Eine pluralistische Bewegung
Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.
Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.
Bereits seit Anfang Februar 2013 wird in Bulgarien protestiert. Während die Proteste im ärmsten EU-Mitgliedsstaat anlässlich der hohen Strom- und Heizkosten entflammten, wurden mit der Zeit auch Korruption und Vetternwirtschaft sowie Privatisierungen zu Themen der heftigen Anti-Regierungsproteste. Die konservative Regierung warf unter zunehmendem Druck der RegierungsgegnerInnen Ende Februar das Handtuch. Seit den Parlamentswahlen Ende Mai steht der parteilose Finanzexperte Plamen Orescharski an der Regierungsspitze und wird von den SozialistInnen und der türkischen Minderheitenpartei DPS gestützt. Die Proteste halten unvermindert an. Die Kritik gilt weiterhin neoliberalen Reformen und dem radikalen Abbau des Sozialstaates. Die Bevölkerung fordert einen grundlegenden Systemwechsel.
Auch der 27-jährige Bulgare Peter Dobrev sieht das so. Der Geschichtestudent ist seit mehreren Wochen an der Besetzung der Universität Sofia beteiligt.
progress: Peter, wie ist es zur Besetzung des Hauptgebäudes der Universität Sofia gekommen?
Peter Dobrev: Die Anti-Regierungsproteste in Bulgarien begannen schon im Februar, die Uni wurde erst im Oktober besetzt. Etwa 20 Leute haben den größten Hörsaal der Universität in Beschlag genommen. Zwei Tage später war beinahe das gesamte Hauptgebäude besetzt. Von da an waren täglich zwischen 200 und 300 Studierende da.
Wann hast du dich der Protestbewegung angeschlossen?
Ich wurde erstmals mit der Besetzung aktiv, weil mir diese Art des Protestes gefällt. Zuerst dachte ich, dass wieder nur Rücktrittsforderungen an die Regierung und die Verbreitung antikommunistischer Slogans im Vordergrund stehen werden. So war’s nämlich bei den Protesten im Sommer. Aber dann wurde ich durch die Herangehensweise der BesetzerInnen angenehm überrascht.
Was war neu an der Besetzung?
Die Besetzung und das Zusammenleben in der Uni haben uns stimuliert. Es hat sich ein wirklich intensives intellektuelles Leben entwickelt. Wir haben Arbeitsgruppen gegründet und uns mit Themen wie Armut, dem Gesundheitssystem, Immigration und Bildung auseinandergesetzt. Unsere Parteien reden über solche Themen nicht.
Welche Resultate haben die Arbeitsgruppen erzielt?
In der mittlerweile veröffentlichten Bildungserklärung geht es darum, dass wir eine Bildung wollen, die intellektuell unabhängige und kritische Personen hervorbringt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sollten wieder eine größere Rolle spielen und von staatlicher Seite mehr gefördert werden. Derzeit fließen die Gelder vor allem in Fächer in Zusammenhang mit Wirtschaft, die sich mit den neoliberalen Vorstellungen unserer Parteien decken. Unsere Bildung sollte aber auch unsere Zivilgesellschaft stärken. Zur Veröffentlichung der Erklärung zum Thema Gesundheit ist es leider nicht gekommen, obwohl sie schon sehr ausgereift war. Da haben MedizinstudentInnen und ProfessorInnen mitgearbeitet, also jene Leute, die die wirklichen Probleme in diesem Bereich kennen. Im Mittelpunkt stand die Forderung, dass Gesundheitsversorgung ein Recht und kein Privileg sein soll.
Die Soziologin Mariya Ivancheva beschrieb die BesetzerInnen als antikommunistisch, neoliberal, an sozialen Themen uninteressiert. Wie würdet ihr euch beschreiben?
Unter uns BesetzerInnen gab es eine große Vielfalt an Meinungen und Zielen. Einige waren neoliberal, andere antikommunistisch und andere wiederum links eingestellt. Ich würde insgesamt von einer sehr pluralistischen Bewegung sprechen. Zudem würde ich sagen, dass wir uns sehr viel mit sozialen Themen auseinandergesetzt haben. Wie sieht es derzeit mit der Uni-Besetzung aus? Nur noch ein einziger Hörsaal ist besetzt, die Besetzung naht ihrem Ende. Außerdem hat die Bewegung viel von ihrer intellektuellen Dynamik verloren. Die Luft ist draußen. Es geht jetzt vor allem um Aktionen beim Parlament.
Wodurch erklärst du dir diesen „Verlust der Intellektualität“?
Vielleicht waren zu viele heterogene Kräfte am Prozess beteiligt. Die eine Gruppe setzte auf intellektuelle Debatten. Die andere Gruppe hat sich auf den Rücktritt der Regierung und öffentliche Protestaktionen konzentriert – darunter auch die InitiatorInnen der Uni-Besetzung. Du kannst den Rücktritt aber nicht durch die Proteste auf der Straße erzwingen. Und selbst wenn die Regierung zurücktritt, würde das nichts ändern. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zur Veränderung darin, dass die neuen Denkanstöße der Besetzungsbewegung mit der Regierung verhandelt werden – aber auch das wird wohl so bald nicht passieren.
Bei den Protestaktionen vor dem Parlament kam es mitunter zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Demonstrierende wurden verhaftet und RegierungsgegnerInnen sollen von den Sicherheitsbehörden überwacht werden.
Das ist alles sehr problematisch. Vor allem das Überwachungsthema wird zurzeit viel diskutiert. Viele Studierende haben Angst überwacht zu werden. Die Regierung versucht mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben.
Wie geht es in den nächsten Wochen weiter?
Fest steht, dass die Zahl der Protestierenden auf der Straße von Tag zu Tag abnimmt. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Proteste im Jänner oder Februar wieder aufflammen – dann werden die alljährlichen Heiz- und Stromrechnungen fällig und die Leute spüren den Druck der Krise wieder.
Was nimmst du an Positivem aus den Protesten mit?
Wir haben eine neue Sprache entwickelt – fernab vom vorherrschenden Mainstream und dem neoliberalen Paradigma unserer politischen Parteien. Das war nicht nur sehr bereichernd, sondern tatsächlich etwas Neues.
Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und ist freie Journalistin.