Schokolade mit hohem Kakaoanteil. Es kann heißen, dass mir das Eine nicht schmeckt und ich Bitterschokolade lieber mag. Aber diese Formen von Schokolade sind ja gleichzeitig mit dem Geschmack bestimmter gesellschaftlicher Gruppen konnotiert. Und diese sozialen Geschmäcker existieren nicht nebeneinander, sondern repräsentieren eine Geschmackshierarchie.

Entlang welcher Linien verlaufen diese Hierarchien?

Das läuft immer entlang der zentralen Linien, mittels welcher eine Gesellschaft soziale und kulturelle Unterschiede herstellt. Entlang des Geschlechts, der sozialen Klasse, entlang von Regionalität und Herkunft und so weiter. Parallel dazu gibt es unterschiedliche Geschmacksmuster.

Aktuell verzichten immer mehr Menschen auf Fleisch. Worin hat diese Ernährungsweise ihren Ursprung?

Dieser Ursprung liegt sehr weit zurück. Schon die Pythagoreer haben in der Antike auf Fleisch verzichtet. Das war ein Weg zu symbolisieren, dass man mit den herrschenden Verhältnissen nicht einverstanden war, weil sich diese damals über das Tieropfer reproduziert haben. Freiwillig auf etwas zu verzichten, das mit besonderer gesellschaftlicher Wertschätzung verbunden war, war eine Form des Protests. Bereits im 19. Jahrhundert gab es eine vegetarische Bewegung, die aus den neuen bürgerlichen Schichten entstanden ist. Sie wollte sich einerseits vom etablierten Bürgertum abgrenzen und andererseits von den Proletariern, die sich kein Fleisch leisten konnten. Die sozial aufsteigenden bürgerlichen Schichten begründeten einen Lebensstil, der sich als ethisch besonders verantwortungsvoll präsentierte. Etwas Ähnliches passiert auch heute: Bestimmte Gruppen fangen an, auf Fleisch zu verzichten, weil sie dadurch zeigen können, dass sie Menschen mit einem besonderen ethisch-moralischen Bewusstsein sind.

Einerseits wollen sich die Menschen also abgrenzen, andererseits werden diese Trends aber massiv vom Markt aufgegriffen.

Das macht unsere heutige Gesellschaft aus. Sobald diese Trends erkennbar sind, werden sie von der Industrie aufgegriffen und unmittelbar vermarktet – obwohl sie eigentlich immer auch Kritik an der ökonomischen Verfasstheit der Lebensmittelproduktion sind. Das ist der Unterschied zu den Bewegungen des 19. Jahrhunderts: Damals versuchte man, spezifische Einrichtungen, etwa Reformhäuser, zu gründen, ist damit aber oftmals ökonomisch gescheitert. Das ist heute selten der Fall. Man ist bei jeglicher Form der Kritik nicht mehr davor geschützt, dass sie am nächsten Tag vermarktet wird.

Kann diese Vermarktung dazu beitragen, einen bestimmten Lebensstil zu verankern?

Der Eiermarkt in Deutschland ist hierfür ein gutes Beispiel: Hier setzen sich Produkte, die als „bio“ klassifiziert sind oder ein Tierschutz-Gütesiegel tragen, immer mehr als Selbstverständlichkeit durch. Das ist also auch ein Mechanismus, über den man breite gesellschaftliche Veränderungen langsam in Gang setzen kann.

Heutzutage ist es in, einen bewussten Lebensstil zu pflegen und Sport zu treiben. Steht das auch mit der modernen Arbeitswelt in Zusammenhang?

Das ist geradezu ein und dasselbe. Die Bereitschaft, Sport zu machen und sich gesund zu ernähren, fungiert als Beweis für Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortlichkeit in der Arbeitswelt. Ich habe ein Forschungsprojekt mit dickeren Jugendlichen gemacht und denen war es ein wichtiges Anliegen zu unterstreichen, dass sie zwar anders aussehen, aber trotzdem eine hohe Leistungsbereitschaft haben. Der Körper ist heutzutage die „Marke“, die ich zu produzieren habe, „meine Visitenkarte“, mit der ich zeige, dass ich ein hohes Maß an Selbstdisziplin, Eigenverantwortlichkeit und Leistungsbereitschaft mitbringe.

Es existiert also immer ein Zusammenspiel zwischen der Arbeitswelt und dem Essverhalten?

Das ist das Interessante: Je weniger der Körper als Instrument der Arbeit dient, umso mehr wird er zum Symbol der Arbeitsbereitschaft. Dagegen lässt sich allerdings wenig unternehmen, denn darin spiegelt sich die gesellschaftlich anerkannte Leistungsideologie.

 

Eva Barlösius ist Soziologin und lehrt derzeit als Professorin an der Leibniz Universität Hannover. Seit Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere befasst sie sich mit dem Thema Essen. Von ihr erschien unter anderem Das Buch „Die Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung“. Das Interview führte Theresa Aigner.

 

AutorInnen: Theresa Aigner