Bekennt sich die Universität zur Mitverantwortung?
progress: Begeben wir un in die Zeit direkt nach dem Krieg, ins Jahr 1946. Was war der Zustand an den Universitäten?
Herbert Posch: Charakteristisch für diese Zeit war der massive Anstieg von Student_innen, da kriegsbedingt nun mehreres Maturajahrgänge gleichzeitig an die Universität kamen. Außerdem war der Großteil der Universitätsinfrastruktur (Gebäude, Labors, Hörsäle, Bibliotheken, ...) stark beschädigt, wobei die Renovierungsarbeiten bis 1951 andauerten. Wissenschaft und Lehrende waren stark NS-belastet: Die Studienbedingungen würde ich als „worst case“ beschreiben.
Wie kann man sich die Umstände in der Professor_innenschaft vorstellen?
Die Professor_innenschaft war hochgradig belastet, so waren rund 75 % der Lehrenden nicht zumutbar für eine demokratische Gesellschaft. Vorrangig in ideologienahen Fächern, wie den Geisteswissenschaften, aber auch in der Medizin, war der Anteil an NSDAP-Mitgliedern hoch. Ebenso in jenen Fächern, die erst in der Zeit des Nationalsozialismus gegründet wurden, wie Publizistik, Theaterwissenschaft, Sportwissenschaft oder Volkskunde.
Was waren die ersten Schritte der Universität zur Entnazifizierung des Lehrkörpers?
Durch den großen Zuwachs an Studierenden und einige Ausschlüsse von Professor_innen gab es viel zu wenig Personal. Die Universität hat aber nicht die vertriebenen jüdischen Professor_ innen zurückgeholt, sondern auf das Personal von vor 1938 zurückgegriffen, aus dem konservativ-katholisch austrofaschistischem Milieu, oder sich bemüht, NS-Belastete rasch wieder zu integrieren. Ein anschauliches Beispiel ist der Chirurg Prof. Leopold Schönbauer, der sozusagen mit allen Regimen konnte. Er war für das demokratische Österreich genauso untragbar wie unverzichtbar. Einerseits war er NSDAP-Mitglied (-anwärter) und an seiner Klinik wurden Zwangssterilisierungen durchgeführt, andererseits galt er als behandelnder Arzt von Vizekanzler Adolf Schärf, wie auch von Generälen der Besatzungsmächte, als unersetzlich. Folglich wurde für ihn ein Ausnahmeparagraph in das NS-Verbotsgesetz 1945 aufgenommen, um ihn nicht entlassen zu müssen. Mit ihm sollten dadurch einige wenige Expert_innen ebenfalls vorzeitig reintegriert werden. Bis 1951 werden allerdings die meisten wegen NSBelastung entlassenen Professor_innen wieder integriert, sodass es nur noch wenige waren, die nach Abzug der Besatzungsmächte noch nicht wieder zugelassen waren.
Wie konnten so viele Lehrende der Entnazifizierung entkommen?
Der erste Universitätsrektor nach dem Krieg, der Verfassungsjurist Ludwig Adamovich, war Professor und Justizminister im Austrofaschismus und sollte 1945 als Garant für Demokratie stehen. Österreich musste entnazifizieren und beweisen, demokratiefähig zu sein, um staatliche Souveränität und den Staatsvertrag zu bekommen. Ich würde sagen, man hat es getan, weil man musste. Es war mehr Pflicht als eigenes Anliegen, weshalb die Bestrebungen mit abnehmenden Druck der Besatzungsmächte nachließen. Die Verurteilungen erfolgten über ein Formalkriterium, Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gruppierungen. Aber nicht nach Überzeugung, denn das konnte keiner überprüfen.
Wann hat Ihrer Meinung nach die „wirkliche“ Aufarbeitung der Universität auch auf ideologischer Ebene begonnen?
Im Jahr 1988 gab es zwei entscheidende Ringvorlesungen an der juristischen und geisteswissenschaftlichen Fakultät, organisiert von engagierten linken Assistent_innen. Das waren Pionierarbeiten in Selbstbeauftragung, die die Geschichte der Universität von 1938 bis 1945 erstmalig öffentlich aufarbeiteten. Das passierte jedoch im Rahmen der Lehrfreiheit und nicht im Auftrag der Universitätsleitung. Erst 1998 wurde an der medizinischen Fakultät eine Gedenktafel aufgehängt, die erstmals von der Mitverantwortung der Universität an der Vertreibung der Lehrenden und Studierenden im Nationalsozialismus sprach. Im selben Jahr wurde erstmalig der anatomische Atlas des NS-Anatomen und Rektors Eduard Pernkopf im Auftrag des Senats aufgearbeitet.
Wie steht die Universität heute zu ihrer Geschichte?
Da hat die Universität eine klare und unmissverständliche Position bezogen, sie bekennt sich heute ganz klar zur Mitverantwortung, forscht und zieht Schlüsse aus der Vergangenheit. Genau dafür gibt es seit 2006 das „Forum für Zeitgeschichte an der Universität Wien“, um die Vergangenheit aktiv aufzuarbeiten.
Ist der Prozess heute abgeschlossen?
Nein. Je detaillierter man auf die Vergangenheit schaut, desto weniger kann der Prozess abgeschlossen werden. Es ist aber vor allem auch wichtig, daraus Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen und sich heute mit Werten wie Demokratie und Solidarität zu beschäftigen. Ich habe keine Patentlösung dafür, sicher ist aber, dass es dafür neue Formen und Erzählungen braucht. Die Universität ist der richtige gesellschaftliche Ort, diese in Forschung und Lehre zu entwickeln und zu vermitteln.
Katja List studiert Mathematik und Geographie auf Lehramt an der Universität Wien.