Angefeindet im Parlament

  • 13.07.2012, 18:18

PolitikwissenschaftlerInnen der Universität Wien beschäftigten sich in einem Projekt mit der Geschichte jüdischer Abgeordneter im österreichischen Parlament von 1861 bis 1938.

PolitikwissenschaftlerInnen der Universität Wien beschäftigten sich in einem Projekt mit der Geschichte jüdischer Abgeordneter im österreichischen Parlament von 1861 bis 1938.

Als der Jüdische Klub 1907 im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats antrat, um laut eines Artikels der Jüdischen Zeitung für „Rechte, Interessen und die Wohlfahrt des jüdischen Volkes“ sowie gegen „alle von welcher Seite immer kommenden Angriffe auf das Judentum“ zu kämpfen, stellte dies zwar eine bis dahin ungekannt selbstbewusste Organisations- und Artikulationsform „jüdischer“ Anliegen dar, aber keinesfalls den Beginn jüdischer Beteiligung an der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus. PolitikerInnen, die dem jüdischen Glauben angehörten oder angehört hatten, waren an der Entstehung und Entwicklung parlamentarischer Institutionen von Anfang an beteiligt und haben diese entscheidend mitgeprägt. Während das Wirken von Juden und Jüdinnen in Kunst, Kultur und Wissenschaften einigermaßen gut aufgearbeitet ist, ist ihr Anteil an Österreichs politischer Geschichte, insbesondere an der Geschichte des Parlamentarismus, bisher wenig beleuchtet worden.
Am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien widmen sich daher zwei Forschungsprojekte in Kooperation mit dem Parlament der politischen Integration von Juden und Jüdinnen in Österreich, sowie ihrer Repräsentation und Partizipation im Abgeordnetenhaus des Reichsrats und im Nationalrat der 1. Republik. Zu diesem Zweck wurden zunächst die Biographien jüdischer Abgeordneter recherchiert und in einer Datenbank aufbereitet. Ziel der Forschung war nicht die Sammlung detaillierter Einzelbiographien, sondern ein Brückenschlag zwischen Biographien und den sozialen und politischen Strukturen und Verhältnissen des Untersuchungszeitraums. Das gesammelte Material dient darüber hinaus der Reflexion unterschiedlicher Bedeutungsgehalte der Begriffe „jüdisch“ und „Judentum“. 

Kein einheitliches Jüdinnen- und Judentum. So fallen die sozialen, politischen, kulturellen, nationalen und auch religiösen Unterschiede zwischen den rund achtzig Abgeordneten ins Auge, die aufgrund der projektbezogenen Kriterien (Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde bei der Geburt) in die Datenbank aufgenommen wurden. Unter dem Sammelbegriff „jüdische Abgeordnete“ finden sich orthodoxe Rabbiner, deutsch-liberale UnternehmerInnen, konservative Polnisch-Nationale, ZionistInnen und Jüdisch-Nationale, sowie konfessionslose SozialdemokratInnen. Diese Bandbreite stellt Vorstellungen eines einheitlichen Jüdinnen- und Judentums in Frage und verweist auf vielfältige Kooperationen und Konflikte abseits der Trennlinie jüdisch/nicht-jüdisch. Dennoch waren jüdische Abgeordnete nicht in allen parlamentarischen Fraktionen und in allen Phasen der Entwicklung des Parlamentarismus gleichermaßen vertreten. Demokratisierung von politischem System und Wahlrecht führte im Untersuchungszeitraum zur Ausweitung der Repräsentativität parlamentarischer Institutionen durch Integration von sozialen Schichten, Nationalitäten, Konfessionen und Geschlechtern. Diese Prozesse beeinflussten Formen und Ausmaß der Repräsentation der jüdischen Bevölkerung im Parlament entscheidend.

Neue Heimat Sozialdemokratie. Die anfängliche Konzentration jüdischer Abgeordneter in liberalen Fraktionen wurde durch den Aufstieg moderner Massenparteien, zunehmenden Nationalismus und Antisemitismus aufgeweicht. Ab den 1880er Jahren führte verstärkte Repräsentation slawischer Nationalitäten dazu, dass immer mehr jüdische Abgeordnete in national definierten Fraktionen, besonders im Polenklub, vertreten waren. Mit den weiteren Demokratisierungsschüben 1897 und 1907 kam es einerseits zu einem Zuwachs jüdischer sozialdemokratischer Abgeordneter und andererseits zum Aufstieg der Jüdischnationalen Partei. Der Zusammenbruch der Monarchie, die Errichtung einer demokratischen Republik und die Folgen des Ersten Weltkrieges veränderten jüdische Partizipation im österreichischen Parlament neuerlich. Fast alle jüdischen, konvertierten oder vom Jüdinnen- und Judentum ausgetretenen Abgeordneten waren in dieser Phase SozialdemokratInnen. Dies hatte einerseits mit der Verarmung und Proletarisierung von Teilen der jüdischen Bevölkerung zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass alle anderen parlamentarischen Kräfte mehr oder weniger antisemitisch ausgerichtet waren.
Obwohl also aufgrund von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen historische Verbindungen zwischen österreichischen Juden und Jüdinnen und bestimmten politischen Fraktionen bestanden, stellten die untersuchten Abgeordneten zu keinem Zeitpunkt eine einheitliche politische, nationale oder soziale Gruppe dar. Vorstellungen eines homogenen Judentums waren auf Zuschreibungen von außen zurückzuführen. Stets bestanden Konflikte innerhalb der jüdischen Bevölkerung und zwischen jüdischen Abgeordneten über die Frage, welche Politik „jüdische Interessen“ am besten vertreten könne. Die Bedeutung von „Jüdisch-Sein“ war daher auch im parlamentarischen Kontext stets umkämpft.

Parlamentarismus und Antisemitismus. Eine Beschäftigung mit dem Themenkomplex Jüdinnen- und Judentum und Parlamentarismus bedeutet notgedrungen auch eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Das Parlament war ein zentraler Politikraum, in dem sich die Transformation vom christlich geprägten Antijudaismus zum modernen Antisemitismus als politische Ideologie vollzog. Deutsch-nationale AntisemitInnen konnten 1885 einige Mandate erringen, Antisemitismus blieb aber nicht auf diese beschränkt und wurde bald zum fixen Bestandteil des parlamentarischen Alltags. Antisemitische Rhetorik wurde häufig als Code für Antiliberalismus, Antisozialismus oder Antiintellektualismus eingesetzt. Sie durchzog Debatten aus unterschiedlichsten Politikfeldern wie Universitäts-, Migrations- oder Gewerbepolitik und kam bei Nationalitätenkonflikten ebenso vor wie in Wahlrechtsdebatten. Außer dem Jüdischen Klub trat kaum eine Partei antisemitischen Tendenzen entgegen. Seine Auflösung 1911 war daher nicht das Ende jüdischer Repräsentation im Parlament, sehr wohl aber das Ende des vehementen, systematischen Einsatzes gegen antisemitische Anfeindungen.
 

AutorInnen: Saskia Stachowitsch