Simon Sailer

Pandazeit

  • 13.12.2016, 19:12

Der Panda sitzt als Chiffre des Glücks im Zentrum des bislang längsten Romans von Clemens Berger, Sinnbild einer neuen besseren Welt.

Dabei bürdet Berger dem in Schönbrunn geborenen Pandababy einiges auf. Es muss nicht nur die Besucherinnen entzücken, sondern seiner Pflegerin Rita eine Stimme verleihen und dabei noch die beiden großen Erzählstränge zusammenhalten, die sich in „Im Jahr des Panda“ abwechseln. Einer erzählt vom Leben des schwer reichen Künstlers Kasimir Ab, von dessen Krisen, Exzessen und Erlebnissen. Der andere von Pia und ihrem Freund Julian, die als BankomatbefüllerInnen in die Lage kommen, sich mit einer halben Million Euro abzusetzen. Als geübter Erzähler versteht Berger, Situationen, Orte und Charaktere farbenreich in einer klaren, wortreichen Prosa unterhaltsam zu beschreiben. Auch wenn man ihm das ein oder andere Klischee nachsehen muss, kommt Langeweile nur in den Passagen auf, in denen der zuweilen allzu redselige Panda uns mit seinem Alltag quält.

Clemens Berger der Spieler Schon der Roman „Das Streichelinstitut“, der Berger zurecht breitere Aufmerksamkeit verschaffte, spielte mit dem Verhältnis der Erzählhandlung zur Wirklichkeit des Autors. Im Streichelinstitut entscheidet ein junger Mann, der wie Berger selbst Philosophie studiert hat, sich unternehmerisch als Streichler zu versuchen. In „Im Jahr des Panda“ erhält er als „Streichelmonster“, das sich inzwischen als Schriftsteller versucht, mehrere Gastauftritte. Wie der Streichler versucht Berger mit seinen Büchern marktgemäß zu bleiben, reflektiert aber die Folgen, die diese Anpassung bei ihm auslöst, in seinen Romanen.

Nicht zufällig verwandeln sich alle seine Figuren zu Künstlerinnen, wenn sie es nicht, wie Kasimir, ohnehin schon sind. Ein Maler, dessen Spezialität es ist, Hände zu malen. Rita, die Pandapflegerin beginnt, mit Pandas Stimme ein Tagebuch zu verfassen und mutiert zur Schriftstellerin. Pia beschreibt auf der Flucht die Welt mit Kalendersprüchen benjaminisch aus der Perspektive ihrer Erlösung.

„Die Ampel war auf rot“ Spielerisch geht Berger auch mit der Theorie um, die sich meistens in dezenten Anspielungen versteckt, auf Walter Benjamin, auf Sigmund Freud, auf Theodor W. Adorno und Karl Marx. Manchmal verweist er so fein, dass man nicht sicher ist, ob man sich den Bezug nur einbildet. Etwa wenn er Pia denken lässt: „Natürlich, Liebe. Was sonst?“ und für Georg Kreisler geschädigte die Melodie von „Wenn nicht Liebe, was sonst“ anklingt. Direkte Zitate gibt es nie, einmal erinnert sich Kasimir nicht an Walter Benjamin, der in der Einbahnstraße das Werk als Totenmaske der Konzeption beschreibt.

Diese Anspielungen freuen natürlich jene, die sie entdecken. Der Autor zwinkert der Leserin zu und sie versteht. Das erzeugt ein Gefühl der Vertrautheit. Man ist sich ähnlich. Vielleicht besser als jene, an denen diese Spielereien unbemerkt vorbeigehen oder nur den vagen Eindruck von Hintergründigkeit spürbar machen. Jedenfalls ist man mit ihm verbündet, denn Berger ist schließlich ein Linker.

Trojanischer Panda. Zu seinem Glück, lässt er das nicht immer heraushängen. Zuweilen ist „Im Jahr des Panda“ ein trojanisches Pferd. Der Roman kommt leicht und niedlich daher. Es geht schließlich um Pandas, wer liebt sie nicht? Aber es ist kein Roman über Pandas, sondern über den Kapitalismus und über das Geld. Nicht die flüchtigen Berührungspunkte zwischen den Künstlerproblemen Kasimir Abs und Pias und Julians Raub verbinden die beiden Geschichten, sondern sie beziehen sich indirekt aufeinander. Kasimir kauft sein eigenes Bild um dreihunderttausend Euro zurück, um es für sechshundert an einen zu verkaufen, der es wirklich mag. Sein Verhalten rückt den Raub einer schlappen halbe Mille in Proportion. „Kleine Fische“ sind Pia und Julian, das geht ihnen schließlich auf. So wie ihnen an manchen Stellen fast die Trostlosigkeit ihres neuen von Arbeit unbeschwerten Lebens dämmert. Es gibt keine Freiheit, ohne der Freiheit aller.

