Vanessa Gaigg

Gespenstische Gewalt

  • 23.03.2015, 21:35

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

progress: Die Berichterstattung rund um den Akademikerball (früher: WKR-Ball) ist meist stark auf die Gegenproteste fokussiert. Warum sind Burschenschaften und Rechtsextremismus nicht öfter Thema?

Michael Staudigl: Es gibt sehr wohl einen Diskurs, der das ganze Spektrum – von den Burschenschaften bis hin zu Rechtsextremismus – permanent reflektiert. Nachhaltige Präsenz in den Medien hat dieser aber nicht. Sichtbarkeit spielt aber eine Rolle. Die Frage dabei ist, ob es einen Zwang zur Sichtbarkeit gibt beziehungsweise inwiefern diese Zustände fast schon gewaltsam sichtbar gemacht werden müssen.

Ist es gerechtfertigt gegen strukturelle Gewalt, die auch Burschenschaften ausüben, gewaltsam zu protestieren?

Strukturelle Gewalt ist ein notorisch umstrittener Begriff, weil überhaupt nicht klar ist, was er bezeichnen soll. Es war für den sozialwissenschaftlichen Mainstream lange klar, dass unter Gewalt intendierte körperliche Verletzung zu verstehen ist. (Sprachwissenschaft und feministische Ansätze definieren meist jede Form von Zwang als Gewalt, Anm.) Vielleicht muss man zwischen „Gewalt“ und „gewaltsam“ unterscheiden. Der adjektivistische Gebrauch erscheint sinnvoller beziehungsweise treffsicherer. Man kann damit auch die ausschließenden Effekte von Strukturen und nicht nur direkte, angreifende Gewalt fassen. Er zeigt an, auf welche Art und Weise Gewalt in ein System eingebaut ist. Alles läuft darauf hinaus, dass man eine körperliche und eine diskursive Seite von Gewalt anerkennt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Burschenschaften strukturelle Gewalt verkörpern.

Von Anti-Akademikerball-Seite wurden die Proteste oft damit legitimiert, dass der Ball als Symbolbild für die Gewalt steht, die auf bestimmte Gruppen wie Migrant_innen oder Jüd_innen strukturell ausgeübt wird.

Es geht also darum, darauf hinzuweisen, dass es Gewaltverhältnisse gibt, die dafür verantwortlich sind, dass „andere“ ohne größere Probleme oder sozialen Widerstand zu Opfern werden können: von Übergriffen oder rassistischer Gewalt zum Beispiel. Burschenschaften und die Art und Weise, wie diese politisch mobilisieren und argumentieren, sind mitverantwortlich dafür, wie Menschen als „andere“ etikettiert werden. Man weiß, dass Menschen gegenüber bestimmten Personen indifferenter sind als gegenüber anderen, wenn diese beispielsweise in einem Park verprügelt werden. Vielleicht kann man hier von struktureller Gewalt sprechen, die gleichgültig macht und betäubt. Dann wären Burschenschaften ein exemplarischer Fall von Akteuren, die ein feindliches Klima mit ermöglichen.

Also Burschenschaften als Mitverantwortliche an Missständen und rassistischen Übergriffen?

Ja, genau. Es gibt zwei Dimensionen: Einerseits die Erzeugung eines Klimas, in dem gegenüber dem einen oder der anderen Indifferenz und Apathie herrschen. Andererseits führt die Legitimation von Gewalt auch darüber hinaus. Zu erklären, wie und wann sich der Übergang von einem Szenario, in dem Gleichgültigkeit vorherrscht, zu einem Szenario, wo wirklich Gewalt ausgeübt wird, vollzieht, ist schwierig. Es stellt sich die Frage: Wo, und vor allem wie wird Gewalt plötzlich eine Handlungsoption?

Gibt es jemals eine Rechtfertigung dafür, sich für Gewalt zu entscheiden?

Es gibt eine Form der Gewalt, die vollständig gerechtfertigt wird, auch im modernen Recht: die Notwehr. Es gibt aber auch, wenn wir Walter Benjamin folgen, die Unterscheidung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Letztere ist seinen Worten zufolge „gespenstisch“, denn sie schafft sich die Ausnahmezustände, in denen sie gewaltsam reagieren darf, selbst – und zwar gesetzlich legitimiert.

Man sieht mittlerweile auch, dass Gewalt vielfach in das Funktionieren von Gesellschaften eingearbeitet ist, dass sie also nicht schlichtweg als das Andere von kulturellem Sinn und gesellschaftlicher Ordnung verstanden werden darf. Ein einseitiger Gewaltbegriff lässt sich also nicht mehr halten, oder vielleicht nur dann, wenn man juristisch von Sachverhalten auf Tatbestände schließen muss. Das heißt aber nicht, dass man damit ein umfassendes Bild hätte; das wissen auch die Juristen und Juristinnen.

Die große Frage ist: Wo findet sich der Ausnahmezustand, der die Notwehr begründen kann? Wie lässt er sich rechtfertigen? Er muss immer als eine Form der Bedrohung für die Ordnung verstanden werden. Und wenn man näher hinsieht, so finden sich immer Imaginationen von Unordnung, die der ideale Träger von Gewaltrechtfertigungen sind. Egal, ob man jetzt die „Reinheit des Volkskörpers“ verteidigt oder vom „Clash of Civilisations“ spricht. Klarerweise gelingt die Legitimierung nie vollständig, sie hat immer blinde Flecken. Ich kann sagen, Gewalt ist das letzte Mittel, das ich ergreifen kann. Ich kann auch sagen, ich ergreife Gewalt im Blick darauf, die Gewalt zu beenden.

Zum Beispiel beim Aufzeigen von Diskriminierung und Missständen?

Damit eröffnet man ein spannendes Fragefeld: Was sind unbedingte Ansprüche, ohne die sich ein Menschenleben nicht realisieren lässt – sozusagen die Minimalbedingungen eines lebbaren Lebens? Das ist eine Sache des Kampfes um Anerkennung. Inwiefern ich mit Gewalt darauf aufmerksam machen darf, dass ich – oder andere – zählen, ist eine heikle Angelegenheit. Da muss man gewisse praktische Sicherheiten einziehen.

Wäre es eine Form solcher praktischer Sicherheit, zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Sachen zu unterscheiden?

Allerdings. Eine Demokratie ist genau der Ort, an dem auch die, die keine Stimme haben, vernehmbar gemacht werden können und müssen. Der originäre Ort für jene, die in den klassischen Foren nicht gehört werden, ist die Demonstration. Jemandem den Eintritt in den Diskurs zu verweigern ist die schlimmste Form von Gewalt. Da wird nicht unmittelbar und direkt verletzt, sondern man ist nicht einmal mehr der Verletzung wert. Darum geht es aber in der Politik: die, die nicht zählen, zählbar zu machen.

 

Vanessa Gaigg studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Ich heiße Hallo!

  • 22.10.2013, 18:29

Dass Mehrsprachigkeit eine Bereicherung und kein Grund zum Schämen ist, hat eine Volksschule in Wien Brigittenau erkannt. In der Europaschule können Kinder neben Deutsch, Englisch und ihrer Muttersprache 15 verschiedene Sprachen lernen.

Dass Mehrsprachigkeit eine Bereicherung und kein Grund zum Schämen ist, hat eine Volksschule in Wien Brigittenau erkannt. In der Europaschule können Kinder neben Deutsch, Englisch und ihrer Muttersprache 15 verschiedene Sprachen lernen.

Die Türe zur Schule ist noch verschlossen. Die Pädagogin Monika Kerschbaumer steht im Eingangsbereich der Europaschule in Brigittenau und empfängt SprachlehrerInnen für Chinesisch, Arabisch oder Tschetschenisch, die nach und nach eintrudeln und im kommenden Jahr die Sprachenworkshops an der Volksschule halten werden. Beim Eintreffen der LehrerInnen gibt es fast dieselbe Wiedersehensfreude wie bei den Kindern nach den Sommerferien. Viel Zeit zum Reden bleibt nicht: Die Workshops beginnen bald, alle sind ein bisschen aufgeregt. Über Kerschbaumer prangt auf einer Regenbogenfarbenwand stolz der Leitspruch der Schule: „Alle Kinder der Welt sind unsere Kinder.“ Hinter ihr wuseln die angehenden WeltenbürgerInnen noch schnell die Treppen auf und ab, die Zeit zwischen gemeinsamem Frühstück in der Schule und dem Unterrichtsbeginn wird genützt, um Energieüberschüsse loszuwerden. Dazwischen tummeln sich interessierte Eltern mit ihren Kindergartenkindern und die neuen SprachlehrerInnen werden zu ihren Klassen gelotst.

Kerschbaumer ist gemeinsam mit drei anderen Kolleginnen für das Projekt „Sprachenkarussell“ zuständig. Das Sprachenkarussell soll Sprachenvielfalt fördern und vor allem das Interesse der SchülerInnen wecken: Bis zu 15 Sprachen hat die Schule im Rahmen des Karussells im Angebot. „Die Kinder wählen am Anfang des Jahres eine Sprache aus, die allerdings nicht ihre Muttersprache sein darf. Dann haben sie die Möglichkeit, diese Sprache ein Jahr lang kennenzulernen“, erklärt Kerschbaumer. Die meisten SprachlehrerInnen kommen aus dem eigenen Lehrkörper. Nur wenige Sprachen werden von externen Lehrenden unterrichtet, zum Beispiel Arabisch oder Chinesisch. Vor fünf Jahren wurde das Projekt erstmals durchgeführt, anfangs noch in allen Schulstufen. Mittlerweile können die ZweitklässlerInnen freiwillig teilnehmen, für die dritten und vierten Klassen ist die Teilnahme am Karussell Pflicht.

Sprachenschnuppern. Heute dürfen die Kinder in drei verschiedenen Workshops in jeweils eine Sprache hineinschnuppern, bevor sie sich für den Rest des Schuljahres auf eine festlegen. Im Klassenraum von Gabi Lener findet der Spanischunterricht statt. Lener ist neben Kerschbaumer Teil des Sprachenkarussell-Teams und gleichzeitig Klassenvorständin der 3C.

Rund zehn Kinder haben sich heute für die Spanischgruppe entschieden. Auf dem großen, bunten Teppich im hinteren Teil des Klassenzimmers sitzen die Kinder in einem Kreis und starren auf die Zettel, die die Lehrerin hochhält. Lange zuhören, sich berieseln lassen oder gar stumpfsinnig von der Tafel abschreiben gibt es hier aber nicht. Es geht vor allem darum, die Sprache kennen zu lernen und miteinander zu reden. „Emily, schmeiß mal den Würfel und frag ihn, wie er heißt!“ „¿Como te ... llamas?“, sprudelt sie hervor. „Soy Achmed“, erwidert ihr Kollege. „¿Como te llamas?“, fragt die Lehrerin ein schüchternes blondes Mädchen, das neben Achmed sitzt. „Soy Ola“, sagt die Kleine. „Ich heiße Hallo?!“, sagt die Lehrerin darauf. „Sie heißt auf Polnisch Ola!“, belehrt ein Klassenkamerad die Lehrerin. Hier lernt jede von jedem. Zurück bei den Zetteln: „Was ist da dabei, das ihr nicht kennt?“ – Die Kinder antworten: „Das komische Fragezeichen!“

Foto: Johanna Rauch

Die Schule befindet sich in der Brigittenau, einem Bezirk, der für viele einen „Integrationsbrennpunkt“ in Wien darstellt. Für zahlreiche SchülerInnen ist die Umgangssprache zuhause eine andere als Deutsch. Von den 370 SchülerInnen der Schule haben 85 Prozent eine andere Erstsprache und beherrschen somit mindestens zwei Sprachen. „Unser oberstes Ziel ist es, dass Sprachen wie Albanisch, Ungarisch oder Polnisch mit den sogenannten Prestigesprachen wie Spanisch, Französisch oder Italienisch gleichgestellt werden. Eigentlich stehen uns diese Sprachen auch näher als viele andere“, erklärt Kerschbaumer. Die meisten Kinder an der Schule haben Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch (Sprachfamilie „BKS“, Anm. der Red.) als Muttersprache, gefolgt von Türkisch. Schon jetzt haben 60 Prozent aller Zweijährigen in Wien eine andere Erst- oder Familiensprache als Deutsch. Anstatt dieses Potential zu nutzen, lernen die Kinder in der Regel aber eher ihre zweite Sprache zu verstecken.

