„Österreich hat den Paternalismus der Monarchie nie überwunden“
Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.
Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch! Zu Wort gekommen sind sie bereits im Artikel „Tag der (Mehr-)Arbeit“, nun haben wir genauer nachgefragt: Ein Interview mit Martin Mair vom Verein „Aktive Arbeitslose Österreich“ über technischen Fortschritt, Kapitalismus und Selbstbestimmung.
progress: Wie erklären Sie sich, dass es so etwas wie Arbeitslosigkeit überhaupt gibt? Wieso brauchen Menschen Arbeit, obwohl die Gesellschaft ihre Arbeit nicht braucht?
Martin Mair: Weil in einem kapitalistischen Staat die Produktionsmittel und das Geld nicht demokratisch organisiert und verteilt sind. Während die Wirtschaft ihre Strukturen und Vermögen immer weiter aufbaut und immer mehr Lebensbereiche ihren Kapitalverwertungsprozessen unterwirft, erhalten die ArbeiterInnen aufgrund des steigenden Machtungleichgewichts immer weniger und werden in ihren Handlungsmöglichkeiten stärker eingeschränkt. Sie müssen mehr Arbeit zu schlechteren Bedingungen auf sich nehmen, um ihren Arbeitsplatz überhaupt behalten zu dürfen.
Durch steigende Erwerbsarbeitslosigkeit können die ArbeiterInnen von den Unternehmen besser ausgebeutet werden. Der Staat wiederum ist auf die Steuern der ArbeiterInnen angewiesen, weil das Kapital im wahrsten Sinne des Wortes die Steuern umgeht. Obwohl Kapitaleinkommen die Lohnarbeitseinkommen zum Teil überholt haben, hängt die ganze Finanzierung des Sozialsystems und des Staates von der Kopfsteuer in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben ab.
Die Europäische Union versucht daher mit einem „Aktivierungsregime“ alle Menschen auf den freien Arbeitsmarkt zu drängen, um die Sozialausgaben weiter zu senken. So steigt vor allem das Angebot prekärer Jobs. Angenehmer Nebeneffekt für das Kapital ist, dass aufgrund steigenden Angebots der Preis der Arbeit sinkt. Für die Gesellschaft als Ganzes ist das eine brandgefährliche Abwärtsspirale, siehe Griechenland und Spanien. Dank technischem Fortschritt und internationaler Arbeitsteilung wäre eigentlich eine Arbeitszeitverkürzung auf 25 Stunden pro Woche längst machbar.
Wieso kommt uns der technische Fortschritt dann nicht entsprechend zugute?
Weil im Kapitalismus Eigeninteressen der UnternehmerInnen wichtiger sind als die Bedürfnisse der ArbeiterInnen und KonsumentInnen. Viele Produkte werden absichtlich so gebaut, dass sie schnell kaputtgehen oder es werden künstliche Abhängigkeiten geschaffen. Das heißt, Produkte sind nicht mehrfach verwendbar, mit anderen Produkten inkompatibel, sie veraltern rasch und können nicht repariert werden.
Durch das zwanghafte Konkurrenzregime wird erst recht unnötige Arbeit geschaffen. Es wird vieles vernichtet, das mühsam aufgebaut wurde, nur weil es nicht genug Gewinn gebracht hat. Es wird die Überproduktion vernichtet, um die Preise hoch zu halten. Neue Modelle steigern den Konsum künstlich, weil der Wachstumszwang im kapitalistischen Geldsystem angelegt ist. Die Gewinnerwartungen der KapitalbesitzerInnen müssen mit aller Gewalt erfüllt werden. Sogar die blanken Lebenskosten werden künstlich hoch gehalten, zum Beispiel Mieten, um die Gewinne auf Kosten anderer zu steigern und den Zwang zur Lohnarbeit zu erhöhen.
Durch Lohnarbeit und Konsum werden Menschen zugerichtet und isoliert. Der neueste Schrei ist Crowdworking, wo wir gar keine ArbeitskollegInnen mehr haben, sondern uns am globalen Arbeitsmarkt via Internet völlig anonym rund um die Uhr niederkonkurrieren.
Heißt das auch, dass Vollbeschäftigung im Kapitalismus immer ein Wunschtraum bleiben wird? Sie kennen die nächste Frage vermutlich: Was ist die Alternative?
Wir sagen klar, dass es innerhalb des Kapitalismus keine echte Lösung geben kann. Wichtig wäre, schrittweise ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen und die Arbeitszeit zu verkürzen. Wie schon Viktor Adler Ende des 19. Jahrhunderts feststellte, kann es revolutionär sein, wenn die Menschen Zeit haben, sich ohne Angst zu überlegen, was sie wirklich wollen.
Auf jeden Fall brauchen wir wieder echte politische Bewusstseinsarbeit, so wie sie in den vergangenen Jahrhunderten ArbeiterInnenbildungsvereine gemacht haben. So wie früher Produktions- und Konsumgenossenschaften gegründet wurden, wäre es notwendig, in solidarökonomischen Projekten Abhängigkeiten vom jetzigen System zu reduzieren und gemeinsames politisches und wirtschaftliches Handeln von Grund auf neu zu entwickeln. Dank Internet wäre nun eine vielseitige Information und Selbstorganisation möglich.
Österreich hat die zutiefst paternalistische Tradition der katholischen Monarchie nie wirklich überwunden. Demokratie wurde nicht erkämpft, sie war das Ergebnis zweier verlorener Weltkriege. Selbstverwaltungsprojekte waren leider immer nur Nischenprojekte. Eine Bildung zu echter, kritischer Selbstständigkeit ist überfällig, damit die Menschen die Bevormundung durch die Bürokratie und die erstarrten Parteiapparate überwinden. Demokratie kann nie auf Dauer an Parteien delegiert werden.
Wie fördern die Aktiven Arbeitslosen die Bewusstseinsbildung und Selbstbestimmung?
Wir wollen eine längerfristige Strategie fahren. Mittels Aufklärung der Erwerbsarbeitslosen über ihre Rechte versuchen wir schrittweise einen Raum für den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und politisches Bewusstsein aufzubauen. Vom „Erste Hilfe Handbuch für Arbeitslose“ – das erstmals umfassend die Rechte der Arbeitslosen und die Fallstricke bei AMS & Co. darstellt – ist bereits die dritte Auflage in Arbeit.
Wir haben nun auch eine Arbeitslosenakademie gegründet und versuchen Geld für erste Projekte über die Österreichische Gesellschaft für politische Bildung aufzustellen. Wir haben auch schon erste Themen wie das Sanktionsregime beim AMS und das Aktivierungsregime der EU einer politisch interessierten Wissenschaft präsentiert.
Der Kampf um die Rechte der Erwerbsarbeitslosen ist im Kapitalismus ein zentraler Kampf. Er ist letzten Endes ein Kampf um die Rechte aller unter dem jetzigen System leidenden Menschen mit und ohne Erwerbsarbeit. Wir verstehen uns daher als eine Avantgarde einer international orientierten Gewerkschafts- und Sozialbewegung 2.0, die in all ihrer Vielfalt geeint – wie einst die Internationale propagiert hatte – das Menschenrecht erkämpft. Auch wenn es am Anfang sehr mühsam ist, so bleibt uns nichts anderes mehr übrig.
David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.