„Ein unglaublich reicher Kontinent“
In afrikanischen Ländern hat Zivilgesellschaft nichts mit Gutmenschen zu tun, sondern mit (Über-)Lebensstrategien. „Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter“ meint die Soziologin Veronika Wittmann vom Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
In afrikanischen Ländern hat Zivilgesellschaft nichts mit Gutmenschen zu tun, sondern mit (Über-)Lebensstrategien. „Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter“ meint die Soziologin Veronika Wittmann vom Zentrum für soziale und interkulturelle Kompetenz an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
progress: Es ist vermutlich sehr verallgemeinernd, von „der afrikanischen Zivilgesellschaft“ zu sprechen. Was kann Zivilgesellschaft übertragen auf afrikanische Länder bedeuten?
Veronika Wittmann: Grundsätzlich einmal halte ich es für unmöglich Konzepte von Zivilgesellschaft, die in Europa und Nordamerika entstanden sind, auf einen Kontinent wie Afrika zu übertragen. Die Rahmenbedingungen unter denen zivilgesellschaftliche Bewegungen dort handeln, sind ganz andere. Die Mehrheit der so genannten fragilen Staaten, wo der Staat nicht mehr das Gewaltmonopol hat, liegt in Afrika. Und ohne jetzt wieder ein klassisches Bild reproduzieren zu wollen, es ist ein Faktum, dass von den 48 ärmsten Ländern der Welt 35 in Sub-Sahara-Afrika liegen. Das bedeutet beispielsweise Analphabetismus oder dass 80 % des Kontinents nicht elektrifiziert sind. Dann muss man natürlich die immens hohen Raten an HIV-positiven Menschen berücksichtigen. Es sind andere Kämpfe, die geführt, und andere Mittel die eingesetzt werden. Außerdem ist es tatsächlich absolut verallgemeinernd von „der afrikanischen Zivilgesellschaft“ zu sprechen. Afrika, das sind 54 Länder mit unterschiedlichen historischen Entstehungsprozessen und gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen dessen was man unter einer Zivilgesellschaft verstehen kann.
progress: Welche Funktion erfüllen zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen in einzelnen afrikanischen Ländern?
Wittmann: Da muss man unterscheiden nach der Form der Organisation. Es gibt die ganze Bandbreite der Non Governmental Organisations. Die erfüllen durchaus eine Rolle des Watch Dog, drängen Regierungen auf die Einhaltung und Implementierung von Gesetzen, machen auf Missstände in einer Gesellschaft aufmerksam und so weiter. Diese NGOs sind darin zu unterscheiden, ob sie Regierungsgelder annehmen oder ob es NGOs sind, die vom Norden Donor-Funding erhalten. Hier kann dann natürlich die kritische Frage gestellt werden: wer bestimmt die Themen? Ein anderer wichtiger Teil von Zivilgesellschaft in Afrika sind Community-Based-Organisations, die so genannten CBOs. Das sind beispielsweise kleine lokale Radiostationen, die es vielerorts gibt, die unglaublich wichtig sind als Informationsquelle, um Menschen, die nicht lesen und schreiben können, zu erreichen. Das passiert in lokalen Sprachen. Man darf nicht vergessen, Afrika ist der sprachenreichste Kontinent der Welt. Hier erfüllen CBOs eine sehr wichtige Funktion zwischen NGOs und der dritten Gruppe der Zivilgesellschaft in afrikanischen Ländern, den Graswurzel-Bewegungen. Bei uns würde man sie als Basisbewegungen bezeichnen. Das sind beispielsweise oft Frauengruppen, die sich zusammenschließen, um mit bescheidenen Mitteln Aktivitäten zu setzen. Da liegt eine unglaubliche Kraft dahinter, diese Gruppen sind eigentlich die driving force. Aus Müll werden Kunstgegenstände hergestellt und verkauft. Frauen besetzen Gerichtsgebäude, wenn Fehlurteile gefällt werden. Wenn in Simbabwe Lebensmittelpreise erhöht werden, sind es Frauen, die sich auf die Straße stellen und demonstrieren. Es sind immer wieder Frauengruppen, die halte ich auch für die stärkste politische Bewegung am ganzen Kontinent.
progress: Füllen NGOs, CBOs und Grass-Roots-Organisations auch Versorgungslücken, die der Staat hinterlässt?