Rappen auf Romani. Die Idee des Sprachenkarussells entstand in einer ehemaligen Klasse Leners, in der 100 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache als Deutsch hatten. „Natürlich konnten die alle gut Deutsch, weil sie ja vorher im Kindergarten waren, aber sie hatten viele Sprachkompetenzen. Und da sind die Kinder auf die Idee gekommen: Man könnte doch auch die Sprachen der anderen lernen!“ Daraufhin haben die Verantwortlichen der Europaschule begonnen, Sprachkurse zu organisieren. Anfangs waren vor allem die klassischen Fremdsprachen gefragt. Mit der Zeit hat sich das aber geändert. „Viele unserer LehrerInnen unterrichten im Sprachkarussell und verkörpern dadurch bestimmte Sprachen, wodurch sich deren Stellenwert geändert hat.“ Beobachten konnten die LehrerInnen dies zum Beispiel beim oft stigmatisierten Romani: „Vor Jahren haben wir die Kinder gefragt, wer zuhause Romani spricht, und es hat niemand aufgezeigt. Aber dann hatten wir einen Rapper zu Gast, der Workshops auf Romani gehalten hat. Dann waren es auf einmal viel mehr.“ Jetzt ist Romani eine beliebte Wahl unter den Kindern. Die Romanilehrerin ist außerdem Musikerin und arbeitet auch mit Harri Stoijka zusammen. „Den kennen die Kinder und finden ihn toll“, erzählt sie. Mit diesem Angebot kann die Schule auch der sozialen Ausgrenzung, welcher MigrantInnen oft ausgesetzt sind, entgegenwirken: „Das ist dann nicht mehr nur die Ausländersprache, sondern ein Unterrichtsfach – und etwas wert.“

Nach einer knappen Stunde haben alle Kinder den Workshop gewechselt. Im EDV-Raum lernen die Kinder Urdu von einer Lehrerin, die zuvor selbst Schülerin an der Europaschule war: im Mama-lernt- Deutsch-Kurs. „Fällt euch etwas auf beim Schreiben?“, fragt Kerschbaumer, die im Urdu-Kurs assistiert. „Das geht von rechts nach links!“, sind sich hier die Kinder einig. Nebenan lernen die Kinder in der 4A Iwrit – Neu-Hebräisch. Ein paar Türen weiter können die Kinder bereits nach ein paar Minuten auf Romani bis zehn zählen. „Jekh, duj, trin, štar, pandž ...“, geht es reihum. Ein „Perfekt!“, ernten die SchülerInnen dafür von ihrer Lehrerin.

Natürlich gibt es auch abseits des klassischen Fremdsprachenkanons unterschiedliche Prestigegrade unter den Sprachen, diese aber lassen vor allem die Kinder noch eher unberührt – sobald es positive Identifikationsfiguren in der Schule gibt. „Was ich schade finde, ist, dass wir bisher noch keine Auseinandersetzung damit hatten, dass sowohl Hebräisch als auch Romani zwei Sprachen von Opfergruppen des Nationalsozialismus sind. Das wurde von den beiden Lehrerinnen zwar schon einmal angesprochen, die Diskussion dazu fehlt aber noch“, sagt Lener.

Neben dem vielfältigen Fremdsprachenunterricht des Sprachkarussells wird den SchülerInnen der Europaschule auch muttersprachlicher Unterricht angeboten. Abgesehen von Elitegymnasien mit Prestigesprachenförderung sucht man oft vergeblich nach Angeboten für muttersprachlichen Unterricht. Tatjana Tišler, deren eigene Muttersprache Kroatisch ist, unterrichtet BKS an der Europaschule und hat damit die größte Gruppe in muttersprachlichem Unterricht an der Schule zu betreuen. Der Muttersprachenunterricht ist in den Regelunterricht integriert. „Wenn ich mit meinen Kindern in kleinen Gruppen lerne, ist der Unterricht so geplant, dass sie nichts versäumen.“ Rund 160 Kinder an der Schule sprechen BKS. Neben der schulischen Vermittlung sieht Tišler ihre Aufgabe auch darin, die Eltern zu ermutigen, mit den Kindern die Muttersprache zu sprechen: „Deutsch lernen sie sowieso in der Schule.“

Wie passt das nun mit der Diktion „Deutsch vor Schuleintritt“ oder gar einem Deutsch-Gebot, das an vielen Schulen existiert, zusammen? „Das halte ich beides für ein absolutes Unding“, stellt Lener klar. Wer sich für eine Schule anmeldet, müsse sowieso andere soziale Skills vorweisen, und wer wirklich noch kein Deutsch spreche, könne sich das sehr schnell in der Schule aneignen. „Wenn SchülerInnen während des Unterrichts eine andere Sprache als Deutsch sprechen, haben die kein Geheimsystem, sondern verstehen etwas nicht und kommunizieren darüber, wie man das Problem lösen kann. Das sagen auch alle Studien.“

Schuldemokratie. Neben der Sprachförderung setzt die Europaschule auch auf demokratische Mitgestaltung durch die Eltern, aber auch durch die SchülerInnen. Einige Eltern sind außerdem durch die Sprachkurse in die Schule eingebunden: Sie unterrichten selbst oder fungieren als AssistentInnen. Nebenbei kooperiert die Schule auch mit der MA17 des Integrationshauses Wien und deren Projekt Mama lernt Deutsch. „Das ist ja ein furchtbar ungeschickter Name. Aber die Frauen kommen trotzdem“, lacht Lener und wünscht sich in Zukunft eine noch bessere Einbindung der Eltern.

Mittlerweile sind die Kinder bei der letzten Station für heute angekommen. Im 1. Stock stehen zehn Kinder aufgereiht vor der Klasse. Im Französischunterricht gibt es nämlich dieses Mal eine Modenschau. Unter Kichern drucksen ein paar Kinder ein „Beau!“ oder „Joli!“ hervor. Das Publikum drinnen bewertet die Models – Mädels und Burschen – mit den neu gelernten Adjektiven. Einen Stock unterhalb lernen die Kinder die neue Chinesischlehrerin kennen, die ihre SchülerInnen auf ein Spiel mit Zahlen vorbereitet. Aber die Zahlen scheinen noch nicht so gut zu sitzen. Also: „Noch einmal von vorne!“

Die Preise und Auszeichnungen, die die Europaschule bisher erhalten hat, scheinen ihr Recht zu geben: In jedem Stock hängen Plakate, die Zeugnisse ihres Erfolgs darstellen. Preisträgerin der SozialMarie, Auszeichnung des Kompetenzzentrums für schulische Tagesbetreuung des BMUKK, equal education Socrates Qualitätssiegel und das Europasiegel für innovative Sprachprojekte sind nur wenige davon. „In meiner letzten Klasse waren drei blitzgescheite Buben mit türkischer Muttersprache, die haben sich zum Abschluss T-Shirts gedruckt“, erzählt Lener: „Auf denen stand: Bizde size alistik, sizde bize alisi – Wir haben uns an euch gewöhnt, gewöhnt euch auch an uns.“

 

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug

  • 20.09.2012, 02:28

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht.

Der Weg zur Gefängnisinsel Bastøy kann nur mit der kleinen Fähre Vederøy bestritten werden. Diese verlässt jeden Morgen um 8.15 Uhr mit GefängnisarbeiterInnen sowie BesucherInnen an Bord die Kleinstadt Horten. Was früher eine Art Bootcamp für männliche Jugendliche war, ist seit 2007 das erste humanökologische Gefängnis der Welt. Verlässt man die Fähre nach der Ankunft, steht man inmitten des Gefängnisses. „Übungsplatz für Verantwortung“ steht dort geschrieben. Bastøy ist zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit und wie ein kleines Dorf organisiert. Mit einem Bus werden die ArbeiterInnen täglich zum Hauptgebäude gebracht. Auf der Insel stehen in großen Abständen zueinander kleine, farbig gestrichene Häuser, in denen jeweils vier bis sieben Männer in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Dazwischen erstrecken sich große, braune und grüne Felder, die von den Insassen selbst bearbeitet werden. „Die Insassen müssen ihren Alltag hier selbst regeln“, erklärt Rolf Hansen, ein Gefängniswärter. „Sie können zwischen Privatsphäre und Gemeinschaft wählen.“ Hansens Job ist es nicht nur, die Gefängnisinsassen zu bewachen, sondern auch, BesucherInnen zu begleiten. Nicht das Beschützen vor Insassen ist hier das Ziel, sondern vielmehr das Vermitteln der Arbeitsweise auf Bastøy. Auf dem gesamten Gefängnisgelände gibt es keine einzige Waffe, nur eine Attrappe im Büro des Gefängnisleiters. Normalerweise müssen alle GefängniswärterInnen in Norwegen eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Hansen gehört zu den zehn Prozent der WärterInnen, die über keine formale Ausbildung verfügen. „Der Leiter von Bastøy will dich kennenlernen, und dann entscheiden, ob du hier arbeiten darfst“, erklärt er das Aufnahmeverfahren. Beim Organisieren des Insellebens werden die Insassen von 80 MitarbeiterInnen unterstützt. Diese arbeiten als AufseherInnen, in der Bibliothek, in der Kirche, in der Küche, in der Administration oder bei sonstigen Projekten im Gefängnis.

Das geringere Übel. „Du siehst hier keine Wärter Innen, wenn du nicht möchtest. Das einzige Gefühl von Gefängnis entsteht durch die Tatsache, dass es eine Insel ist“, kann der 54jährige Ketil Petersson*, der wegen Drogenhandels verurteilt wurde, dem Konzept von Bastøy einiges abgewinnen. Seit einem halben Jahr ist er auf Bastøy, davor war er in einem geschlossenen Gefängnis und verbrachte dort 23 Stunden am Tag in einer Zelle, eine Stunde hatte er Hofgang. Dass er wegen seiner Vergangenheit im Gefängnis sitzen muss, kann er nicht wirklich nachvollziehen. Seiner Meinung nach sollten Drogen legalisiert werden. „Aber was soll’s“, sagt er mit dem Wissen, dass er einen Großteil seiner Strafe schon abgesessen hat. Auch Per Aastan kam aus einem geschlossenen Gefängnis hierher. Sieben Jahre muss der ebenfalls wegen „Drogengeschichten“ verurteilte Vater absitzen, ein Jahr steht ihm noch bevor. Seine Aufgabe hier ist es, sich um die Tiere zu kümmern und mit dem Traktor im Winter Schnee zu räumen. Er mag seine Arbeit und muss dafür täglich vier bis fünf Stunden aufwenden. Seine Entlohnung beträgt, wie die der anderen auch, 50 Kronen (6,50 Euro) pro Tag. An einem typischen Tag steht er um halb sechs in der Früh auf, kümmert sich um seine Tiere, um halb neun wird das erste Mal gezählt: „Ich finde es fair, hier zu sein“, meint Per reumütig: „Ich muss bezahlen für das, was ich getan habe“. Der Unterschied zwischen Bastøy und einem geschlossenen Gefängnis sei wie Tag und Nacht. „Ich glaube schon, dass eine Gesellschaft Gefängnisse braucht, trotzdem müssen sich die Bedingungen in vielen ändern“, sagt Per. Das Ziel von Gefängnissen sei schließlich „die Möglichkeit zu bekommen, wieder zurückzufinden“. Im Sommer sei es besonders schlimm, das Festland zu sehen und Partys und Konzerte unfreiwillig mitzuhören, da sind sich die beiden einig. „Darüber darfst du nicht nachdenken, sonst drehst du durch“, schüttelt Ketil den Gedanken gleich wieder ab. Trotzdem gab es laut Per erst einen, der von Bastøy fliehen wollte, und der wurde am darauffolgenden Tag geschnappt. „Grundsätzlich kannst du aber jeden Tag fliehen, wenn du willst“, sagt Per: „Das wäre aber natürlich dumm, weil nachher alles nur noch schlimmer wird“. Draußen warten seine Frau und eine bestehende Existenz auf ihn, in die er sich nur wieder einfügen muss. „Zurückkehren zur Normalität ist alles, was ich möchte.“

Elitegefängnis. Normalität ist auch das, was Gefängnisleiter Arne Kvernvik Nilsen auf der Insel erzeugen möchte. Der ausgebildete Psychotherapeut ist seit zweieinhalb Jahren der Leiter von Bastøy, seither gab es noch keinen einzigen Zwischenfall. „Das erste, was ich den Insassen sage, wenn sie ankommen, ist Folgendes: Ich werde dir jetzt deine Verantwortung zurückgeben. Das bedeutet einerseits viel Freiheit, andererseits aber auch Möglichkeiten, um Dummes zu tun.“ Das humanökologische Gefängnis basiert für Nilsen auf dem Bewusstsein, dass die Umwelt den Menschen beeinflusst und umgekehrt. „Ein Mensch kann noch so schlimme Sachen getan haben, steckst du ihn in die richtige Umgebung, wird das auf ihn wirken.“ Auf Bastøy werden nur Schwerverbrecher aufgenommen. Die meisten Insassen waren davor in einem geschlossenen Gefängnis und haben sich von dort aus für Bastøy beworben. Nilsen sucht sich den Großteil der Insassen aufgrund der Bewerbung aus, und bevorzugt dabei die schwierigen Fälle. Ein paar werden ihm auch vom Staat zugeteilt. Auf Bastøy wird den Leuten klar gemacht: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, musst du zurück in ein geschlossenes Gefängnis. Dieses Druckmittel besitzen die anderen Gefängnisse nicht. Die Statistiken geben Bastøy Recht. Die Rückfallsquote ehemaliger InsassInnen aus euro-päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Mit dem Ziel, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, leben 114 Schwerverbrecher ohne Zellen und Gitter auf der norwegischen Gefängnisinsel Bastøy. Sie können sich auf der zwei Quadratkilometer großen Insel frei bewegen, sofern man von den geregelten Arbeitszeiten, Ausgehsperren und den viermal täglich stattfindenen Zählterminen absieht. päischen Gefängnissen beträgt im Durchschnitt 70 Prozent, in Skandinavien 30, in Norwegen 20 und jene von Bastøy 16 Prozent. Bei Menschen, die mehrere Male im Gefängnis waren, vervielfacht sich die Wahrscheinlichkeit, wieder reinzukommen. Und: Aufgrund des im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringen Unterschieds zwischen Arm und Reich hat Norwegen eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt. „Wie können Leute behaupten, wir seien auf dem falschen Weg?“, fragt Nilsen in Richtung der PolitikerInnen, die gerade in letzter Zeit auch in Norwegen nach härteren Strafen schreien. „Das alles hat mit einer egalitären Gesellschaft zu tun und damit, wie wir die Leute im Gefängnis behandeln“, so Nilsen. Eines Tages müssen diese Leute schließlich wieder in die Gesellschaft zurück.

