Das Alter ist unbeherrschbar
Altern, das hat nichts mit Science Fiction zu tun. Eine Zusammenschau von Marlene Brüggemann.
Altern, das hat nichts mit Science Fiction zu tun. Eine Zusammenschau von Marlene Brüggemann.
Zu essen, zu trinken und zur Toilette zu gehen verlangt dem Ehepaar Anne und Georges in Michael Hanekes neuem Film Amour alle Kräfte ab. Georges treibt mehrmals eine weiße Taube aus der Wohnung und mit ihr fliegt die Muße des Alters davon. Denn seit Anne einen Schlaganfall hatte, geht es ihr von Tag zu Tag schlechter. Schließlich bittet sie Georges darum, sie umzubringen. Er aber willigt nicht ein und nimmt den Kampf mit Annes Krankheit auf. Doch Annes Zustand verbessert sich nicht, bis Georges sie aus Verzweiflung mit einem Kissen erstickt. Michael Haneke hat uns mit Amour einen Ausnahmefilm geliefert, der zeigt, dass Altern mehr bedeutet als runzlige Haut, leisen Buttersäuregeruch und gelbe Flecken auf der Hose. Die Grundlage für seinen Film war tragisch unspektakulär: der Rheumatismus seiner Tante. Im Falter-Interview (37/12) wurde er gefragt, ob Amour zu Beginn seiner Karriere schwierig zu realisieren gewesen wäre. Haneke antwortete: „Sicher. Große Zuschauerzahlen lässt das Thema ja nicht erwarten.“
Die Lebenskünstlerin. Maude in Harold and Maude lässt das Alter gar nicht so weit kommen. An ihrem 80. Geburtstag schluckt sie Tabletten. Sie entzieht sich Harold und übernimmt die Verantwortung für ihren Tod. Die Reaktion Harolds: pures Entsetzen. Er ist rund 60 Jahre jünger als Maude, als er sich in sie verliebt. Dass Maude sich umbringen will, kann er nicht akzeptieren. Er will sie retten. Aber wovor? Maude warnt Harold: „Viele Menschen genießen es, tot zu sein. Aber sie sind nicht wirklich tot. Sie gehen nur in Deckung vor ihrem Leben.“ Und sie meint die Jungen wie die Alten. Harold entdeckt Maudes eintätowierte KZ-Nummer am Unterarm. Sie sprechen nicht darüber, dafür bleibt Maude keine Zeit. Maude düst auf geklauten Polizeimotorrädern dahin und rettet Bäume vor dem Ersticken. Sie erfindet Maschinen, die die Gerüche von Zigarettenqualm, Roast Beef und Schnee produzieren. Dass Maude ihr Leben einmal nicht mehr selbst bestimmen könnte, will sie nicht akzeptieren – sie nimmt sich vor den Augen des verzweifelten Harold das Leben. In Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran lernt der Teenager Momó mit Monsieur Ibrahim das Leben kennen. Ibrahim adoptiert Momó und kümmert sich um ihn, nachdem sich Momós Vater umgebracht hat. Er lehrt ihn das Leben, die Liebe und den Koran. Er ist der alte Weise, der Momó sagt: „Das, was du liebst, Momó, das gehört dir, auf ewig. Was du behältst, das ist für immer verloren.“ Monsieur Ibrahim hat sein ganzes Leben in seinem Lebensmittelladen verbracht. Mit Momó kehrt er in das Land zurück, das er als Junger verlassen hat: die Türkei. Ibrahim kauft ein rotes Cabriolet und macht den Führerschein mit Momós Hilfe. In der Türkei verunglückt Ibrahim mit dem Wagen. Bevor er stirbt, versichert er Momó: „Mein Leben war schön und ich bin alt. Ich sterbe nicht, ich gehe nur ein in die Ewigkeit.“
Die Alten können anders. 66 Jahre – so alt ist die Punkikone Patti Smith. Am 28. August gab sie ein Konzert in der Arena Wien, einer ihrer „favourite places to play“. Zwei Stunden lang beschrie sie unter freiem Himmel den Mond, fegte über die Bühne und zerriss die Saiten ihrer Gitarre. Von Punk kann man sich nicht pensionieren lassen. Dem Rock entstirbt man, die einen früher, die anderen später. Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und Brian Jones wären 2012 allesamt circa 70 Jahre alt. Alle starben jedoch im 27. Lebensjahr. Patti Smith hat den 27 Club überlebt. Im Juni erschien ihr neues Album Banga. Es soll nicht die einzige Veröffentlichung einer Rocklegende in diesem Jahr bleiben. 2012 erschienen auch Tempest von Bob Dylan, 71, und Privateering von Mark Knopfler, 63. Ihr Altern gibt nicht den Eindruck von dem, was Paul McCartney mit 25 so stoisch besang:
Doing the garden/ Digging the weeds/ Who could ask for more?/ Will you still need me/ Will you still feed me/ When I'm sixty-four?
Der Song When I’m sixty-four erschien 1967 auf der Beatles Platte Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Er vermittelt das Bild eines Ehepaars, das seinem Lebensabend zufrieden entgegenblickt. Es sind die Jungen, die das Altern als sinnvoll und glücklich besingen. Udo Jürgens war 33, als er in den Studios trällerte: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an/mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.“ Yiha, wenn ich mal in Rente bin, dann lass’ ich mir eine Vokuhila wachsen, schwing’ mich auf mein Bike und tanz’ mit der Oma in der Disko. Auch gut. Trotzdem heißt Altern oftmals nicht „Ich gewinne mein Alter!“, sondern „Ich verliere meine Jugend.“
Pessimismus. Die beiden Norweger Eirik Glambæk Bøe und Erlend Øye sind 1975 geboren. Als Indie Pop Band Kings of Convenience schreiben sie eine Ode an die Jugend: The Power of Not Knowing.
I see you changing girl/ From Day to Day/ Impressed by and trying to imitate/ Those who are older/ Those who are colder/ Suddenly embarrassed by your age/ Our bigger blessing, girl/ Is being young/ The power of not knowing/ Where you belong/
Und es geht noch drastischer: I’m Not Ready For The Grave Yet ist der Titel des neuesten Albums von B. Fleischmann. Das Cover zeigt einen Sarg im leeren Raum, gefüllt mit orangen, grünen und blauen Bällen. Ähnliche Bälle findet man in einem Traum von Kinderspaß: ein Raum voll mit bunten Bällen, der zum schwimmen einlädt. Man bewegt sich auf das Grab zu und merkt es nicht. Dann sieht und hört man schlechter, steht schwer auf und manche fürchten sich. Da hilft es auch nicht, das Licht bei Nacht brennen zu lassen und sich die Ohren zuzuhalten. Kann man im Alter ein Ende mit dem eigenen Leben finden? Die französische Chansonsängerin Édith Piaf schloss glatt mit den Liebhaber_innen, den Drogenexzessen und ihrem Werk ab. Ihre Mitmenschen hätten sie gerne im Alter schwer daran tragen sehen. Stattdessen sang Piaf einen ihrer größten Hits, drei Jahre vor ihrem Tod. Non, je ne regrette rien. – „Nein, ich bereue gar nichts.“