Bloß nichts mit Menschen

  • 24.06.2015, 17:01

Angst vor Referaten, fremden Menschen und Partys: soziale Phobie ist eine der häufigsten psychischen Störungen. Trotzdem hat kaum eine_r je davon gehört.

Angst vor Referaten, fremden Menschen und Partys: soziale Phobie ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Trotzdem hat kaum eine_r je davon gehört.

Wir leben unter Menschen. Was aber, wenn genau sie zum Auslöser für schwerwiegende Ängste werden? Lampenfieber vor Präsentationen, Bühnenauftritten und wichtigen Sport-Turnieren - das kennt jede_r. Menschen, die unter einer sozialen Phobie leiden, erleben viele verschiedene soziale Situationen ähnlich oder schlimmer. Mit sozialer Phobie zu leben bedeutet ständig das Gefühl zu haben, von anderen beobachtet und dabei negativ beurteilt zu werden. Sei es, wenn man in der Bäckerei um die Ecke einkauft, per Telefon einen Termin mit der Ärztin oder dem Arzt vereinbart, ein Mail verfasst, sich in einer Gruppe zu Wort meldet oder in der Mensa isst. All diese Situationen, die von den meisten Menschen als unproblematisch erlebt werden, können Menschen mit sozialer Phobie Angst machen. Betroffene befürchten stets, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich vor anderen zu blamieren. Lisa*, die schon ihr ganzes Leben an sozialer Phobie leidet, bringt es auf den Punkt: „Man hat immer das Gefühl, dass, egal wohin man geht, ein Scheinwerfer auf einen gerichtet ist."

Dies führt dazu, dass Betroffene sich selbst permanent beobachten, um peinliches Verhalten zu vermeiden. Sie bewerten, ob sie seltsam gehen oder sich eigenartig bewegen, womöglich komisch lachen, die Stimme merkwürdig klingt oder sie sich verhaspeln. Die Erwartung, sich vor anderen „falsch" zu verhalten, wird dabei oft zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. „Wenn mir jemand beim Schreiben zuschaut, habe ich die ganze Zeit Angst davor, dass meine Hand zittern könnte. Vor lauter Angst verkrampfe ich meine Hand immer mehr, sodass sie am Ende wirklich zittert", schildert Lisa das Problem.

WENN BLICKE TÖTEN. Auch wenn die Symptome von psychischen Erkrankungen wie Bulimie oder Schizophrenie gemeinhin geläufiger sind, ist die soziale Phobie doch deutlich verbreiteter. „Die soziale Phobie stellt heute eine der häufigsten psychischen Erkrankungen dar, nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit. Die Dunkelziffer liegt vermutlich viel höher", erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin Elisabeth Reisenzein-Hirsch. Im Laufe ihres Lebens sind bis zu 15 Prozent der Bevölkerung davon betroffen, wobei Frauen gefährdeter sind. Die ersten Probleme treten üblicherweise schon in der Kindheit oder Jugend auf. Erkannt wird die Erkrankung aber meist spät oder gar nicht. Auch Sabrina* hat erst mit 20 einen Namen für ihre Probleme gefunden, die sie schon seit dem Grundschulalter verfolgen. Warum aber weiß kaum jemand, dass es eine Erkrankung wie die soziale Phobie gibt? Lisa vermutet, dass es auch daran liegt, dass Betroffene nicht über ihre Probleme sprechen: „Wenn ich Angst davor habe, dass andere mich negativ bewerten, dann versuche ich mich so ,richtig' und unauffällig wie möglich zu verhalten. Ich habe mein Leben lang die Fähigkeit perfektioniert, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Für mich wäre es das Allerpeinlichste, wenn andere sehen, wie schwer es mir zum Beispiel fällt, mit ihnen zu reden."