Guilty as hell. Chris Nyborg und Lars Væring wohnen mit fünf anderen Mitbewohnern im Blueshouse. Für ein Zimmer in der Musiker-WG kann man sich bewerben, wenn man Mitglied der Gefängnisband „Skyldig som faen“ („Guilty as hell“) werden möchte, oder sich einfach für Musik interessiert. Chris ist seit Jänner hier und Bassist der Band. Beigebracht hat sich der 39Jährige das Bassspielen selber. Seit Oktober hatte die Band schon fünfzehn Auftritte, einige davon in Oslo, ein paar in anderen Gefängnissen. „Hier fängt man wieder an, zu leben“, sagt der wegen Totschlag verurteilte Chris, „sogar Mike Gallaher, der Gitarrist von Joe Cocker, hat uns hier schon besucht.“ Einen Großteil des Equipments bekommt die Band von der staatlich finanzierten Musical Study Association, die Gruppen wie Skyldig som faen auch finanziell unterstützt. Auch Chris hat die meiste Zeit seiner Strafe in Eidsberg, einem geschlossenen Gefängnis, abgesessen. Dort hat er in einer Bücherei gearbeitet, trotzdem musste er 23 Stunden am Tag in der Zelle verbringen. „Die meiste Zeit im Gefängnis fühlt man sich nutzlos, die Arbeit ist umsonst“, sagt er rückblickend. „Aber in Bastøy fällt der Druck des Weggesperrtseins weg.“ Das Gefühl der Nutzlosigkeit ist eines der größten Probleme für InsassInnen in herkömmlichen europäischen Gefängnissen, in denen Häftlinge kaum die Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen oder Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Das sieht auch Ole Loe Andersen, der Leiter von Wayback, der größten Resozialisierungsorganisation in Norwegen, so. „Die Bestrafung ist der Freiheitsentzug, nicht das Kreieren einer Hölle im Gefängnis“, sagt Andersen, der selbst acht Jahre lang wegen mehrmaligen Bankraubes im Gefängnis saß, zwei Jahre davon auf Bastøy. Die Diskussion um Gefängnisbedingungen findet Andersen oft verfehlt, da sie sich meist auf physische Möglichkeiten beschränkt: „Wenn du im Gefängnis sitzt, geht es nicht in erster Linie darum, ob du eine Toilette in deiner Zelle hast. Wenn nicht, ist das nämlich oft die einzige Möglichkeit am Tag, aus der Zelle rauszukommen.“

Abschied vom alten leben. „Si meg hva betyr adjo?“ ist eine Zeile aus einem Lied des berühmten norwegischen Sängers Jahn Teigen. Sie steht auf einer Wand im Wohnzimmer des Blueshouse geschrieben. „Das bedeutet so viel wie ‚Tell me, what does goodbye really mean?’“, erklärt Lars. Er hat nur mehr zu sechs Freunden draußen Kontakt. „Mit allen anderen war es zu schwierig, Kontakt zu halten. Sie kamen entweder nicht mehr zu Besuch oder waren nicht mehr erreichbar.“ Lars ist seit drei Jahren im Gefängnis und hat erst knapp die Hälfte hinter sich gebracht. Der 26Jährige singt in der Band und jeden Montag im Kirchenchor in Horten. „Wenn du einem 26jährigen Typen in Freiheit sagst, er soll in einem Kirchenchor singen, erklärt er dich für verrückt. Einen im Gefängnis brauchst du das nicht zweimal fragen“, sagt Lars. Die anderen lachen. „Hier im Gefängnis nimmst du alles an, um für kurze Zeit rauszukommen.“ Zehn Kilo Amphetamin und 2000 Stück Ecstasy wollte der damals 23Jährige Lars von Amsterdam nach Oslo schmuggeln. „Ich war völlig stoned, als ich gefragt wurde, ob ich das mit einem gemieteten Auto machen will.“ Er wirkt, als würde er gerne die Zeit zurückdrehen. „Hätten sie mich nicht in Schweden, sondern erst in Norwegen er wischt, hätte ich eine geringere Strafe bekommen“, schildert er, wie ein paar hundert Kilometer sein Leben bis zu seinem 30. Geburtstag entschieden haben.

Chris findet es nachvollziehbar, dass er im Gefängnis sein muss. Trotzdem sieht er Widersprüchlichkeiten bezogen auf die Existenz von Gefängnissen. „Es ist ziemlich barbarisch, Menschen einzusperren. Wenn man das privat machen würde – Menschen gegen ihren Willen einsperren – würde man das als Gewalt bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es wichtig, die Gefängnisse mehr in die Gesellschaft zu integrieren, so ähnlich wie es mit Bastøy passiert.“ Für Arne Kvernvik Nilsen, der vor seiner Tätigkeit als Gefängnisleiter jahrelang im Correctional Service tätig war und Experte für alternative Strafmethoden ist, ist das Gefängnis für den Großteil der Häftlinge nicht die richtige Institution. „Ich glaube, auf die meisten Gefängnisse in Norwegen könnten wir verzichten. Obwohl mir natürlich schon bewusst ist, dass es immer Menschen geben wird, die wir in einer Gesundheitseinrichtung oder etwas Ähnlichem verwahren müssen, um sie und die Gesellschaft zu beschützen.“ Ob er auch Anders Breivik aufnehmen würde? „Wir hatten einen sehr schlimmen Sommer in Norwegen. Aber ich glaube, in einigen Jahren wird Breivik auch hier sein.“

* Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert.

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme

  • 03.02.2014, 12:27
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.
Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Im Rahmen des progress-Schwerpunktes zum Thema Mehrsprachigkeit hat sich Vanessa Gaigg mit İnci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Uni Wien, über Deutschgebote an Schulen und die Wechselwirkung von Gesellschaft und Universität unterhalten und erfahren, was in der Debatte um Ausgrenzung falsch läuft.

progress: Sie haben die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache an der Uni Wien inne. Die Professur wurde erst 2010 eingeführt – wäre der Bedarf dafür nicht schon früher da gewesen?

İnci Dirim: Das ist die erste Professur für Deutsch als Zweitsprache bzw. für Deutsch in der Migrationsgesellschaft in ganz Österreich, nicht nur an der Uni Wien. Dass sie erst so spät eingeführt wurde, ist wahrscheinlich eine Frage von Politik und Selbstverständnis – ob man sich als Migrationsgesellschaft versteht oder nicht. Wahrscheinlich hat das auch mit der Distanz zwischen Uni und Gesellschaft zu tun, dass man also gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen nicht unbedingt als Aufgabe der Universität wahrgenommen hat.

Was ist der Unterschied zwischen Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF)?

Bei Deutsch als Fremdsprache geht es um den Deutschunterricht außerhalb von Österreich beziehungsweise außerhalb von amtlich deutschsprachigen Ländern. Das heißt zum Beispiel, wenn jemand in Südafrika in der Schule Deutsch oder wenn jemand in der Türkei zum Goethe-Insitut geht, um einen Deutschlurs zu besuchen, sind das Deutschlernaktivitäten in Umgebungen, in denen i.d.R. sonst nicht Deutsch gesprochen wird und man den Fremdsprachenunterricht Deutsch besucht. So wie wir hier zum Beispiel den Französischunterricht als Fremdsprachenunterricht haben – das ist dann eine Sprache, die man im Alltag und der Umgebung meistens nicht spricht. Deutsch als Zweitsprache wäre dann das Deutsch, das hier in Österreich benutzt wird. Wenn also Kinder, Jugendliche oder Erwachsene als MigrantInnen nach Österreich kommen und hier das Deutsche benutzen – bei ihnen geht man davon aus, dass sie Deutsch im Alltag, in der Bildungsinstitution und im Berufsleben brauchen. Es geht also um den Unterschied zwischen einer Fremdsprache und der Frage des Zurechtkommens mit der deutschen Sprache in der umgebenden Gesellschaft.

Was bringt die Differenzierung zwischen einer Erst- und Zweitsprache?

Da könnte man zunächst die Begriffe selbst kritisch beleuchten. Studierende in meinem Fachbereich haben das beispielsweise kritisiert und gesagt, Zweitsprache ist ein Begriff, der einen eigentlich auf einen bestimmten Status von Zugehörigkeit festlegt. Geht man zum Beispiel davon aus, dass jemand in Tschechien Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und nach Österreich kommt, wird er in zum Zweitsprachler des Deutschen. Aber Sie werden mir zustimmen, dass man niemals vom Deutsch als Zweitsprachler zum Deutsch als Muttersprachler werden würde. Es wird also akzeptiert, dass man eine große Nähe zum Deutschen als Sprache hat, aber man wird nicht wirklich als Deutsch-Sprechender akzeptiert. Und da haben Studierende zu Recht gefragt: Warum ist das eigentlich so? Immerhin empfinde ich die Sprache genauso als meine Sprache und denke, lebe, träume in dieser Sprache. Und wenn ich jetzt einen bosnischen und keinen kärtnerischen Akzent habe, warum ist das ein Problem? Aus einer spracherwerbstheoretischen Perspektive aus lässt sich sagen, dass es Unterschiede im Erwerb des Deutschen als die Erstsprache (bis zum dritten Lebensjahr) und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache gibt, je nachdem wann der Erwerb des Deutschen einsetzt.

Wohin kann diese Unterscheidung führen?

Die Frage ist, was als Unterschied angesehen wird, jenseits der spracherwerbstheoretischen Erkenntnisse? Wenn es die Herkunft der Eltern sein soll, nach der bestimmt wird, dass man Deutsch als Zweitsprache erwirbt, dann wäre das eine biologistische Interpretation und sehr problematisch – das kann bis hin zu Rassismus gelangen. Ich finde es problematisch, wenn eine Gruppe von Personen konstruiert wird, die nie wirklich akzeptiert werden wird. Aber zu sagen: Ach so, dann brauchen wir ja Deutsch als Zweitsprache gar nicht mehr, ist natürlich auch nicht richtig. An den Schulen gibt es viele Kinder, die nicht das Deutsch sprechen, das die Schule erwartet, die also im Unterricht sitzen und nicht genug verstehen. Diesen Kindern die Förderung zu enthalten wäre eine Katastrophe. Also solange die Schule monolingual deutschsprachig bleibt, muss die Deutschförderung, die gebraucht wird, auch angeboten werden, ohne jedoch Kinder und Jugendliche für immer auf einen Status von nicht-kompetenten SprecherInnen des Deutschen festzulegen.

Ist der derzeitige Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulsystem sinnvoll?

Die Monolingualität der Schule passt nicht zur Mehrsprachigkeit der Gesellschaft. Es ist schon so oft festgestellt worden, dass eine bilinguale oder mehrsprachige Erziehung für die Kinder besser wäre. Aber das hängt davon ab, wie diese Erziehung angeboten wird. Mir geht es darum, Benachteiligung zu reduzieren und Selbstartikulation im Sinne von Agency zu ermöglichen. Nach den gängigen Vorstellungen heißt Mehrsprachigkeit in der Schule leider oft, dass etwa zwei Kinder, die in der Klasse sitzen, gefragt werden: Kannst du das denn mal auf Serbisch sagen? Ihr sprecht ja so schön Serbisch alle! Und dann denkt man sich: Erledigt. So einfach ist das aber nicht. Allerdings gibt es bereits Projekte, die zum Ziel haben, den Einbezug von Mehrsprachigkeit in die Schule zu systematisieren und zu professionalisieren, z.B. das Projekt „MARILLE“.

