Eine Stimme für „White Trash“
Die Sozialanthropologin Jessica Bollag gibt in „I'm not leaving Eldon“ Rednecks eine Stimme.
„White Trash“, Hillbilly und Rednecks – Begriffe, die in den USA mit der unteren sozialen Schicht verknüpft werden: keine Bildung, kein Einkommen, dafür viel Alkohol und viel zu teure Statussymbole, die sich die Leute gar nicht leisten können. So das Stereotyp. Bewohner*innen des kleines Dorfes Eldon sind sich bewusst, dass ihnen das Image des „White Trash“ anhaftet. Gleichzeitig ist Eldon die größte Mais- und Sojaproduzentin der USA. Doch die unabhängigen Bauernhöfe werden immer stärker von multinationalen Konzernen verdrängt – wichtigste und schlechte Arbeitgeber, Retter und Teufel zugleich. Die Sozialanthropologin Jessica Bollag verlieh den Bewohner*innen Eldons eine Stimme in ihrem Dokumentarfilm „I'm not leaving Eldon“. progress sprach mit der Filmemacherin über Narrenfreiheit, über Stellen- und Autonomieverluste, über den steigenden Meth-Konsum im kleinen Eldon und wie all das zusammenhängt.
progress: Eldon ist ein kleines Dorf in Iowa und daher nicht gerade ein Ort, den man einfach so kennt. Wieso bist du ausgerechnet dort gelandet?
Jessica Bollag: Ich habe Ellen, eine der Protagonist*innen bei einem Auslandsaufenthalt in Costa Rica kennen gelernt. Wir haben uns sofort gut verstanden. Ein Jahr später hat sie mich zu Ihrer Hochzeit in Eldon eingeladen. Zuerst dachte ich: „Das wird total langweilig werden!“ Es gibt in Eldon ja nichts außer Maisfelder. Aber es hat sich als sehr actionreich erwiesen. Bei diesem Aufenthalt erzählten mir die Leute über das Stereotyp des „White Trash“. Gleichzeitig erfuhr ich von den sozialen Problemen, dass es immer weniger Stellen gibt und immer mehr Auswanderung. Vier Jahre später musste ich meine Magisterarbeit machen und da war das Thema sehr schnell klar: Ich wollte zeigen, wie die Agrarindustrie sich verändert hat - von den einzelnen unabhängigen Bauernhöfen zu den Riesenkonzernen.
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Diese wirtschaftliche Veränderung ist auch ein zentraler Teil deines Films. Wie hat sich das auf die Bevölkerung ausgewirkt?
Es ist ein riesiger Autonomieverlust. Die Elterngeneration hatte noch Bauernhöfe und somit auch Land, das dazu gehörte. Das wurde nach und nach an große Konzerne verkauft. Dazu kommt, dass sich die Maschinen mittlerweile autonom steuern lassen und es weniger Arbeitskräfte braucht. Der Mais wird trotzdem weiter verarbeitet, allerdings in dieser Riesenfabrik, die etwa 1 ½ Stunden Autofahrt von Eldon entfernt ist und wie eine Stadt wirkt. Dort müssen die Leute jetzt arbeiten. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, wie zum Beispiel Cole, einer der Hauptprotagonisten, der diese Probleme sieht. Andere habendie Hoffnung verloren. Oder sie reden sich ein, dass die Konzerne notwendig sind. Sie identifizieren sich so sehr mit dieser riesigen Maisproduktion und glauben daher, es gäbe keine andere Möglichkeit. Das wird ihnen auch von den großen Konzernen so eingeredet.
Ich habe den Film gemeinsam mit Freund*innen gesehen und es kam die Kritik auf, dass der Film Klischees und Stereotype reproduziert. Siehst du den Umgang mit den Klischees problematisch?
Ich wollte mit den Klischees spielen, wie die Leute in Eldon es auch tun. Es sollte also um die Produktion und Reproduktion der Klischees gehen. Zu Beginn des Films ist es auf jeden Fall sehr klischeehaft, wie einer der Bewohner beispielsweise auf dem Rasenmäher daher kommt. Aber mit dem Protagonisten Cole sollten diese Stereotype reflektiert werden.
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Genau, auch die Menschen selbst bezeichnen sich als „White Trash“, als Hillbillies. Inwiefern geht es bei der Bezeichnung mit diesen negativ konnotierten Begriffen auch um eine Art Abgrenzung von dem, was außerhalb Eldons liegt?
Ich finde, es geht mehr um eine selbstironische Bezeichnung. Die Leute eignen sich diese Begriffe selbstironisch an. Hier vermischen sich Scham und Stolz extrem. Gleichzeitig geht das mit einer Narrenfreiheit einher: Wenn ich mich so bezeichne, gibt mir das eine Freiheit. Ich bin sowieso „White Trash“, da kann ich nichts falsch machen.
Gibt es auch Leute, die diese Stereotype, aber auch den sozialen Abstieg, den Eldon erfährt auf irgendeine Art und Weise versuchen aufzubrechen oder entgegen zu steuern?
Das ist eine gute Frage. Ich denke aber, das das sehr schwierig ist. Natürlich gibt es einige, die aufsteigen wollen. Das funktioniert aber eher, wenn man noch irgendwie eine Möglichkeit sieht, dass man aus diesen Abstieg rauskommt. Dann versucht man sich auch eher von diesen Stereotypen abzugrenzen. Aber die Leute sind in einer verzweifelten und schwierigen Situation. Sollen sie ihren einzigen Arbeitgeber bekämpfen? Sie sind abhängig. Die Konzerne und Fabriken sind Retter und Teufel zugleich. Wenn man froh sein kann, überhaupt in der Fabrik zu arbeiten, ist diese selbstironische Verwendung der Stereotype auch ein möglicher Umgang mit den eigenen Problemen.
Auf der einen Seite sprechen die Menschen davon, dass man die Türen in Eldon nicht zusperren muss, auf der anderen Seite spielen Waffen eine große Rolle. Wie erklärst du dir diese Ambivalenz?
Ein großes Problem, das ich im Film nicht zeigen konnte ist, dass es in Eldon keine Polizei gibt. Polizei gibt es erst in der nächsten Stadt und meiner Meinung nach interessiert sich die auch nicht wirklich für Eldon. Aber die Leute werden immer ärmer, während der Meth-Konsum steigt. Es gab auch einen Mord in Eldon, bei dem es um Drogen ging. Da fährt die Polizei hin, sperrt ein wenig die Gegend ab und das war es.
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Haben die Leute, die du interviewt hast, den Film schon gesehen?
Ja. Mir war es aus ethischen Gründen sehr wichtig, dass sie den Film absegnen. Deswegen bin ich auch nochmal nach Eldon, bevor ich ihn veröffentlicht habe. Dann haben wir improvisiert. In einer Garage, auf Campingstühlen sitzend, daneben Kühlboxen mit Bier – so haben wir den Film angesehen.
Und wie waren die Reaktionen?
Es war speziell für die Leute, dass sie eine Stimme bekommen haben. Das sind sie nicht gewohnt. Gleichzeitig finden sie es gut, dass ich kein romantisches Bild gezeichnet habe. Ich hatte ein wenig Angst, weil natürlich kritisiere ich sie manchmal indirekt. Aber es ist ein Bild, welches nicht verschönert. Aber genau das hat ihnen gefallen, dass man kein kitschiges Bild von den armen Proleten auf dem Land, sondern auch genug Ecken und Kanten sieht. Damit konnten sie sich identifizieren.
Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.