Dreißig Jahre zu spät

  • 29.09.2012, 01:52

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Am 10. Dezember wird Doris Lessing als elfter Frau der Literaturnobelpreis verliehen. Geehrt wird eine Erzählerin, die zentrale Themen des 20. Jahrhunderts bearbeitet. Die Kritik an Kolonialismus und Geschlechterungleichheit prägt ihr facettenreiches Werk. Ein Blick auf ihr Leben, ihr Schaffen und das Verhältnis von Schweden zu Literaturnobelpreisträgerinnen.

Als die Schwedische Akademie ihre Entscheidung über den Literaturnobelpreis 2007 verkündete, war die 87-jährige Doris Lessing gerade einkaufen und daher selbst für die honorigen SchwedInnen nicht erreichbar. Zwei Stunden später fuhr sie mit dem Taxi vor ihrem Haus in London vor und wurde bereits von einer ReporterInnenschar erwartet. Ihre erste Reaktion fiel in der ihr eigenen nonchalanten Begeisterung aus: „Das geht jetzt schon 30 Jahre lang so. Ich habe alle Auszeichnungen in Europa gewonnen, jeden verdammten Preis! Also bin ich entzückt, sie jetzt alle zu haben. Es ist ein „Royal Flush. […] Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben, bevor ich abkratze.“ Nun ist Frau Lessing nicht nur um eine Ehrung, sondern auch um 1,1 Millionen Euro reicher.

Ihr Leben – eine Geschichte. Doris Lessing wurde 1919 als Tochter eines britischen Kolonialbeamten und einer Krankenschwester im Iran geboren. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Südrhodesien (Simbabwe) um. Bald wurde sie mit der Trostlosigkeit des kolonialen Alltags konfrontiert. Lessing erlebte sowohl das Platzen des Traumes vom Reichtum Afrikas in der eigenen Familie, als auch das Elend der einheimischen Bevölkerung. Diese Problematik sollte prägend für ihre frühen Texte werden. Lessing brach ihre rigide Schulerziehung mit vierzehn Jahren ab und machte sich intellektuell wie ökonomisch selbstständig. Kurz nachdem sie 1937 nach England zurückgekehrt war, heiratete sie. Doch das Gefühl gefangen zu sein, ließ sie nicht los, sie verließ ihren Mann. Kurz darauf kam sie in Kontakt mit dem „Left Book Club“, einer kommunistischen Buchklub- und Diskussionsbewegung, wo sie ihren zweiten Mann Gottfried Lessing kennen lernte. Nach und nach jedoch wurde sie von der kommunistischen Partei enttäuscht und verließ diese 1954 wieder. Es folgte Anfang der 1970er und 1980er eine sehr produktive Zeit für Lessing, in der sie sich auf die Suche nach anderen Perspektiven zur Überwindung von Ungerechtigkeiten und Dichotomien machte. Dabei bleibt sie der Linken und der Frauenbewegung jedoch ihr Leben lang verbunden. In den 1990-er Jahren fand ihr Werk zunehmend Anerkennung und sie erhielt zahlreiche Preise. Bis heute lebt, schreibt und publiziert Doris Lessing in London.

Das Werk als Spiegel der Zeit. Die frühen Texte wie „The Grass Is Singing“ beschäftigen sich, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, mit Kolonialismus in Afrika. Sie prangern die Enteignung der AfrikanerInnen, die rassistische Ungerechtigkeit und die Sterilität der importierten europäischen Kultur an. Die Texte machten Lessing lange Zeit zur persona non grata in Südrhodesien und Südafrika. Lessings politische Erfahrungen Anfang der 1940er kulminieren in ihrem großen Roman „The Golden Notebook“ von 1962. Das höchst komplex auf fünf Erzählebenen aufgebaute Buch versucht ein Panorama über politische und soziale Entwürfe weiblicher Subjektivität dieser Zeit zu geben. Ihre Ambition dabei ist es, wie die Realisten des 19. Jahrhunderts, das Portrait einer ganzen Gesellschaft und ihres Klimas zu zeichnen. In den 1970er und 80er Jahren wendet sich Lessing einer von islamischer Mystik inspirierten Science Fiction zu. Es entsteht der fünfbändige Zyklus „Canopus in Argos: Archives“. Ihr neuester Roman „The Cleft“ erschien 2007 und sucht eine mythische Gesellschaft am Anfang der Menschheit auf, die nur aus Frauen besteht.

Umstrittene Entscheidung. Nicht alle sind mit der Entscheidung für Doris Lessing zufrieden. Marcel Reich-Ranicki spricht von einer „bedauerlichen Entscheidung“. Er kenne „viele, jedenfalls mehrere bedeutendere, wichtigere Schriftsteller“ aus dem angelsächsischen Sprachraum. Von Lessing habe er „vielleicht drei“ Bücher gelesen und „nichts hat mich wirklich beeindruckt.“ Ganz anders reagierte Elfriede Jellinek, die 2004 selbst den Nobelpreis erhalten hat: „Ich hatte sogar gedacht, sie hätte ihn schon längst. Das ‚Goldene Notizbuch‘ [ist] sicher eines der wichtigsten feministischen Werke der Literatur überhaupt.“ In der Tat schlägt sie damit in eine Kerbe, die auch andere KritikerInnen anführen: Der Preis sei wichtig und verdient, komme aber „um 30 Jahre zu spät“, so Sigfried Löffler.

Die obskure Entscheidungsfindung der Schwedischen Akademie wurde in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Überspitzt gesagt machen honorige ProfessorInnen einer (bis vor einigen Jahren ausschließlich männlichen) Kommission Vorschläge. In geheimen Beratungen wird dann der/die PreisträgerIn bestimmt: die Black Box spuckt einen Namen und eine zweizeilige Begründung aus und schiebt 1,1 Millionen Euro über den Tisch. Die Entscheidungen sind oft eher ein politisches als ein ästhetisches Statement – und dementsprechend auch umstritten. So wurden etwa mit Harold Pinter (2005) oder Dario Fo (1997) keine großen Stilisten ausgezeichnet – jedoch vehemente Kritiker neoliberaler Politik.

Frauen als Nobelpreisträgerinnen waren lange Zeit eine Seltenheit: Seit 1901 wurde der Nobelpreis 104 mal vergeben, davon nur 11 mal an Frauen. In den letzten 20 Jahren scheint sich jedoch ein deutlicheres Bewusstsein für solche Ungleichheiten gebildet zu haben: Zwischen 1901 und 1990 betrug der Frauenanteil ganze 7 %, während er seit 1991 auf 30 % angestiegen ist. Ähnlich sieht es mit dem Anteil von SchriftstellerInnen aus postkolonialen Kontexten aus. In der Begründung für die Verleihung an Doris Lessing heißt es, sie sei eine „Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat“. Darin zeigt sich der schmale Grat zwischen Essentialismus und Differenzkonzepten. AutorInnen, die an der Dekonstruktion von Dichotomien arbeiten, mit Begriffen wie „weibliches Schreiben“ zu etikettieren, ist gefährlich. Die Herausforderung besteht darin, „daß wir die Dinge nicht auseinanderdividieren dürfen, nicht in Fächer aufteilen dürfen“, wie Doris Lessing im Vorwort zu „The Golden Notebook“ schreibt. Dieses Ringen nach einer totalen Perspektive ist es wohl, was Doris Lessings Werk so wertvoll macht.

Timon Jakli studiert Germanistik und Soziologie in Wien.

www.dorislessing.org
www.nobel.se

AutorInnen: Timon Jakli