Werden die LehrerInnen im Bereich Mehrsprachigkeit allein gelassen?

Es geht darum, dass die Kinder die Sprachen als Bildungssprachen lernen, sie benutzen können, und darum, die Benachteiligungen zu reduzieren, die durch die Monolingualität der Schule entsteht. Es wäre eine Qualifizierungsaufgabe für die Universitäten und die Pädagogischen Hochschulen die LehrerInnen so auszubilden, dass sie in den verschiedenen Sprachen auch Unterricht anbieten können. Im Moment sind wir davon meilenweit entfernt. Deshalb muss man unter diesen Umständen vornehmlich auf Deutsch als Zweitsprache-Förderung setzen, sie garantieren. Die Entwicklung von Methoden des Einbezugs von Mehrsprachigkeit würde dann mit gutem Gewissen dem folgen können.

Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit derzeit in der LehrInnenausbildung?

Eine viel zu geringe Rolle. Im Moment sind das nur die Deutsch-Studierenden an der Uni Wien, die verpflichtend ein Modul aus DaZ/DaF besuchen müssen, wobei es hier ja vornehmlich um Deutsch geht und nicht um andere Sprachen als Deutsch. Alle anderen Lehramtsstudierenden kommen aber auch mit DaZ gar nicht in Berührung. An den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ist DaZ generell nicht systematsich verankert. Aber es gibt viele DozentInnen, die mit großem Eigenengagement die Perspektive DaZ in ihre Lehre integrieren. Mehrsprachigkeit im Sinne von migrationsspezifischer Mehrsprachigkeit kommt dem gegenüber eher weniger vor und hängt auch vom Engagement von Einzelpersonen ab.

Bleiben wir bei der Schule: Sind Maßnahmen wie Deutsch vor Schuleintritt oder Deutschgebote in Pausenhöfen sinnvoll?

Sprache erfüllt mehrere Funktionen, auf der einen Seite spielt Sprache eine Rolle als Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite ist Sprache auch ein Phänomen, mit dem Zugehörigkeiten markiert werden. Und diese Frage von Zugehörigkeit spielt auch eine große Rolle in der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Argumente für Deutschgebote und Sprachenverbote. Es wird z.B. behauptet, dass andere gestört würden, wenn die Kinder andere Sprachen als Deutsch sprechen, weil sie nichts verstehen. Ich denke generell, dass die Pause für Erholung und Gespräche zur Verfügung steht. Dafür dass alle alle privaten Gespräche verstehen, besteht keine Notwendigkeit. Wenn ich selber an der Uni bin und Kaffee trinke, dann bin ich auch froh, wenn ich nicht alles verstehen muss, was um mich herum gesagt wird. Auch Lehrkräfte im Unterricht müssen nicht alles verstehen können, das wäre ohnehin auch mit dem alleinigen Gebrauch des Deutschen nicht möglich – man schreibt sich z.B. Zettel und flüstert sich zu. Zudem gibt es viele gute Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit für die Bildung von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Ausbildung verbessert wird und methodisch in den Sprachen gearbeitet wird, die von den Kindern und Jugendlichen gesprochen werden. Ein Verbot ist keine pädagogische Maßnahme.

Was sagen Sie zur Zurückstellung vom Schulbesuch, wenn Kinder nicht ausreichend Deutsch können?

Es ist durchaus möglich, dass ein Vorschuljahr mit guter Deutschförderung sprachliche Zuwächse im Deutschen mit sich bringt. Man kann jedoch Bildung nicht allein aus der Perspektive des Wissenszuwachses beurteilen. Bildung heißt nicht nur, dass man Wissen erwirbt, es heißt auch Subjektivierung. Die Einschulung spielt eine ganz große Rolle in unserem Leben, ist ein wichtiges Ereignis. Wenn man zu einem Kind sagt: Du kommst nicht in die erste Klasse, du musst jetzt erstmal Deutsch lernen, dann ist das ein möglicherweise ein Schock. Das Kind bekommt den Eindruck: Mit mir stimmt etwas nicht. Welches Kind versteht denn, was ausreichende Deutschkompetenz heißt? Abgesehen davon, lässt sich die Schulreife nicht an der Beherrschung der Sprache Deutsch festmachen. Kinder können in anderen Sprachen und Sprachenkombinationen schulreif sein. Es wäre also eine große Ungerechtigkeit, Kinder nicht vom der Einschulung zurückzuhalten, weil die Schule keine Angebote in den von ihnen gesprochenen Sprachen bereithält. Aus vielen Gründen also muss man vom Kindergarten an bis zur Matura ausreichend Lernangebote für die deutsche Bildungssprache schaffen. Ein Qualifizierungs- und Angebotsdefizit von Universität, Hochschule und Schule kann nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.

In der sogenannten Integrationsdebatte wird oft über Sprache gesprochen. Funktioniert Inklusion wirklich in erster Linie über Sprache?

Ich würde eigentlich beide Begriffe nicht verwenden wollen. Integration wird oft als Assimilation verstanden und richtet sich einseitig an MigrantInnen. Ich stehe auch nicht für den Begriff der Inklusion, weil er ein pathologisierendes Element enthält. Ich würde einfach sagen: Beteiligung an der Gesellschaft. Und die wird nicht nur durch Deutsch ermöglicht. Das Problem ist, dass die Mehrheitsgesellschaft dabei „fein aus dem Schneider ist“, Ausgrenzungsmechanismen und institutionelle Diskriminierung aber bestehen bleiben. Auch wenn jemand perfekt Deutsch kann, gibt es Ausgrenzungsprobleme, die wir bewältigen müssen. Ich würde nie sagen, die Menschen sollen kein Deutsch lernen, aber auch nicht: Die Menschen sollen Deutsch lernen, weil ich davon ausgehe – und das ist meine feste Arbeitshypothese – dass sowieso jeder, der nach Österreich kommt, Deutsch lernen möchte. Wer möchte denn schon auf der Straße stehen und einen Busfahrplan nicht verstehen? Oder wenn man angesprochen wird, nicht antworten können? Es soll Angebote geben, aber ich halte nichts von Zwang, der Menschen unterstellt, dass sie kein Deutsch sprechen möchten.

Warum reagieren so viele Leute negativ, wenn sie „Ich geh’ Billa“ hören?

Die Leute haben vielleicht ein Problem damit, dass Deutsch auf eine Weise gesprochen wird, durch die erkennbar wird, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben. Wenn Jugendliche sagen Ich geh Billa, dann wird möglicherweise interpretiert, dass die Jugendlichen nicht mehr richtig Deutsch sprechen können. Da kommt dann eine Vorstellung von sprachlicher Korrektheit ins Spiel und es wird gesagt: Das Deutsch geht kaputt,, die Sprachkompetenz in der Gesellschaft nimmt ab... Das ist ein Rattenschwanz an Argumenten. Aber Sprache verändert sich immer. Die Sprache wird ja von vielen Seiten beeinflusst, aber in diesen Argumentationen kommt dann die Hierarchie ins Spiel: Wird Deutsch vom Französischen beeinflusst, hat niemand damit ein ernsthaftes Problem. Aber mit einem Einfluss des Türkisch zum Beispiel schon, jedenfalls wäre das meine Hypothese. Das Problem ist nicht, dass die Sprache sich verändert, sondern dass manche MigrantInnengruppen als schlechter angesehen werden und ein Einfluss dieser Sprachen auf das Deutsche möglicherweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft negativ beurteilt wird.

 

Vanessa Gaigg führte das Interview, sie studiert Philosophie an der Universität Wien.

Wir sind bossy bitches

  • 09.12.2013, 20:09

14 Jahre hat es gedauert, bis Tegan and Sara es nach Wien geschafft haben: Vor ihrer spontanen Acoustic-Session in der Ottakringer Brauerei hat progress mit den beiden über ihr neues Album „Heartthrob“ und ihre Annäherung an die Popkultur gesprochen.

14 Jahre hat es gedauert, bis Tegan and Sara es nach Wien geschafft haben: Vor ihrer spontanen Acoustic-Session in der Ottakringer Brauerei hat progress mit den beiden über ihr neues Album „Heartthrob“ und ihre Annäherung an die Popkultur gesprochen.

progress: Wie läuft die Tour?

Tegan: Touren ist super! Wir haben eine wirklich gute Zeit. Es ist großartig, so viele neue Orte kennenzulernen. Wir waren so lange immer in denselben Ländern – nichts gegen Frankreich, Deutschland und Belgien, aber es ist schön, neue Orte zu sehen und das merkt man auch am Publikum: Es liegt eine gewisse Spannung in der Luft. Die Leute scheinen einfach glücklich zu sein, uns nach 14 Jahren endlich zu Gesicht zu kriegen. (lacht)

Draußen haben sich schon an die 200 Fans angestellt.
Sara: Ja, es ist eine super Erfahrung. Gestern hatten wir den ganzen Tag Zeit, um herumzuschlendern und alles aufzusaugen. Das ist wirklich ein großes Privileg, wenn man auf Tour ist.

Euer neues Album „Heartthrob“ ist sehr poplastig. Sara, du hast einmal gesagt, gute Popsongs müssen Herz und Seele in sich tragen und dass die Popkultur dich manchmal verrückt mache. Seid ihr euren eigenen Erwar- tungen gegenüber guter Popmusik gerecht geworden?

Tegan: Das klingt nach dir. Irgendwas Konträres und Negatives ...

Sara: (lacht) Ja, ich glaube, diese Erwartungen haben wir erfüllt. Es war ein echter Wendepunkt für mich, als ich das neue Alicia Keys-Album, auf dem „Try sleeping with a broken heart“ ist, gehört habe. Ich finde das Lied so authentisch und es transportiert ein Gefühl, das ich verstehe. Diese Idee, dass jemand buchstäblich in seiner eigenen Trauer badet, erschien mir so deprimierend. Ich glaube, das war der Moment, als Mainstream-Pop für mich erst wieder interessant wurde. Wir würden ein Pop-Album nicht auf eine andere Art und Weise machen. Wir versuchen in Bezug auf uns selbst und unser Leben immer ehrlich und offen zu sein. Mir würde die Verbindung zum Publikum fehlen, wenn wir etwas zu Überzogenes oder Zuckersüßes machen würden.  

Tegan: Wir haben in den letzten sechs Jahren mit über 15 KünstlerInnen zusammengearbeitet: aus den Genres Dance, Rock, Hip Hop und Comedy. Ich glaube, unsere Fans bleiben uns, solange Tiefe, Verletzlichkeit und Substanz in unserer Musik sind. Wir nehmen unsere alten Fans mit und es kommen neue hinzu. Bevor wir „Heartthrob“ gemacht haben, hatten wir keine Angst, unsere Fans, sondern uns als Band, zu verlieren. Wir hatten das Gefühl, in eine andere Richtung gehen zu müssen, und uns bewusst dazu entschieden, gewisse Dinge hinter uns zu lassen. Zum Beispiel das Gefühl, dass wir keine Popband sein können, nicht in den Mainstream finden und von der heteronormativen Popkultur nicht akzeptiert werden. Wir haben es einfach getan!

Kann es sein, dass ihr in „I’m not your hero“ dieses Thema behandelt? Etwas Neues auszuprobieren, auch wenn man Angst davor hat?

Sara: Mir ging es in dem Song vor allem um die queer-feministische Community, die mir sehr wichtig ist. Es geht um meine – oder unsere – Schwierigkeiten damit, unsere politischen Überzeugungen zu behalten, während wir gemerkt haben, dass unsere Ansichten nicht immer mit denen jener Leute übereinstimmen, die uns  eigentlich unterstützen sollten. Wir wurden sehr stark dafür kritisiert, mit welchen KünstlerInnen wir zusammenarbeiten und wie wir aussehen, da sich das scheinbar für manche nicht mit politischen Anliegen in Einklang bringen lässt. Das fühlt sich für mich reduzierend an. Wenn du politisch aktiv bist oder bestimmte Gruppen repräsentierst, werden Leute in der Sekunde auf dich wütend, in der du den vorgezeichneten Weg verlässt. Das kann sehr erdrückend sein, weil uns politische Inhalte immer noch sehr wichtig sind.

 

 

Tegan, in „Closer“ singst du darüber, jung und unbekümmert zu sein. Sind die Vergangenheit und Teenagerzeit wiederkehrende Themen in euren Songs?

Tegan: Auf jeden Fall. Ich staune jeden Tag darüber, wie sehr mein Verhalten jenem mit 18 oder 19 ähnelt, obwohl ich seitdem so viel erlebt habe. Auf dem Album ging es mir vor allem um Gefühle im Allgemeinen und darum, den Moment einzufangen, wenn man jemanden kennenlernt. Du wirst die Person vielleicht nie wieder treffen, aber ich mag das Hoffnungsvolle. Das geht vorbei, wenn man älter wird, dann heißt es: Ich werde nie jemanden kennenlernen, meine besten Jahre sind vorbei.

