Ein neuer Plan der Solidarität

  • 15.05.2020, 12:47
Der Mythos Marshallplan feiert in der Corona-Krise sein Comeback. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert ein neues Wiederaufbauprogramm, angelehnt an das amerikanische Prestigeprojekt.

George Marshall und seine Idee der Auslandshilfe

“I need not tell you, gentlemen, that the world situation is very serious.” Mit diesen drastischen Worten eröffnete US-Außenminister George C. Marshall seine berühmte Harvard-Rede am 5. Juni 1947. Marshall war der Meinung, dass Europa eine zusätzliche Hilfsleistung erhalten müsse, um einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verarmung zu entgehen. Er zeichnete ein romantisches Bild der amerikanischen Politik, welche sich nicht gegen ein Land oder ein System richte, sondern gegen Hunger, Armut und Verzweiflung. Trotzdem war der Marshallplan wirtschaftlich nicht altruistisch und folgte den Prinzipien der Containment-Politik, der Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs. Und genau dafür benötigte man ein stabiles und gedeihendes Europa. Denn: „Only hungry stomachs become communists.”

„Whatever the weather, we only reach welfare together”

Nach dem Vorschlag für ein europäisches Wiederaufbauprogramm sollte es, unter Anleitung der USA, vor allem die Aufgabe der Europäer_innen sein, jenen Plan zu erstellen. Es wurden dafür die engsten Vertrauten der USA, Frankreich und Großbritannien, mit ins Boot geholt, um die amerikanischen Vorstellungen eines „European Recovery Programs“ in Europa zu verbreiten. Daraufhin wurde gemeinsam mit 16 Staaten eine europäische Antwort auf den amerikanischen Vorschlag formuliert.

Der Marshallplan sollte eine stabile Wirtschaftsordnung schaffen sowie Handelsbarrieren abbauen und so das Wirtschaftsleben in Europa ankurbeln. Für die Durchführung des Wiederaufbauprogramms wurden deswegen zwei wichtige Organisationen gegründet: Einerseits die „Organisation of European Economic Cooperation“ (OEEC), Vorgängerin der heutigen OECD, und andererseits die „Economic Cooperation Administration“ (ECA). Die Errichtung dieser Organisationen machte es möglich, die Mittel innereuropäisch zu verwalten und erleichterte den Weg zur europäischen Integration, in weiterer Folge zur EU. Alle westeuropäischen Länder mussten sich an einen Tisch setzen und miteinander kooperieren, auch wenn man vor zwei bis drei Jahren noch verfeindet gewesen war. Das Kind der europäischen Gemeinschaft, welches sich später in eine erwachsene EU entwickeln sollte, machte seine ersten Schritte.

Aufbruch in die neue Zeit

Mit dem Marshallplan rollte der Wiederaufbau langsam an. Fast 14 Milliarden Dollar wurden von 1948 bis 1952 bereitgestellt. Die Vorstellung, dass die USA den europäischen Ländern diese Summe schlicht Stück für Stück überwiesen hätte, trifft aber nicht zu. Der Marshallplan kam größtenteils in Form von US-Waren in Europa an, die dann im Inland verkauft wurden. Durch die staatlichen Einnahmen der Warenverkäufe konnten dann Kredite an Unternehmen vergeben werden. Auch heute wirkt der Marshallplan durch einen Fonds in Österreich nach. Durch diesen wird zum Beispiel das Marshallplan-Stipendium für österreichische Studierende in den USA finanziert. Den europäischen Flickenteppich wieder zusammennähen

Natürlich stellte der Plan eine enorme wirtschaftliche Hilfe dar und unterstützte Europa dabei, Engpässe beim Wiederaufbau zu überwinden. Er war die notwendige Initialzündung für den Wirtschaftsaufschwung nach dem 2. Weltkrieg, aber nicht die Hauptursache der wirtschaftlichen Erholung. Die Wirkung des Marshallplans auf Europa und die (west-)europäische Solidarität wird oft vernachlässigt. Die EU hätte es ohne Marshallplan in dieser Form wahrscheinlich nicht gegeben. Aus einer Weltkrise entstand ein mächtiger Staatenverband mit seinen wichtigen Grundfreiheiten. Allein wenn diese Erkenntnis wieder in den Köpfen der Politiker_innen Eingang findet, war es die Wiederentdeckung des Marshallplans schon wert. Gerade jetzt ist es notwendig, Solidarität und Stärke zu zeigen. Doch leider mangelt es genau daran. Die EU-Finanzminister_innen streiten, wie einst in der Griechenland-Krise, über Auflagen des Europäischen Rettungsschirms (ESM) und Italien fordert die gemeinsame Aufnahme von Schulden aller EU-Staaten, sogenannte Corona-Bonds. Diese lehnen Deutschland und die Niederlande vehement ab. Der Nord-Süd-Konflikt, der schon Jahre unter der Oberfläche brodelte, ist nun endgültig entbrannt. Ob Corona-Bonds nun Mittel der Wahl sind, darüber streiten Ökonom_innen. Fakt ist, dass laut einer Umfrage 45% der Italiener_innen Deutschland als „Feind“ betrachten. Das kann und darf in einer europäischen Gemeinschaft nicht vorkommen. Es braucht genau diese starke Gemeinschaft, um neben den wirtschaftlichen auch die vielen sozialen Probleme zu lösen, die durch Corona entstanden sind oder verstärkt wurden. Der drastische Anstieg der Arbeitslosenquote ist Tatsache und die Klimafrage löst sich auch nach der Krise nicht von allein. Probleme, die nur solidarisch gelöst werden können. Doch Einigkeit ist nicht in Sicht. Ein gemeinsames Wirtschafts- und Sozialprogramm wäre imstande europäische Wogen zu glätten, das zeigt die Geschichte.

CoVid-19 ist eine Bewährungsprobe für die EU. Ein neuer Marshallplan, so wie ihn Von der Leyen fordert, muss mehr umfassen als bloße Wirtschaftshilfe. Er wird Anstoß sein müssen für ein neues europäisches Miteinander.

Felix Strasser studiert Kommunikationswirtschaft an der FH Wien

AutorInnen: Felix Strasser