„Mittendrin“ für einen Tag
In dem Hausprojekt „VinziRast“ leben StudentInnen und ehemalige Obdachlose in Wohngemeinschaften unter einem Dach. Lisa Zeller und Margot Landl haben für progress online die innovative Einrichtung besucht.
In dem Hausprojekt „VinziRast“ leben StudentInnen und ehemalige Obdachlose in Wohngemeinschaften unter einem Dach. Lisa Zeller und Margot Landl haben für progress online die innovative Einrichtung besucht.
Neunter Wiener Gemeindebezirk, Lackierergasse Ecke Währinger Straße: Ein unauffälliges kleines Lokal mit dem Namen „mittendrin“ im Erdgeschoß eines großen alten Hauses. Es ist Teil der „VinziRast-mittendrin“, einer Einrichtung, in der StudentInnen und ehemalige Obdachlose gemeinsam in Wohngemeinschaften leben. Was für viele abschreckend klingen mag, ist für die StudentInnen, die dort leben, eine Chance auf eine außergewöhnliche Erfahrung. „Die Idee für dieses Projekt ist aus der #unibrennt-Bewegung, also den Studierendenprotesten 2009, entstanden“, erklärt die Leiterin des Hauses Cecily Corti. „Viele Obdachlose sind damals in die Uni gekommen, um dort zu übernachten.“ Die Geschichtestudentin Karin Stanger war 2009 bei #unibrennt sowie bei der Entstehung der VinziRast dabei. „Viele von ihnen hatten das Problem, dass sie keinen europäischen Reisepass hatten und von einigen Obdachloseneinrichtungen abgewiesen wurden.“ Zu Beginn habe es innerhalb der Protestbewegung Diskussionen gegeben, ob sie bleiben können, meint sie. „Es gab dann recht schnell Konsens darüber, dass es sich um einen gesamtgesellschaftlichen Protest handelt. Langsam wurden sie Teil des Protests.“ Dabei haben die Obdachlosen sich auch selbst etwa in der Volxküche des Protests engagiert. „Als zu Beginn des Winters klar wurde, dass der Protest zu Ende geht, war unklar, was nun passieren würde. Einfach zurück auf die Straße, nur weil der Protest vorbei war, ging nicht.“ Die Idee für ein solches Projekt wie die VinziRast reifte. Sie traten an Cecily Corti und Hans Peter Haselsteiner heran, der den Kauf des Hauses zu diesem Zweck ermöglichte. Es wurde dann mit vielen privaten Spenden und mit Hilfe mehrerer Kredite vom Architekturbüro Gaupenraub generalsaniert. Auch Studierende, ehemals Obdachlose und ehrenamtliche MitarbeiterInnen halfen bei den umfangreichen Arbeiten mit.
Inklusion statt Reintegration
500 bis 1000 Obdachlose leben momentan in Wien und die Nächte im Winter sind kalt. Doch für viele Schlafstellen gibt es Beschränkungen: Kein Alkohol, keine Hunde, niemand aus dem Ausland. In der VinziRast-Notschlafstelle in Meidling, die bereits im April 2004 eröffnet wurde, gibt es so etwas nicht. Für Cecily Corti nichts Besonderes: „Wir verstehen unser Engagement nicht als „gutmenschlich“, sondern finden es ganz normal, das zu tun was zu tun ist. Wir haben nicht den Anspruch, diese Menschen in die Gesellschaft zu reintegrieren. Wir wollen sie inkludieren, ihnen ein warmes Bett zur Verfügung stellen und ihnen vor allem mit Respekt begegnen. Das ist alles.“ Von Anfang an gab es keine öffentlichen Gelder, vor allem auch, da die Behörden der Ansicht waren, das sei eine Aufgabe für „ExpertInnen“. Doch genau das soll es laut Cecily Corti nicht sein, sondern jeder und jede Beteiligte lernt unendlich viel dabei. Wir profitieren alle: „Es geht doch darum, was heißt Mensch sein für mich? Wie verhalte ich mich Fremden gegenüber? Wie gehe ich mit Urteil, mit Vorurteil um? Wir setzen uns keine konkreten Ziele, es ist ein Projekt mit offenem Ausgang. Vielleicht eine Versuchsbühne für eine humanere Zukunft“.
Seit Juni 2013 ist das Haus in der Währingerstraße jetzt in Betrieb. Die Studierenden wurden aus Bewerbungen ausgewählt, die Obdachlosen durch Gespräche und Kontakte aus der Notschlafstelle VinziRast. Bis jetzt gab es wenige Konflikte und wenige AussteigerInnen. Natürlich gibt es Spannungen, aber gerade darum geht es ja: Wie kann man diese lösen und neue Formen der Verständigung finden? Es stehen Zweier- und Dreierwohngemeinschaften zur Verfügung, im Moment sind 24 von 27 verfügbaren Plätzen belegt. Zusätzlich attraktiv wird das Wohnprojekt durch die unmittelbare Nähe zur Universität Wien, die Mieten belaufen sich auf 300 bis 350 Euro im Monat. Im Moment mangelt es an Studierenden, besonders an Studentinnen. Lediglich sechs Frauen leben im Augenblick in der VinziRast, weshalb auch vermehrt nach Bewohnerinnen gesucht wird.