In der Vergangenheit habt ihr den Entstehungsprozess eurer Alben immer stark beeinflusst. Auf „Heartthrob“ habt ihr nun mit Pop-Größen wie Greg Kurstin zusammengearbeitet, der auch Alben für Pink und Katy Perry produziert hat. Konntet ihr den Produktionsprozess trotzdem steuern?

Sara: Eigenartigerweise war das eine der gemeinschaftlichsten Erfahrungen, die wir je im Studio hatten. Es gibt diese Vorstellung, dass einem die Kontrolle entzogen wird, sobald man auf einem Pop-Level mit gewissen Produzenten arbeitet. Ich kenne die überzeugtesten DIY-Indierock-Bands, die überhaupt nichts mit dem Produktionsprozess zu tun haben wollen, und gleichzeitig habe ich die allergrößten Popstars kennengelernt, die jedes kleine Detail mitbestimmen wollen. Bei uns ist es egal, mit wem wir zusammenarbeiten – ob das jetzt Chris Walla (Death Cab for Cutie, Anm. d. Red.) oder jemand wie Greg Kurstin ist. Wir haben die Kontrolle.

Tegan: Wir sind bossy bitches.
Sara: Sind wir das wirklich? Ich glaube, wir sind voller Energie und kreativer Ideen. Jedenfalls waren wir genauso involviert wie bei jeder anderen Platte.

 

Das Interview führten Vanessa Gaigg und Lisa Grabner.

Fotos: Johanna Rauch.

Zur Band: Die kanadische Band Tegan and Sara stieg spätestens mit ihrem vierten Album „So Jealous“ zur fixen Größe
in der Indierock-Welt auf. Die Band wurde vor allem durch ihre zahlreichen selbstproduzierten Kurzfilme auf YouTube und exzessives Touren in Amerika, Australien und Europa bekannt. Tegan and Sara arbeiteten unter anderem mit Against Me!, The Reason, David Guetta und DJ Tiesto zusammen. Mit „Heartthrob“, ihrem siebten Studioalbum, vollzogen sie eine Wendung zum Dance-Pop und veröffentlichten damit ihr bisher erfolgreichstes Album.

 

Verkehrte Welt

  • 25.02.2013, 17:25

Die meisten männlichen Attitüden nerven gewaltig. Wir drehen den Spieß mal um.

Breitmachmacker
Öffentlicher Verkehr ist ja eigentlich nicht nur aus stadtplanerischer Sicht unterstützenswert, sondern auch ganz praktisch: Ist man kein Bobo Rich Kid und lässt sich per Taxi durch die Gegend kutschieren, kommt man ja auch nicht drum rum. Abhängig von der Tages- oder Nachtzeit kann das aber mühsam werden: Während der Rush Hour begegnen einer im Gang stehende Kasten, die offensichtlich von den Wiener* Linien persönlich angeheuert wurden, um Türsteher zu spielen und die Sitzplätze hinter sich zu bewachen. Hat man’s an denen mal vorbeigeschafft und einen der begehrten Sitzplätze ergattert, trifft man häufig auf den Typ Breitmachmacker, der nicht nur den eigenen Sitzplatz einnimmt, sondern auch noch die Hälfte des benachbarten. Ob die schon im Kindergarten lernen, ihre Füße in eine Gretsch-Position zu bringen, die man sonst eigentlich nur im Turnunterricht beim Bockspringen braucht? Jedenfalls, ihr Macker: Ihr seid alle nicht so groß, wie ihr glaubt. In Zukunft also bitte normal sitzen, unfreiwilliges Kuscheln in Öffis ist keine so gute Idee. Sonst sitzen wir in Zukunft im Sumoringer-Style.

* insert your city.

Put your hands up!

Illustration: Christina Uhl

Wenn ihr glaubt, wir sehen das nicht: falsch gedacht. Die Hoffnung auf einen unbeobachteten Moment in der FußgängerInnenzone, im Club, im Einkaufszentrum oder an anderen dicht-bevölkerten Örtlichkeiten muss leider enttäuscht  erden. Verlieren kann man das Handy oder die Geldtasche, deswegen zur Beruhigung: Ihr müsst euch nicht die ganze Zeit versichern, dass zwischen euren Beinen noch alles hängt (oder liegt). Wir lümmeln ja auch nicht beim Fußballschauen rum und präsentieren euch unsere Kratzkünste im Intimbereich. Außerdem, ganz ehrlich: Wenn’s da wirklich die ganze Zeit juckt oder falsch liegt, solltet ihr es mal mit einer anderen Unterhose oder einer Dusche probieren.

Pissoirs für alle
Illustration: Christina Uhl

Erstmal: Die Fähigkeit, mal so nebenbei im Freien oder sonstwo stehend zu pinkeln, ist euch nicht angeboren, sondern anerzogen. Grundsätzlich ist das ja auch okay, Pissoirs auf Frauenklos sollten sowieso zur Grundausstattung jeder vernünftigen Lokalität zählen. (Für alle, die sich jetzt fragen, wie das geht: Das Werkzeug heißt Urinella und wirkt Wunder. Es gibt Frauen, die können das auch ohne. Ja wirklich. Das mit dem Anstehen hätte sich dann auch endlich erledigt.) Was das Urinieren im Freien angeht, muss trotzdem gesagt werden: Da gibt’s Grenzen der Zwangsbeglückung. Auf Autobahnraststätten zum Beispiel: Keine gute Idee. In der Innenstadt: njet. Hausmauern müssen nicht gegossen werden. Im Stadtpark: Genau – bitte verschont uns. Also, trotz Weitpinkel-Superchamp-Status: Kein Grund, überall Revier zu markieren, das macht nur die Hunde nervös.

Der Weg zum Bier

Illustration: Christina Uhl
Es gibt ja so ganz harte Typen, bei denen der Gedanke, ihr Bier mit einem Flaschenöffner aufzumachen, unter ihrer Würde liegt. Da müssen dann schon mal das Kiefer oder die hoffentlich schon gewachsenen Weisheitszähne herhalten. Oder die sogenannte Augenhöhle, die bei der Öffnungstechnik mindestens so strapaziert wird, wie das Oberkiefer und die Beißerchen. Weil das Ganze nicht wirklich als erstrebenswert, sondern eher als strunzdumm zu bewerten ist, erklären wir hier lieber die Bier-mit-dem-Feuerzeug-Öffnungstechnik. Die ist nämlich wirklich praktisch, und wer möchte schon immer zum nächststehenden Typ rennen, nur um in den Genuss eines Biers zu kommen? Und zwar geht das so: Man umschließe mit einer Hand den Flaschenhals knapp unter dem Verschluss, und zwar so, dass man zwischen Zeigefinger (oder wahlweise Daumen) und Verschluss noch ein Feuerzeug dazwischenkriegt. Dann mit dem  Zeigefinger (oder Daumen) das Feuerzeug gegen den Deckel drücken und das andere Ende des Feuerzeuges Richtung Boden drücken. Wichtig: Fest zudrücken, die Hand darf nicht verrutschen – den Rest erledigt die Hebelwirkung. Prost!

Take that!

Illustration: Christina Uhl

Wer kennt das nicht: Im Uni-Seminar, abends bei einer netten Party oder in der linken Politgruppe der eigenen Wahl – den Besserwissern kommt man nirgends aus. Die existieren zwar beiderlei Geschlechts, die Ausprägung bei den Männern dürfte aber um einiges schwerwiegender sein. Wer genug hat von ewigen Monologen, die ohnehin keinen Sinn ergeben, der seien hier Standardwortklötze empfohlen. Einfach drüberstreuen, und schon wirkt alles tiefsinniger: Ökonomie, vulgär, destruktiv, androzentristisch, progressiv, Proletariat, klassenlose Gesellschaft, Implikation, Diskurs, Bourgoisie. Und wer euch immer noch nicht glauben will, ein super Totschlagargument ist immer: „Politik ist feministisch, oder sie ist nicht links.“ (F. Haug) Nämlich.

Die Kunststücke des Lebens

  • 18.12.2012, 18:55

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Zur Linzer Premiere ihres Films kommt Ruth Klüger mit dem ICE von ihrem Zweitwohnsitz in Göttingen angereist, auf ihrem Kindle hat sie eine ganze Bibliothek gespeichert und kurz vor dem Treffen über die Situation der Frauen in Ägypten gelesen. Auf die Frage, ob sie das Interview autorisieren möchte, winkt sie ab: ,,Schicken Sie mir einfach das pdf – nicht die Printausgabe. Bücher sterben sowieso aus.’’ Dass progress-Redakteurin Vanessa Gaigg das nicht so sieht, findet sie konservativ.

progress: Am Anfang Ihres Filmes Das Weiterleben der Ruth Klüger steht das Zitat „Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar“ – wie fühlt sich das jetzt für Sie an, nach Österreich, nach Linz, zu kommen?

Klüger: Ich komm’ ganz gern her und rede mit Leuten wie Ihnen. Sie sind ja nicht mal mehr meine Kindergeneration, vielleicht meine Enkelgeneration. Linz kenne ich nicht so gut, abgesehen davon, dass es diese entsetzliche Euthanasieanstalt hier gab, die ich des Langen und Breiten besucht habe.

Sie meinen Hartheim?

Ja, dieses schöne Schloss, wo die ersten Gaskammern waren. Der Rest von Österreich ist mir überhaupt fremd, ich konnte den Dialekt auch nicht verstehen im Zug. Ich komm’ eigentlich aus Wien, ich komm nicht in dem Sinn aus Österreich.

Wie hat sich die Beziehung zu Wien verändert über die Jahre?

Das hat sich insofern verändert, als ich da jetzt Freunde habe. Das ist eine Gruppe von Frauen – es sind vor allem Frauen – die sich um die Zeitschrift AUF gebildet hat, die ja leider eingegangen ist. Aber wenn ich in Wien bin, gehe ich über gewisse Plätze und durch gewisse Straßen und man wird erinnert, dass man hier mit dem Judenstern herumgelaufen ist und ganz unsicher war, nicht  hergehört hat. Das geht nicht weg.

Im Film sieht man auch, wie Sie Ihre alte Wohnung besichtigen.

Ja, weil mein Sohn darauf bestanden hat. Aber wir konnten nicht rein, Gott sei Dank.

Der Kontrast, der Sie vor allem interessiert, ist der zwischen Opfer und Freiheit und nicht der zwischen Opfer und Täter. Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben das Gefühl erreicht, frei zu sein?

Zum ersten Mal in meinem Leben ... Das war, als wir weggelaufen sind, von diesem Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Das war ein großes Gefühl von Freiheit. Man beherrscht dann eine Situation, nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch geistig – dass man sich über die Dinge erheben kann. So, dass man nicht gebunden ist an die Täter.

Ist es wichtig, sich nicht als Opfer fühlen zu müssen?

Naja, das Opfer wird bemitleidet und als minderwertig angesehen. Und das will man natürlich nicht sein. Aber wenn Opfer einfach bedeutet, dass einem was angetan wurde, dann kommt man nicht hinweg über diesen Begriff. Aber: Man ist noch was anders. Man ist vor allem was anderes. Ich sag ja: Ich stamm’ nicht aus Auschwitz, ich stamm’ aus Wien. Wien bedeutet mir etwas, aus Wien hab ich was gemacht. Wien ist ein Teil meiner Eigenständigkeit. Aber Auschwitz nicht. Das ist der Opferteil. Und den lehn ich ab, als mir nicht zugehörig.

Als Sie und Ihre Mutter nach Amerika emigriert sind, da gab es keine Anlaufstelle oder Möglichkeit, das Erlebte mit Hilfe zu  verarbeiten.

Ja, das war eine schwere Zeit. Ich hatte das weggeschoben, was in Europa passiert ist. Und wollte einfach nur weiter, neu anfangen. Es ist alles auf mich zugekommen, Erinnerungen, Schuldgefühle, außerdem hab ich mich mit meiner Mutter nicht gut verstanden.

Ihre Mutter hat ja bis zu ihrem Tod Angst gehabt, wenn sie amerikanische PolizistInnen sah, weil sie glaubte, dass sie sie deportieren.

Sie ist paranoid geblieben bis zum Tod, aber hat ganz gut damit gelebt. Das weiß man auch oft nicht, dass die Leute, die so halb verrückt sind, ganz gut auskommen mit ihrer Verrücktheit. Meine Mutter hat New York gehasst.

Sie haben bereits als Kind Gedichte auswendig gelernt ...

Und verfasst!

... wie kam der Zugang zur Literatur so früh, wurde der familiär gefördert?

Das hat dazugehört. Ich hab angefangen mit Kinderversen. Wissen Sie, in so einem mittelständischen jüdischen Haushalt waren die Bücher einfach da.

Können Sie sich noch an Kinderbücher erinnern, die Sie gelesen haben?

Ja klar, Biene Maja und Bambi und Hatschi Bratschi – wie hieß das nur?

Luftballon?