Sind Betroffene solchen angstauslösenden Situationen ausgesetzt, kreisen ihre Gedanken nur noch darum. „Wenn ich vor einer Gruppe von Studienkolleg_innen etwas sagen will, habe ich das Gefühl, ich rede nicht mehr so strukturiert, wie ich es vorhatte. Ich denke dann, die Leute verstehen mich nicht. Ich habe Angst, rot zu werden. Das ist mir unangenehm, weil es in der Situation nicht angebracht oder nötig ist und ich Angst habe, dass Leute es bemerken und sehen, wie unsouverän ich bei so etwas Einfachem bin", schildert Sabrina. Zusätzlich treten körperliche Angstreaktionen auf: „Ich fühle mich zittrig, angespannt und habe einen trockenen Mund. Außerdem fängt mein Gesicht an zu glühen." Doch die soziale Phobie hat noch eine weitere zentrale Konsequenz: Gefürchtete soziale   Situationen werden vermieden. So schweigt Sabrina mittlerweile in größeren Gruppen. In Ermangelung positiver Erfahrungen, die ihren Versagenserwartungen widersprechen, schaukeln sich ihre Befürchtungen mit der Zeit immer weiter auf. Eben dieses Vermeidungsverhalten führt zu deutlichen Einschränkungen im alltäglichen Leben. Studien, wie auch die von Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen, zeigen einen Zusammenhang zwischen sozialer Phobie und Schulabbruch sowie einem höheren Risiko für Arbeitslosigkeit. „Außerdem haben die Betroffenen weniger Freund_innen, weniger Freizeitaktivitäten und sind weniger oft verheiratet", so Reisenzein-Hirsch. Da Kontakte zu Mitmenschen mit derart großer Angst verbunden sind, sind Betroffene nicht selten in sozialer Isolation gefangen.

SCHÜCHTERNHEIT? Oft wird soziale Phobie für Schüchternheit gehalten. Sabrina dachte anfangs auch, sie sei einfach schüchtern, stellte dann aber fest „Schüchternheit und Zurückhaltung alleine können nicht erklären, warum mir die ganze Zeit übel ist und ich Bauchschmerzen habe, bloß weil ich mir einen Arzt- oder Ärztinnentermin ausmachen muss." Wer die soziale Phobie als Schüchternheit deklariert, verkennt ihr Ausmaß. „Unter der Erkrankung zu leiden und Beeinträchtigung im Alltag sind die wichtigen Unterscheidungskriterien", stellt Reisenzein-Hirsch klar. „Zwar behaupten, laut einer Studie von Stein, Walker und Forde, 60 Prozent der Befragten von sich, in manchen sozialen Situationen schüchtern zu sein, aber nur sieben Prozent geben auch an darunter zu leiden." Im Gegensatz zur Schüchternheit ist die soziale Phobie eine anerkannte psychische Erkrankung und wird in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10), dem wichtigsten und international geltenden Diagnoseklassifikationssystem der World Health Organisation (WHO), beschrieben.

Dennoch suchen bei keiner anderen psychischen Erkrankung Betroffene so spät Hilfe wie bei der sozialen Phobie. Im Schnitt dauert es 14 Jahre, wie Reisenzein- Hirsch bestätigt. Sie schätzt, dass nur etwa ein Drittel der Betroffenen überhaupt in Therapie geht. Grund dafür ist meist nicht nur die soziale Phobie an sich, sondern sind auch Folgeprobleme, wie andere Angsterkrankungen, Depression oder Suchterkrankungen - welche bei sozialer Phobie die Regel sind. Sabrina, die bislang nicht in Therapie war, litt einige Jahre an Depressionen und auch bei Lisa kam es zu weiteren psychischen Erkrankungen: „Zusätzlich zur sozialen Phobie hatte ich eine generalisierte Angststörung und machte mir permanent Sorgen wegen allem Möglichen. In Therapie bin ich erst gegangen, als ich mit 20 an Panikattacken litt. Die soziale Phobie habe ich aber schon, seit ich denken kann."

Doch meist ist es die Phobie selbst, die Betroffene daran hindert, Hilfe in Anspruch zu nehmen - ein Teufelskreis. „Ich dachte immer, dass ich mich vor der Therapeutin oder dem Therapeuten blamiere, und er oder sie es lächerlich findet, dass ich seine  ihre Zeit mit sowas verschwende. Aber die größte Hemmschwelle war, dort anzurufen und hinzugehen", erzählt Lisa. Abwarten ist aber keine Alternative. Im Gegenteil, eine unbehandelte soziale Phobie wird in den meisten Fällen sogar chronisch, bestätigen sowohl Reisenzein-Hirsch als auch der Psychiater Dietmar Winkler.