Viel Platz für Gemeinschaft
Jede/r der BewohnerInnen hat ein eigenes Zimmer innerhalb der Wohneinheiten, doch besonderer Wert wird auf die Gemeinschaftsräume gelegt. Unter dem Lokal „mittendrin“ befindet sich ein Veranstaltungsraum, in dem einmal im Monat ein Filmabend stattfindet sowie des Öfteren auch Lesungen, Vorträge, Konzerte etc. An der Tür einer der Stockwerksküchen hängt die Film-Ankündigung für die Woche nach dem Zeitpunkt unseres Besuchs: „Invictus“, ein Film über Nelson Mandela. Die BewohnerInnen können in den Stockwerksküchen sowie in den Küchen der Wohneinheiten gemeinsam kochen, was auch viel in Anspruch genommen wird. Sie sind selbst verantwortlich für die Sauberkeit im Haus, einmal pro Monat ist eine Wohneinheit mit Großputz dran. Der vermutlich beliebteste Gemeinschaftsraum ist die geräumige Dachterrasse, auf der ein kleiner von Studierenden der Universität für Bodenkultur gespendeter Dachgarten gedeiht. Mangold, Dill, ausgewachsener Kohl und Ringelblumen sprießen hier in der außergewöhnlich warmen Januarsonne. Der Raum im Dachgeschoss wird auch für Veranstaltungen gegen eine Spende zur Verfügung gestellt, am Vortag fand eine Podiumsdiskussion statt, die Sessel stehen noch da. Der Tischfußballtisch ist momentan in eine Ecke verbannt. Auch sämtliche Möbel für das ganze Heim sind gespendet. Weitere Gemeinschaftsräume sind ein Studienraum mit zwei Computern und einer ansehnlichen Bibliothek an Büchern und Spielen. Im Moment befinden sich nur zwei Bewohner darin, aber zur Prüfungszeit wird er deutlich intensiver genutzt. Im Keller des Hauses befinden sich die Waschküche und je eine Textil-, Metall- und Holzwerkstätte. Dadurch soll einerseits die interne Gemeinschaft gefördert und den BewohnerInnen eine Beschäftigung geboten werden, andererseits wird aber auch die Kommunikation nach außen ermöglicht, indem beispielsweise Fahrräder zum Reparieren hierher gebracht werden.
Eine gemeinsame Sprache für alle finden
Die Türen der Wohneinheiten sind zumeist offen, als wir ins Haus kommen, treffen wir den deutschen Psychologiestudenten Gereon, der gerade putzt. „Wo ist dein Mitbewohner? Hilft er dir?“, fragt ihn Frau Corti. „Ich weiß nicht… Trinken?“, antwortet Gereon mit einem Augenzwinkern. Prinzipiell versteht er sich gut mit seinem tschetschenischen Mitbewohner, nur beim Putzen kommt es immer wieder zu Kabbeleien. Er hat über die „KRIPS“ (Kritische PsychologiestudentInnen) von dem Projekt erfahren und nachdem er mit seiner vorigen WG unzufrieden war, da die wie er sagt, „mehr Klischees von Obdachlosen erfüllt hat, als ich hier tagtäglich zu Gesicht bekomme“, beschloss er, sich für das Heim zu bewerben. Er sieht das Verhältnis zu seinem Mitbewohner als beidseitig befruchtend, da sie viel über Religion, vor allem über Buddhismus und Islam diskutieren: „Wir unterhalten uns oft stundenlang und da wir aus verschiedenen Kulturen stammen und verschiedenen Religionen angehören, kommt es da oft zu Differenzen und neuen Erkenntnissen.“ Nur gemeinsam kochen können sie nicht. „Ich bin Veganer, für ihn hingegen ist Fleisch Ausdruck von Männlichkeit“, schmunzelt Gereon.
In Carmens Dreier-WG gestaltet sich das Putzthema hingegen völlig anders. Die Studentin der Internationalen Entwicklung wohnt hier gemeinsam mit dem ehemaligen Obdachlosen Heimo und einer weiteren Studentin, Christine. „Unser Mitbewohner putzt sehr gerne. Die Messies sind im Heim meiner Meinung nach die Studies“, lacht sie. Auch sie hat über den Email-Verteiler ihrer Studienvertretung von dem Projekt erfahren. Sie schätzt an dem Heim, dass sich alle persönlich kennen und die viele gemeinsame Zeit, die man miteinander verbringt. Sie mag auch die offenen Türen: „Es ist noch nie etwas weggekommen. Am Anfang habe ich meine Tür immer abgeschlossen, mittlerweile nicht mehr. Nur das Geschirr verteilt sich im ganzen Haus“. Eine besondere Rolle spielt dabei die Küche Eins. „Wenn das Lokal unten zumacht, kommt das übrige Essen in Küche eins, welche dann zum Hotspot wird“, erzählt uns Carmen. Essen wird häufig geteilt, besonders wenn zu viel da ist – auch Gereon hat bereits zehn Packungen gedumpsterten Räucherlachs im ganzen Haus verteilt. Einmal pro Woche kann, wer will, gemeinsam musizieren. Auch FreundInnen herzubringen ist kein Problem. In Stockwerks- und Hausrunden einmal pro Monat können Anliegen besprochen werden. Aber auch sonst bleiben Carmen und andere BewohnerInnen oft lange in die Nacht hinein gemeinsam in den Küchen sitzen, um zu plaudern. Abschließend sagt Carmen noch: „Es ist schön, dass viele verschiedene Leute hier wohnen. Und die größte Herausforderung ist es wohl, eine gemeinsame Sprache für alle zu finden.“
Interessierte können sich gerne um einen Wohnplatz bewerben unter vinzirastmittendrin@gmail.com .