Ja siehst du wohl – da fliegt er schon! Das war ein Nazi, der das geschrieben hat. Das hab’ ich vor einigen Jahren herausgefunden, sehr zu meinem Betrübnis. Das war so ein lustiges Buch, der konnte das. Und dann hab ich immer klassische Gedichte oder  Antologien von klassischen Gedichten gelesen. Wörter zu lernen, die man nicht versteht, das hat mich überhaupt nicht gestört. So wie man ja auch Unsinnwörter als Kind ganz gern hat.

Warum glauben Sie, dass die Kindheit so eine große Bedeutung hat?

Naja, weil ich eine Freudianerin bin. Das hat Freud entdeckt, und vorher hat man es nicht so richtig gewusst. Das ist die Wurzel von allem, man kommt nicht darüber hinweg. Freud hat gedacht, bis zum Alter von sechs, aber das geht noch weiter. Ich glaub’, da hat er die Grenze zu eng gezogen. Man hat ja früher gedacht, alles was vorgeht, bevor man so ein richtiges Verständnis hat, ist  unwichtig.

Sie beschreiben Ihre unterschiedlichen Wohnorte zwar oft als vertraut, so auch ihren Zweitwohnsitz in Göttingen, aber trotzdem schreiben Sie in ,,unterwegs verloren’’, dass man sich nirgendwo ganz wohlfühlen sollte. Wieso?

Schreib ich das?

Ja, ich habe es so interpretiert, dass man nie allen Menschen völlig vertrauen sollte, egal, wie wohl man sich fühlt.

Einerseits muss man vertrauen, wenn man überhaupt nicht vertraut, dann ist man verrückt. Das war das Problem meiner Mutter, sie hat nicht genug Vertrauen gehabt. Ich will das nicht überkandidln, aber wenn man einem Menschen gegenüber steht, musst du ihm glauben, außer, du hast einen Grund dazu, es nicht zu tun. Alles andere ist abwegig. Das steckt auch dahinter, wenn Kant so absolut gegen die Lüge  ist. Das ist das Verbrechen schlechthin. Weil die Gesellschaft nur zusammenhält, wenn man einander vetraut. Und andererseits besteht eben die Notwendigkeit, Zweifel zu hegen und zu hinterfragen. Und das auszubalancieren ist eines der großen Kunststücke des Lebens.

Für jede Person?

Für jede Person! Aber wenn man zu einer Minderheit gehört, die verfolgt wurde, dann steckt natürlich ein Misstrauen in einem, zu Recht.

Sehen Sie Feminismus immer noch als Notwendigkeit an?

Ja sicher, das ist ganz klar. Die meisten Studierenden der Geisteswissenschaften sind Frauen und die Professoren sind Männer. Bei der Belletristik ist das haaresträubend: Die meisten Leser sind Leserinnen, die meisten Rezensenten – jedenfalls für wichtige Bücher –  und Herausgeber von Zeitschriften sind natürlich Männer. Aber das weltweite Problem ist weibliche Versklavung. Damit meine ich  diese Massen von Mädchen, Kindern, aber auch erwachsenen Frauen, die Sklavenarbeit verrichten müssen oder sexuell  missbraucht werden. Das ist ein Problem, das in diesem Ausmaß früher nicht bestanden hat. Das geht uns was an. Und ich meine  eben, dass jede Missachtung von Frauen, jeder sexistische Witz und jede Form von Missachtung schon die Wurzel und die Grundlage bildet für die massivere Ausbeutung von Frauen auf anderen Gebieten. Und darum ist es wichtig, dass man auch Sprache kontrolliert. Ich bin immer schon für political correctnes. Das bedeutet ja eigentlich nur, dass man die Leute nicht beleidigt.

In Österreich ist political correctness ganz verpönt.

Ja ich weiß, aber verpönt sein sollte die political incorrectness.

Sie haben im Film angesprochen, dass sie mit dem sozialistischen Bewusstsein aufgewachsen sind, dass Schönheit bei einer Frau keine große Rolle spielen sollte. Welche Rolle spielt das jetzt mit 81?

(lacht) Dass ich meinen Lippenstift nicht finden kann und ihn auch nie verwende. Ja, mit 81 spielt das natürlich keine Rolle mehr. Warum sollte man sich schön machen wollen mit 81?

Warum vorher?

Auch nicht besonders. Das hat bei mir nie so eine Rolle gespielt, so dass ich meistens als verschlampt galt. Oder unrichtig angezogen. Ich frag’ lieber meine Freundinnen, was man sich anziehen soll. Das hat sicher auch was mit diesem frühen sozialistischen Bewusstsein zu tun, dass von den Menschen ausging, die ich auch im Lager, besonders in Theresienstadt, gekannt hab. Das waren Sozialisten und Zionisten. Dieses Jagen nach Schönheitsidealen ist etwas Bürgerliches, das abgeschafft werden soll,weil es sich nicht lohnt.

Das heißt, Sie haben ein sozialistisches Umfeld gehabt?

Ja, wenn Sie so wollen, hab ich dort irgendwie eine Grundlage für ein politisches Denken aufgegabelt, die weitergewirkt hat. Aber das war schwer zu sagen, weil wir sind nach Amerika gekommen und der Umkreis dort war liberal-demokratisch und jüdische Emigranten waren doch alle Roosevelt-Bewunderer.

Was stört Sie eigentlich an ,,Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“?

Weil’s wieder geschehen ist. Man sagt „Nie wieder“ und dann schauen Sie sich mal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren. Und das andere ist, dass das Gedenken abschrecken soll von  Wiederholungen. Aber das kann auch das Gegenteil sein, nämlich dass die Erinnerung an das, was geschen ist, auch die Neonazis inspiriert. Die sagen: Diese SS-Leute waren doch fesch! Sie schauen mich entsetzt an, das ist aber schon passiert. Der Leiter der Buchenwald-Gedenkstätte hat mir mal gesagt, dass die Neonazis nach Buchenwald gekommen sind, um ihre Versammlungen dort zu haben. Und man konnte sie nicht rausschmeißen, denn man kann ja nicht die Öffentlichkeit aussperren. Das war zumindest kurze Zeit lang ein Problem.

Das heißt, man muss der Gedenkkultur kritisch gegenüberstehen?

Mir geht das Getue an den Gedenkstätten ein bisschen auf die Nerven. Ich sehe die Heroisierung der Opfer, der Helden und Märtyrer irgendwie als falsch und verlogen an. Ich habe schon Leute empört, wenn ich sowas gesagt habe. Ein KZ war ein Saustall, eine Jauche. Das ist weder heroisch noch märtyrer-artig. Und das will man nicht hören, aber so ist meine Erinnerung.

Sie finden ja auch die Glorifizierung des Widerstands oft verlogen.

Über den Widerstand ist einiges zu sagen. Dort, wo Widerständler die Oberhand hatten, zum Beispiel in Buchenwald, hatten sie oft Gelegenheit, die Listen zu verändern, die in Vernichtungslager geschickt wurden. Und da haben sie natürlich ihre eigenen Leute geschützt und lieber Juden geschickt. Außerdem ist es ihnen überall besser gegangen, außer natürlich, wenn sie erschossen oder zu Tode gequält wurden. Aber wenn man sich Filme ansieht von der Befreiung von gewissen Konzentrationslagern, einschließlich Buchenwald, natürlich waren da alle Häftlinge verhungert, aber die Juden waren wirklich am Rande des Todes. Das andere, das ideelle daran ist, dass die Veherrlichung des Widerstands dazu führt, dass das Ausmaß des Widerstands übertrieben wird.

Es ist also auch gefährlich, wenn man sich dann im Nachhinein Schuld abladen kann, indem man daran glaubt, dass es genug oder viel Widerstand gab.

Ja. Dachau war das erste Lager, das erste KZ in Deutschland, und da war eine ganze Reihe von Politischen, aber später auch eine ganze Menge Juden. Und die werden irgendwie beiseite geschoben. Bei einem Treffen des Vorstands (Anm.: der Gedenkstätte Dachau) wurde darüber gesprochen, dass man sich hüten muss vor der ,,Auschwitzisierung’’ von Dachau. Also bitte dieses Wort ,,Auschwitzisierung’’, das heißt, dass Dachau als jüdisches Lager betrachtet wird. Was sind das für Konflikte, die da aufkommen?
Von wegen: Wer waren die ärgeren Opfer oder die bewundernswerteren Opfer? Das Ganze ist ja eine Frage, wie sowas zustande kommen kann und konnte, und was das über uns als Menschen aussagt, dass es geschehen ist.

Wie fühlt sich das an, wenn Zivildiener für die Instandhaltung der ehemaligen KZs verantwortlichsind?

Ich hab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Früher hab ich mit verschiedenen gesprochen, die das wahnsinnig ernst genommen haben. Aber ich konnte es nicht recht ernst nehmen. Aber ich respektiere das, dass sich so viele junge Leute damit auseinandersetzen wollen. Wenn sie es ernst meinen und darüber nachdenken wollen, wird vielleicht doch eine bessere Welt entstehen.

Viele Leute unserer Generation haben Angst davor, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit mehr gibt, mit ZeitzeugInnen zu reden.

Ja ich weiß, das wird fortwährend gesagt. Darum bin ich auf einmal so beliebt geworden, weil niemand weiß – ich bin 81 –, ob ich noch 82 sein werde. Das ist mit uns allen so. Aber ist es wirklich derartig wichtig? Die Vergangenheit wird in das Bewusstsein der nächsten Generation eingearbeitet, und was diese Generation damit macht, ist nicht vorauszusagen. Die Überlebenden der KZs haben weiß Gott genug gesagt und geschrieben. Nicht gleich – nicht in den ersten Jahren, aber danach. Und wenn es darauf ankommt, das Zeugnis derjenigen, die es mitgemacht haben, zu bewahren: Das haben sie. Aber es ist ein Problem, über das man natürlich nicht aufhören sollte, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das, was mich nach wie vor immer umtreibt, ist, warum gerade in Deutschland und Österreich? Das waren doch Länder, die ganz hoch gebildet waren. Als hätte man nichts gelernt in der Kindheit. Das war nicht Unwissenheit. Das ist übrigens eines der Dinge, die mich stören an diesem beliebten Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink. Da ist das Problem, dass die Verkörperung des Nazismus durch eine Analphabetin erfolgt. Und Analphabetismus hat es praktisch nicht gegeben in Deutschland. Das heißt, die Implikation ist irgendwie, dass Unwissenheit ein Grund war. Aber das war nicht der Fall. Warum ist Antisemitismus in dieser Mordsucht ausgeartet, gerade in Deutschland? Wenn Sie das herausfinden können, philosophisch oder historisch, das wär’ was.

Es gibt ja HistorikerInnen, die behaupten, die Shoah hätte in jedem Land stattfinden können.

Ja, aber sie hat nicht. Das ist der Punkt. Sie hätte können in dem Sinne, dass es überall Antisemitismus gab und zwar oft virulenten, schäumenden Antisemitismus, aber Tatsache ist, dass er nicht ausgeartet ist in Massenmord.

In Israel gibt es viele junge Menschen, die sich die KZ-Nummern von ihren Großeltern eintätowieren lassen.

Ich hab das gehört, das ist irre. Das ist eine Mode, die ich ablehne.

Die Anschrift der Universität Wien hat ja bis vor kurzem noch Karl Lueger im Namen getragen.

Ich habe mich vor langer Zeit aufgeregt über diese fortwährende Bewunderung für den Lueger. Er hat ja noch immer dieses blöde Denkmal am Karl Lueger Platz, nicht? Zumindest eines weniger!

Im Film gibt es eine Szene, wo Sie mit einem langjährigen Freund, Herbert Lehnert, diskutieren. Der war Wehrmachts-Soldat.

Ja, und ein Nazi, sagt er selber. Wie kann man da befreundet sein? Er ist es ja schon längst nicht mehr. Der ist durch die amerikanische Re-education völlig bekehrt und kein Faschist. Das ist ein guter Demokrat, aber es steckt eben noch immer  irgendwas in ihm – das diese Vergangenheit nicht vertuschen will – aber ein bisschen leichter machen will. Und darüber sprachen wir eben in der Filmszene, wie wir herumgelaufen sind am Strand. Um diese Stelle noch einmal zu rekapitulieren: Er sagt: ,,Die Nazizeit war nur eine Epoche von zwölf Jahren in einer Geschichte, die 1200 Jahre alt ist.“ Meine Antwort darauf wäre: Wenn ein 40Jähriger vor Gericht steht und sagt: Ich habe nur einen Nachmittag gebraucht, um meine Familie und die Nachbarn umzubringen, und der Rest meiner vierzig Jahre war ich unschuldig, so ist das eigentlich kein Alibi. Das hängt von der Tat ab und nicht von der Länge. Die Nazizeit ist ein gewaltiger Einschnitt in die deutsche Geschichte und es ist nicht eine Frage, wieviele Jahre sie angedauert hat. Wir haben verschiedene Perspektiven. Aber: Haben Sie nicht schon genug? Ich glaub’ ich bestell jetzt diese Grünkernknödel mit rotem Rübengemüse.