ALLES FALSCH. Doch woher kommt die lähmende Angst vor der Blamage vor anderen Menschen? „Es gibt definitiv eine biologische Basis, also eine Veranlagung zu Angststörungen, und dies ist auch für die soziale Phobie belegt", erklärt Winkler. Leidet ein eineiiger Zwilling an sozialer Phobie, so ist der andere Zwilling in 30 bis 40 Prozent der Fälle ebenfalls betroffen. Typischerweise zeigen Sozialphobiker innen auch eine angeborene Verhaltenshemmung und neigen dazu, sich bei allem Neuen zurückzuziehen und in Angstsituationen zu erstarren. Weiters lässt sich, laut Winkler, eine Veränderung im Neurotransmittersystem von Betroffenen feststellen: „Das gilt vor allem für das Botenstoffsystem  Serotonin."

Aber auch Umwelteinflüsse sind für das Auftreten einer sozialen Phobie verantwortlich. „Das Erziehungsverhalten der Eltern, Beobachten und Nachahmen des Verhaltens anderer, kränkende soziale Situationen oder belastende Lebensereignisse spielen eine Rolle und können zu sozialer Phobie führen", bestätigt Reisenzein-Hirsch. Im Fall von Lisa traf all das zu: „Meine Eltern sind auch sozialphobisch. Sie hatten immer einen sehr kritischen Blick darauf, wie ich bei anderen Menschen ankomme. Mir wurde oft gesagt, dass irgendetwas an mir einen schlechten Eindruck machen würde: Wie ich andere ansehe, wie ich spreche, wie ich mich bewege, wie ich mich kleide. Deshalb habe ich selbst immer mehr darauf geachtet, ob ich etwas ,falsch' machen könnte. In meiner Schulzeit wurde ich gemobbt, das hat meine Angst vor negativen Reaktionen natürlich weiter verstärkt."

SICH TRAUEN LERNEN. Ein_e von Flugangst Betroffene_r könnte theoretisch ihr sein Leben lang das Fliegen und somit auch die Angst meiden. Bei Sozialphobiker innen ist das keine Option, wird die Angst doch vom alltäglichen Miteinander ausgelöst. „An sich ist die soziale Phobie eine gut behandelbare Erkrankung", ermutigt Winkler. In der Psychotherapie, im kognitiv-verhaltenstherapeutischen Setting, wird an dysfunktionalen Überzeugungen und Gedanken gearbeitet. „Die Betroffenen lernen, ihre negativen Befürchtungen zu hinterfragen. Sie werden dazu motiviert, angstbesetzte Situationen wieder aufzusuchen, ihre Aufmerksamkeit umzulenken und ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufzugeben", erklärt Reisenzein-Hirsch. Konfrontation mit den angstauslösenden Situationen ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. So stellte Sabrina, nachdem sie sich zu einer mündlichen Prüfung überwand, fest: „Es klappt ja. Die Leute halten einem gar nicht vor, dass man total unruhig war oder Angst hatte. Man bekommt neutrales oder meistens eigentlich positives Feedback." Je mehr mündliche Prüfungen sie meisterte, umso mehr schwand ihre Angst davor.

Wenn die Hemmschwelle, zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu gehen, zu hoch ist, kann es eine Hilfe sein, zum Erstgespräch eine Vertrauens- person mitzunehmen, rät Winkler. Medikamentöse Behandlung, vor allem durch Antidepressiva, kann zusätzlich zur Psychotherapie unterstützend wirken. Entscheidend ist dabei, sich von einer Psychiaterin oder einem Psychiater beraten zu lassen. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen kann hilfreich sein - zeigt er doch, dass man mit der sozialen Phobie trotz Angst vor dem Miteinander nicht alleine ist.

Der Schritt, sich Hilfe zu suchen, lohne, sich in jedem Fall, so Lisa: „Am Anfang ist es schwer, aber das ist es wert. Ich habe jetzt viel weniger soziale Ängste als früher. Oft spielt die Phobie sogar gar keine Rolle mehr in meinem Leben. Das konnte ich mir früher nicht mal vorstellen. Ich habe endlich das Gefühl, dass ich so sein kann, wie ich eigentlich bin - ohne meine soziale Phobie."


Theresa Kaar studiert Psychologie an der Universität Salzburg. Alisa Vogt studiert Psychologie an der Universität Wien.

*Name von der Redaktion geändert

 

AutorInnen: Theresa Kaar, Alisa Vogt