Wittmann: Ja. Ganz wenige Länder zum Beispiel haben eine staatliche Altersversorgung. Da kommen andere Netzwerke wie Großfamilien ins Spiel. Familie ist in vielen afrikanischen Ländern das, was wir als Netzwerk bezeichnen würden, weil es 200, 300 Personen umfasst, die zahlreiche Aufgaben übernehmen, die bei uns in eine öffentliche Sphäre gerückt sind. Ein anderes wichtiges Thema im südlichen Afrika ist HIV/Aids. Botswana hat eine Rate von 38 Prozent HIV-positiven Menschen. Viele von Frauen organisierte Grass-Roots-Bewegungen übernehmen die Betreuung der großen Anzahl an Aidswaisenkindern. Das sind klassische Aufgaben, die bei uns staatlicher Natur sind. In Sub-Sahara Afrika, wenn das nicht Frauen machen würden, würde es gar niemand machen.
progress: Zivilgesellschaft in afrikanischen Ländern ist also weniger eine bewusst wahrgenommene dritte, vierte Macht im Staat, sondern schlicht und einfach das alltägliche Leben?
Wittmann: Ja, das ist richtig ausgedrückt. Weil es ja oft auch eine Frage des Überlebens ist. Kämpfen wir dafür, dass wir sauberes Trinkwasser haben oder nicht?
progress: Welchen Stellenwert haben kulturelle Initiativen innerhalb von Zivilgesellschaft?
Wittmann: Ich denke, einen großen. Es gibt in Uganda eine Musiktruppe, die „Ndere-Troup“, die in einem Kulturzentrum in Kampala arbeitet, welches mit finanzieller Unterstützung der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist. Die MusikerInnen und TänzerInnen informieren Menschen in ländlichen Gebieten mit ihren Auftritten zum Beispiel über Verhütung. Denn ein Informationsblatt nützt nichts, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Gesang und Tanz sind wichtige Informationsquellen, sehr viel Aufklärungsarbeit läuft über diese kulturellen Ausdrucksformen. Kulturelle Aktivitäten spielen aus einem weiteren Grund eine wichtige Rolle. Ich denke, dass gerade Kultur ein Bereich ist, wo sich der globale Süden und der globale Norden auf einer relativ gleichwertigen, partnerschaftlichen Ebene begegnen können. Das ist oft nicht der Fall, zum Beispiel im ökonomischen Bereich. Afrika ist nach wie vor primär ein Agrarproduzent, und am Weltmarkt haben Agrarprodukte einen geringen Stellenwert.
progress: Kann das Berichten über zivilgesellschaftliche Bewegungen vor Ort dem Bild, das viele Menschen von Afrika haben, etwas hinzufügen?
Wittmann: Ja! Menschen zu zeigen, die für sich sprechen und ihre Rechte einfordern, kann dem oft existierenden Bild von unterdrückten Menschen etwas entgegen setzen. Afrika, das ist oft ein stereotypes Bild von einerseits Katastrophen und andererseits Safaris. Und dazwischen viele arme Menschen. Afrika ist auch ein unglaublich reicher Kontinent und hat ein immenses Potential an dem, was man als Zivilgesellschaft bezeichnen kann. In Südafrika habe ich eine Frau kennen gelernt, die wäre ein Paradebeispiel. Sie kann nicht lesen und schreiben, aber sie hat in Zeiten der Apartheid Widerstand geleistet. Ihr größter Traum ist ein Haus aus Backsteinen statt Wellblech und ein Dach über diesem Haus. Und das ist auch eine Frau, die zusammen mit anderen das Bürgermeisteramt in Kapstadt besetzt. Die geht mit anderen Frauen 40 Kilometer zu Fuß dorthin, weil sie sich keinen Transport leisten können. Als sie keine Wasserleitung in ihrem Township bekommen haben, sind sie so lange gemeinsam im Bürgermeisteramt gesessen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Und von diesen Beispielen gibt es sehr viele mehr.
Dr. Veronika Wittmann besuchte im Rahmen zahlreicher Forschungs- und Studienaufenthalte neun Länder des afrikanischen Kontinents.