Das war wirklich meine letzte Frage. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Vanessa Gaigg.

Angst und Bange

  • 09.11.2012, 17:43

Der Hochschulzugang war in Österreich noch nie frei. Die Bundesregierung hat beschlossen, die Barrieren auszubauen.

Der Hochschulzugang war in Österreich noch nie frei. Die Bundesregierung hat beschlossen, die Barrieren auszubauen.

Architektur, Biologie, Informatik, Pharmazie und Wirtschaftswissenschaften: Nach dem derzeitigen Stand der Verhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP sollen diese fünf Studienfächer in Zukunft beschränkt werden – also nur nach erfolgreich bestandenem Aufnahmetest studiert werden können. Von Seiten der Bundesregierung hält man sich über die Bestätigung genannter Fächerauswahl zwar noch bedeckt, die Auswahl gilt jedoch als sehr wahrscheinlich.

More of the same. Seit Monaten verhandeln SPÖ-
Wissenschaftssprecherin Andrea Kuntzl und Wissenschaftsminister Karl-Heinz Töchterle (ÖVP) bereits über neue Zugangsbeschränkungen im Hochschulbereich. Diese läuten eine neue Zeit der Zugangsbeschränkungen jedoch nicht erst ein, sondern sind lediglich eine weitere Draufgabe zu den bisherigen Regelungen. Bereits 2011 wurde mit der verschärften Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) eine Zugangsbeschränkung eingezogen, die für viele auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar war: Die neuen Bestimmungen sollten Studierenden offiziell lediglich zu mehr Orientierung und Klarheit bezüglich ihrer Studienwahl verhelfen. Die Umsetzung der neuen Orientierungsphase wurde den Universitäten weitgehend autonom überlassen, die gesetzlichen Bestimmungen hielten die Universitäten zum Beispiel nicht zwingend an, nur zwei Prüfungsantritte zu ermöglichen, mit denen sich viele StudienanfängerInnen aber konfrontiert sahen. Die verpflichtende STEOP wurde von vielen RektorInnen als willkommenes Instrument zum Rausprüfen von Studierenden aus Studienrichtungen mit nicht ausreichenden Kapazitäten verwendet. Besonders rigoros wurde die STEOP an der Uni Wien gehandhabt, die Durchfallsquoten waren enorm. Nur sieben Pharmazie-StudienanfängerInnen konnten beispielsweise die STEOP beim ersten Versuch positiv abschließen, bei einer Umfrage der ÖH Bundesvertretung unter knapp 2000 STEOP-Prüflingen gaben rund 80 Prozent an, die STEOP verursache verglichen mit ihrem Nutzen zu viel Druck, knapp 65 Prozent finden nicht, dass „die STEOP die im Gesetz genannten Ziele erreicht“. Auch nach den katastrophalen Erfahrungen mit der STEOP und der Einsicht von Wissenschaftsminister Töchterle, dass diese von den Universitäten „teilweise missbraucht“ werde, werden flächendeckene Zugangsbeschränkungen als Fortführung der STEOP verhandelt.

Doch auch vor der Einführung der STEOP gab es keinen freien Hochschulzugang in Österreich. An vielen Hochschulen wie Fachhochschulen oder den Pädagogischen Hochschulen, Kunstuniversitäten sowie einzelnen Studienrichtungen an den wissenschaftlichen Universtitäten gab und gibt es Aufnahmeprüfungen, die eineN für das jeweilige Studium erst berechtigen. Die Matura oder die Studienberechtigungsprüfung als Studiumsvoraussetzung reicht an vielen Hochschulen längst nicht mehr aus. Für viele StudienanfängerInnen heißt es nach der Matura gleich Weiterlernen für die erste Prüfung auf der Uni, noch bevor das Studium überhaupt begonnen hat. Teure Vorbereitungskurse und Insiderinfos werden für viele zum unbezahlbaren Vorteil, um das eigene Wunschstudium aufnehmen zu können. Carina Strasser, Studienanfängerin an der Uni Wien, holte sich bereits nach dem ersten Überfliegen der Prüfungslektüre für ihr Wunschstudium Psychologie in Wien Hilfe: „Ich habe mit anderen zusammen gelernt und zusätzlich einen Vorbereitungskurs besucht, der rund 200 Euro gekostet hat. Dafür ging mein Erspartes drauf.“ Doch nicht alle können sich den Luxus eines Vorbereitsungskurses leisten, auch wenn dieser oft notwendig ist, um die Prüfung zu bestehen. Der Konkurrenzdruck unter den Prüflingen war spürbar groß: „2000 AnwärterInnen, die mit mir um einen Studienplatz rangen, machten mir schon Angst und Bange.“

Diese Prozedur steht David Riegler, Absolvent eines BORG im ländlichen Oberösterreich, noch bevor. David kann sich einen Vorbereitungskurs nicht leisten: „Die sind sehr teuer. Ich könnte mir auch während des Studiums keine Nachhilfe oder kostenpflichtige Kurse leisten.“ Er bereitet sich so wie viele andere StudienanwärterInnen im Selbststudium vor. „Das ist natürlich auch mit Kosten verbunden.“

Wirklich geeignet? Auf die meisten StudienanfängerInnen übt die Tatsache, dass es für das jeweilige Wunschstudium Zugangsbeschränkungen gibt, einen großen Einfluss aus. Auch Carina und David haben sich ihre Studienwahl mehr als einmal überlegt, obwohl sie für Psychologie am meisten Interesse gezeigt haben: „Man muss sich absolut sicher sein, noch bevor das Studium überhaupt begonnen hat“, sagt David.

Besonders bei prestigeträchtigen Studienrichtungen wie Medizin wirken sich Beschränkungen fatal auf die sogenannte soziale Durchmischung aus: Vergleicht man den Anteil von ArbeiterInnenkindern im Medizinstudium mit dem ähnlich prestigeträchtigen Jusstudium, das ohne Aufnahmetest auskommt, muss man feststellen, dass sich die StudentInnenschaft in ersterm wesentlich elitärer zusammensetzt. Werden nun auch die Medizin-Ausweichstudien Biologie und Pharmazie beschränkt, wird sich dieser Trend verstärken.

Auch anerzogene Geschlechterrollenbilder werden durch Beschränkungen verstärkt: Während mehr Frauen Psychologie als Wunschstudium anstreben, streben zugangsbeschränkte technische Studienrichtungen unverhältnismäßig mehr Männer an. Die Wahrscheinlichkeit, ein Studienfach zu wählen, das außerhalb der rollenbilderbehafteten Normen liegt, wird durch Beschränkungen verringert. Diese Erkenntnisse gehen unter anderem aus dem Studierendensozialbericht 2011 hervor, der gerade vom Institut für höherere Studien (IHS) präsentiert wurde.

Im Kontrast dazu steht das Orientierungs- und Informationsangebot über die verschiedenen Studienrichtungen in den Schulen. Besonders außerhalb Wiens, im ländlichen Raum, ist es schwierig, nicht nur oberflächliche Informationen durch engagierte KlassenlehrerInnen zu bekommen. Carina hat es schließlich geschafft, sie darf nun ihren Bachelor in Psychologie machen: „Insgesamt hätte ich ohne Kurs den Test sehr wahrscheinlich nicht bestanden, da ich diese speziellen Fragen und Methoden nicht gekannt hätte. Es war ein großer Teil zum Lehrbuch, circa fünf Seiten Statistik-Fragen und ein vierseitiger Text zu englischer Fachliteratur, weit weg von Englisch auf Maturaniveau.“

StudienanfängerInnen als Management-Aufgabe. Sieht man von der sozialen Chancenungerechtigkeit bei Zugangsbeschränkungen ab, und versteht Hochschulen als Unternehmen, die sich ihre MitarbeiterInnen selbst aussuchen können, bliebe immer noch die Möglichkeit, durch Aufnahmetests die Geeignetsten der BewerberInnen herauszufiltern. Doch auch die birgen ihre Tücken: Barbara König hat nach ihrer Matura an einem niederösterreichischen Gymnasium die Aufnahmeprüfung für die FH Campus Wien geschafft. Neben einem mathematischen und allgemeinbildenen Prüfungsteil folgte ein personenbezogener Teil, der dazu dienen sollte, die StudienanfängerInnen besser kennenzulernen. „Dort wurden mir Fragen gestellt wie: Werden sie leicht aggresiv? Fühlen Sie sich in ihrem FreundInnenkreis wohl? Oder Mögen Sie sich selbst? Das finde ich dann doch zu persönlich.“

Nachlese:

Was heißt Gerechtigkeit?

Gesichter der STEOP

Reaktionäre Reaktionen

Was heißt Gerechtigkeit?

  • 09.11.2012, 17:02

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg
traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

Barbara Rothmüller hat im Auftrag der Akademie der bildenden Künste in Wien deren Zulassungsprüfung auf soziale Gerechtigkeit untersucht. Vanessa Gaigg traf die Studienautorin an ihrer Arbeitsstelle am Institut für Soziologie an der Linzer Johannes Kepler Universität.

progress: Wie bist du zu dem Projekt gekommen?

Barbara Rothmüller: Das hat 2008 begonnen, als es an der Akademie eine Arbeitsgruppe zum Thema Antidiskriminierung gab. Man wollte sich einerseits anschauen, wer sich überhaupt für das Studium bewirbt und andererseits, ob im Zuge der Zulassungsprüfung bestimmte BewerberInnengruppen benachteiligt werden.

progress: Gibt es Verfahren, die fairer sind, als andere?

Rothmüller: Das ist schwierig. Es gibt unterschiedliche Probleme bei den verschiedenen Verfahren. Bei offenen Verfahren wie zum Beispiel an dem untersuchten Institut für bildende Kunst an der Akademie gibt es den Vorteil, dass man auf die Bedürfnisse der BewerberInnen besser eingehen kann, was ein Problem ist bei den stark standardisierten Verfahren wie dem EMS (Aufnahmetest für das Medizinstudium, Anm. d. Red.). Man muss sich überlegen, was Fairness in diesem Zusammenhang heißt. Wenn das Gleichbehandlung heißt, kann das der EMS gut sicherstellen.

progress: Aber bei standardisierten Tests haben Persönlichkeitsmerkmale trotzdem einen starken Einfluss.

Rothmüller: Ja, das ist das andere Problem, dass solche Tests natürlich nie neutral sind. Sie können auch indirekt benachteiligen, wenn sie Kriterien anwenden, die bestimmte Gruppen systematisch seltener erfüllen können. Auf der Medizin hat man aber auch einen geringen Anteil von Leuten mit niedriger sozialer Herkunft, das ist schon ein relativ elitäres Studium. Mit der Einführung des Tests ist der Anteil nochmal zurückgegangen.

progress: Verstärken Zugangsbeschränkungen die sozialen Hürden also?

Rothmüller: Was bei unserer Befragung auffällig war, war dass der Anteil von BewerberInnen niedriger sozialer Herkunft im Zuge des Verfahrens nochmal geringer wurde. Und dabei war es sowieso eine geringe Anzahl, die sich überhaupt beworben hat aus dieser Gruppe.

progress: Welch besondere Rolle nehmen Kunstuniversitäten da ein?

Rothmüller: Es gibt in den letzten Jahren den Versuch, die formale Durchlässigkeit im Bildungssystem zu erhöhen, das heißt, dass man zum Beispiel nicht nur mit der klassischen Matura studieren kann, der Zugang also erleichtert wird. Dadurch erhofft man sich, die so genannten „bildungsfernen Schichten“ eher ins Studium zu leiten. Was man an den Kunstunis jetzt sehr gut sehen kann, ist, dass diese Strategie eigentlich nur begrenzt aufgehen wird. Weil die meisten Kunststudien konnten immer schon ohne Matura, also ohne formale Voraussetzungen, studiert werden. Und trotzdem ist das offenbar kaum eine Option für Leute mit niedriger sozialer Herkunft. Wenn nicht mehr alle Matura haben müssen, dann versucht man im Gegenzug die Vorkenntnisse über diese Zulassungsverfahren zu kontrollieren.

progress: Ist das finanzielle Aushungern der Unis eine bewusste Taktik, um Zugangsbeschränkungen argumentierbar zu machen?

Rothmüller: Das hat tatsächlich die SPÖ mal in ihrem Bildungsprogramm geschrieben, da war sie aber noch in der Opposition. Sie hat gesagt: Man zwingt die Unis zu Zugangsbeschränkungen, weil ihnen das Geld fehlt, das sie brauchen. Aus einer Organisationslogik heraus macht das auch Sinn, wie soll man mit den Ressourcenengpässen umgehen? In Wirklichkeit ist das natürlich ein Problem, das von der Politik kommt und an die Unis weitergegeben wird, die das wiederum an die Studierenden weitergeben.

progress: Inwiefern kann der Begriff des offenen Hochschulzugangs als Euphemismus gesehen werden?

Rothmüller: Der offene Hochschulzugang ist ein Idealbild, das mit der Realität schon länger nicht viel zu tun hat. Bei den Kunstunis, den FHs und den Sportstudien gab es immer schon Zulassungsverfahren. Und interessanterweise sind die Studierendenproteste 2009 ja von der Akademie ausgegangen, gleichzeitig ist es dort sehr traditionsreich, Zulassungsverfahren zu haben, und das wird auch nicht in Frage gestellt. Das fand ich fast schon ein bisschen irritierend. Wenn man von „offenem Hochschulzugang erhalten“ spricht, übersieht man also, dass es da schon längst Einschränkungen gibt.

progress: Gab es überhaupt jemals so etwas wie einen offenen Zugang?

Rothmüller:Theoretisch ja, praktisch eher nein. Die Bildungs- und Berufswahl war und ist in Österreich extrem sozial selektiv. Weil diese Selbstselektion, wie das in der Bildungssoziologie heißt, so stark ist, hat es vielleicht sogar so lange einen zumindest theoretisch offenen Zugang gegeben. Selbstselektion ist aber auch ein problematischer Begriff – er spielt auf eine naturhafte Auswahl, eine Auslese an, als wäre das nicht ein sozial ausverhandelter Prozess. Und er suggeriert, dass es da um eine Auseinandersetzung der Individuen mit sich selbst ginge, und möglicherweise sogar noch eine bewusste. Tatsächlich kann man aber sehen, dass diese Selbstausschlussprozesse hochkomplex und meistens eine Folge von sozialem Ausschluss sind, der auf eine bestimmte Art verinnerlicht wird.

progress: Wie kann man mehr Leuten ermöglichen, diesen Ausschlüssen zu entgehen?

Rothmüller: Das ist nicht nur, aber schon auch Aufgabe der Unis. Weil wenn uns bekannt ist, dass Frauen, oder Menschen je nach sozialer Herkunft, in bestimmte Richtungen driften, dann müssen die Unis bis zu einem gewissen Grad auch Verantwortung übernehmen und gegensteuern. Und sich Konzepte überlegen, wie sie dafür Sorge tragen, dass alle Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrer Anteile auch an den Unis repräsentiert sind. Ich finde, es gibt gute Gründe, dass man das gesellschafts- und hochschulpolitisch als Ziel hat.

progress: Warum gibt es beim EMS so starke geschlechtsspezifische Unterschiede?

Rothmüller: Darüber zerbrechen sich einige ForscherInnen den Kopf, darauf gibt es verschiedene Antworten. Möglicherweise liegt es am Schulsystem. Man hatte früher ein ähnliches Problem in den USA beim zentralisierten SAT-Test. Da gab es zuerst eine Benachteiliung der Männer, daraufhin wurde der Test korrigiert. Dann waren umgekehrt die Frauen benachteiligt und dann wollten sie ihn nicht mehr korrigieren. Es ist also immer auch eine Machtfrage. Es gibt natürlich noch andere Benachteiligungskategorien, die man sich anschauen müsste. Soziale Herkunft etwa klingt immer so abgedroschen, ist aber nach wie vor ein Riesenproblem.

                                                                                                                                                                                           

progress: Gibt es eine Möglichkeit von fairen Zugangsbeschränkungen?

Rothmüller: Naja, ich will nicht ausschließen, dass das irgendwie erreichbar ist, aber im Moment sicher nicht so einfach, wie die Leute sich das vorstellen. Vor allem sehe ich keine Debatte darüber, was soziale Gerechtigkeit beim Studienzugang heißt. Wenn Leute bestimmter Fraktionen oder Parteien sagen: „Es muss fair sein“ denk ich mir ja natürlich muss es fair sein, kein Mensch würde sagen: „Ich bin für unfaire Zulassungsverfahren!“ Aber es macht sich niemand drüber Gedanken, was heißt das, Fairness und soziale Gerechtigkeit? Wie ist es systematisch sicherzustellen? Das muss endlich gesellschaftlich ausverhandelt werden und nicht nur als Rhetorik verwendet werden, um möglichst wenig Widerspruch gegen die Einführung von allen möglichen Verfahren zu haben.

progress: Woran liegt es, dass es so wenig Datenmaterial in diesem Bereich gibt?

Rothmüller: Ich weiß es nicht, möglicherweise daran, dass Gerechtigkeit insgesamt nur von eingeschränktem Interesse ist.

Nachlese:

Angst und Bange

Gesichter der STEOP

Reaktionäre Reaktionen

2000 Feministinnen in Wien

  • 10.10.2012, 15:51

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

progress: Wie seid ihr zum Fußball gekommen?

Lisi: Ich bin vor ungefähr drei bis vier Jahren dazugekommen. Als Kind bin ich nie auf die Idee gekommen, Fußball zu spielen, weil ich nie eine Frau gesehen habe, die das macht – ich bin da ‚klassisch weiblich’ sozialisiert worden. Ich hab dann erst auf der USI (Universitätssportinstitut, Anm. d. Red.) einen Kurs gemacht und es hat mir so Spaß gemacht, dass ich weiter spielen wollte. Dann bin ich auf die ballerinas gestoßen, die sich da gerade neu formiert haben.

Cécile: Ich bin 2007 dazugestoßen. Fußball ist ein Bestandteil meines Lebens seit ich klein bin – immer, immer, immer. Ich hab semi-professionell gespielt, aber aufgehört, weil ich mit dem Kontext Fußball nix mehr anfangen konnte. Die Gewalt am Feld, die Gewalt in der Kantine, die Gewalt in der Vereinsstruktur. Da hatte ich Fußball für mich abgeschrieben. Dann hab ich die ballerinas getroffen und mir gedacht: na gut, ich probier's noch einmal. Fußball ist für mich das schönste und intelligenteste Spiel, das ich je gesehen und erlebt habe. Und hier funktioniert's: Es geht ums Spielen, dass ein Pass ankommt, dass man mitläuft, dass man überlegt und dass man als Team funktioniert.

progress: Euch ist vor allem wichtig, dass ihr schön zusammenspielt, es geht nicht nur ums Gewinnen. Ist das ein wesentlicher Abgrenzungspunkt zu anderen Teams?

Lisi: Es ist sehr wichtig für uns, dass es wirklich ums Fußballspiel geht. Wir sind ein Team und wir wollen gemeinsam spielen. Es gibt bei uns Leute wie Cécile, die seit ihrer Kindheit spielen und Leute wie mich, die erst später dazugestoßen sind. Uns ist total wichtig, dass alle mitspielen können und nicht einige wenige die Tore reinbrettern, weil das geht schnell einmal. Natürlich wollen wir  Bälle ins Tor bringen, aber es geht schon sehr stark drum dass wir gemeinsam spielen und schön spielen. Und wir sind schon oft auf Turnieren angesprochen worden, dass wir am schönsten gespielt haben, auch wenn wir letzte geworden sind. 

progress: Wie hat sich die Gewalt geäußert?

Cécile: Damit meine ich zum Beispiel eine Schlägerei am Feld, nicht nur ein Foul, sondern die Gegnerinnen treten und in der Kabine noch erklären, dass Fussball Krieg ist. Weil es geht ums Siegen, nur ums Siegen. Dann – klar – gibt es noch die strukturelle Gewalt zwischen Männern und Frauen. Die Frauen kriegen den Platz zum Trainieren, wo es kein Flutlicht gibt, das heißt du trainierst im Dunklen oder nur mit Straßenlaternenlicht. Der Verein hat im Winter keine Kohle, damit du in der Halle trainieren kannst, also heißt's auch im Jänner oder Februar draußen zu trainieren... das ist auch nicht so lustig. Und dann natürlich noch die Homophobie, alle Fußballerinnen sind lesbisch, und so weiter. Das ist eine Struktur, die sich durchzieht.

progress: In eurem Manifest steht, dass ihr bewusst außerhalb jeglicher Vereinsstrukturen spielt. Warum ist euch das wichtig?

Cécile: Ein Verein hat eine Struktur, eine Hierarchie, eine Hackordnung... und das wollen wir nicht. Wir haben keine TrainerIn, keine Kapitänin, keine Sprecherin, wir sind ein Kollektiv.

Lisi: Wir gehören schon dem schwul-lesbischen Sportverein Aufschlag an, aber das eher aus praktischen Gründen. Das ist kein Fussballverein, das heißt wir sind relativ autonom.

progress: Gibt es Vereine, mit denen ihr befreundet seid?

Cécile: Ja, mit den Gaynialen schaffen wir es, ein bis zwei Mal im Winter zu trainieren. Seit kurzem haben wir auch Kontakt zu acht weiteren Teams, wir versuchen das auf jeden Fall zu intensivieren.

progress: Wie schätzt ihr die Situation von Frauenfußball in Wien ein?

Lisi: Es wird besser, aber es wird noch lange nicht ernst genommen. Ich weiß nicht, wie das ist mit professionellen Vereinen, aber ich merke in meinem privaten Umfeld, dass es immer noch schwierig ist. Es gibt extrem viel Sportförderung für alles, was mit Männerfußball zu tun hat, aber wenn Frauenfußballinitiativen mal um Förderungen ansuchen, dann ist plötzlich kein Geld da.

Cécile: Ich habe mein Leben lang beim Vater/Sohn Turnier zusehen müssen, weil ich eben nicht der Sohn meines Vaters bin. Ich will endlich mal ein Mutter/Tochter Turnier sehen, ich hätte gerne, das andere das erleben dürfen.Wir wollen im Schweizergarten (in Wien, Anm. d. Red.) einen gesperrten Platz haben für Mädchen zum Fußball spielen beziehungsweise Sport treiben. Wir versuchen seit zwei Jahren, das durchzukämpfen. Nach dem Turnier wollen wir das wieder in Angriff nehmen. Wir wollen einen Platz mit Kabine und Platzwart, wir würden sogar zwei Arbeitsplätze in Wien schaffen. (lacht)

Lisi: Die Mädchen werden immer von Burschen vertrieben und können nicht spielen. Deswegen ist auch die Notwendigkeit da, einen eigenen Bereich zu schaffen, wo sie spielen können. Das sichtbar zu machen ist ganz wichtig - deswegen war es uns auch ganz wichtig, das Turnier draußen zu veranstalten, dass man uns sieht und wenn man vorbeikommt sieht: Die haben Spaß!

Cécile: Und es sind viele!

Lisi: Ja, es sind sehr viele! Es spielen 16 Teams und 145 Spielerinnen.

progress: Wie habt ihr das Turnier organisiert? Von den 145 Spielerinnen sind ja viele auch extra angereist.

Cécile: Ja, es sind auch Teams aus Polen, Deutschland und England angereist. Wir haben uns anfangs jedes Monat, später jede Woche getroffen. Jede von uns hat sich verpflichtet, ein Jahr dabei zu sein und nicht abzuspringen.

Lisi: Wir wollten eben nicht nur das Turnier organisieren, sondern haben auch eine Ausstellung zu Lesben und Schwulen im Sport aufgestellt und wir haben einen Infotisch mit Infomaterial. Wir wollen nicht nur spielen, sondern auch einen politischen Anspruch haben.

Cécile: Wir haben Glück gehabt, dass gleichzeitig die FrauenSommerUni (FSU) und rampenfiber stattgefunden hat. Es sind an die 2000 Feministinnen in Wien! Nicht nur Frauen, sondern: Feministinnen! Es gibt Sport, Kultur und Bildung: Feminismus lebt und wird gelebt.

progress: Besitzt Fußball mehr emanzipatorisches Potential als andere Sportarten? Gerade was feministische Belange angeht?

Lisi: Theoretisch nein, praktisch ja. Es ist so, dass Fußball nach wie vor in der Welt, in der wir leben sehr stark mit diesen seltsamen Männlichkeitsbildern aufgeladen ist und ich deswegen schon glaub', dass es einfach eine gewisse emanzipatorische Wirkung haben kann, wenn man als Frau Fußball spielt.
Wenn wir im Prater oder auf der Donauninsel trainieren passiert es uns oft, dass Männer stehen bleiben und wenn wir den Ball grad rausschießen, müssen sie vorher unbedingt noch Tricks machen, bevor sie ihn zurückschießen. Bei einem Männerteam macht das niemand. Je mehr Frauen in der Öffentlichkeit Fußball spielen, umso mehr kann es auch verändern. Auch das Selbstbild von Frauen ändert sich dadurch. Zumindest meines hat sich dadurch verändert.

Cécile: Klar, weil du exponiert bist. Du bietest eine Angriffsfläche.

Lisi: Und Fußball ist auch ein Kontaktsport.

Cécile: Ja, du bist verschwitzt, rutscht am Boden, bist dreckig, fällst und stehst wieder auf.

 

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