Zahme Verbrecher. Leider sind diese Realisationen selten und es überwiegt ein grundloser Optimismus für den der geschwätzige Panda wirklich ein geeignetes Sinnbild gibt. Überhaupt hält sich Berger in seinem neuen Buch an das adornosche Motto, das er dem Streichelinstitut vorangestellt hat, die Menschen seien immer noch besser als ihre Kultur. Diese Menschenfreundlichkeit ist ihm kaum vorzuwerfen, aber nach ein paar hundert Seiten Nerven diese VerbrecherInnen, die nichts Falsches tun. Pia und Julian rauben eine Bank aus, sie nehmen nur das tote Geld, das in den Bankomaten liegt und die Bank sei ohnedies versichert. Kasimir Ab bringt es zu einer Entführung, aber er entführt nur sich selbst, was ihn dennoch so erschreckt, das er über Nacht ergraut. Und immer wieder brabbelt der Panda.

Dann, dann, dann. Gegen versöhnliche Enden ist einiges zu sagen, aber in diesem Falle muss eines her. Denn man muss Clemens Berger lesen. Wenn nicht den Panda-Roman, dann „Die Wettesser“ oder „Das Streichelinstitut“. Es gibt keinen, der Linke beschreiben kann wie er. Mit entlarvender Genauigkeit, mit Humor und ohne einer Figur unrecht zu tun, denn er liebt sie alle. „Im Jahr des Panda“ ist ein Roman über die Möglichkeit eines besseren Lebens, eine Fantasie einer besseren Welt. Er ist sicher auch der Versuch, mit Farbe einen Abdruck an der Höhlenwand zu hinterlassen, die eigene Hand fragend in die Zukunft zu strecken. Er stellt Fragen nach dem Sinn von Kunst und Literatur. In einer Szene kommt Kasimir Ab ob seines immensen Erfolgs zu dem Schluss, es habe immer noch ein Wenn gegeben. „All diese Wenns hatten immer ein Dann versprochen: Dann wäre er ruhig, dann wäre er glücklich, dann könnte er durchatmen, dann wäre er der, der er immer hatte sein wollen, dann wäre alles gut.
Dann, dann, dann.“

 

Clemens Berger, Im Jahr des Panda. Luchterhand, 2016.

Dwarf Fortress trifft Firefly

  • 18.06.2016, 15:15
Der vom Kultspiel Dwarf Fortress inspirierte Builder Rimworld überträgt Spieler*innen die Aufsicht über eine kleine Weltraumkolonie in einer atmosphärischen Sci-Fi-Western-Welt.

Der vom Kultspiel Dwarf Fortress inspirierte Builder Rimworld überträgt Spieler*innen die Aufsicht über eine kleine Weltraumkolonie in einer atmosphärischen Sci-Fi-Western-Welt. Es gilt, eine Gruppe Gestrandeter dabei zu unterstützen, in einer feindlichen Umgebung eine florierende Kolonie aufzubauen. Aus wenigen Anfangsmaterialien müssen die Bewohner*innen eine Basis errichten, Nahrungsmittel beschaffen und sich gegen wilde Tiere und feindliche Nachbar*innen verteidigen. Die an die Fernsehserie Firefly angelehnte Ästhetik von Rimworld kann mit wechselnden Wetterbedingungen und einem Tag-Nacht-Wechsel aufwarten, die sich auf das Spielgeschehen auswirken. Ein Gewitter kann schon einmal einen Kurzschluss auslösen und die Stromversorgung lahmlegen, und in heißen Umgebungen macht die Hitze den Kolonist*innen zu schaffen. Verschiedene Tiere können gejagt oder gezähmt werden.

Aber nicht nur die Umgebung ist detailliert simuliert, jeder Charakter weist ein individuelles Set von Eigenschaften auf. Darunter fallen nicht nur die verschiedenen Talente und Fähigkeiten, sondern auch Charakterzüge, Krankheiten und Verletzungen. So kann eine Bewohnerin beispielsweise eine talentierte Technikerin sein, aber durch eine Rückenverletzung in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt werden. Obwohl sich das Spiel erst in einer späten Alpha befindet, gibt es bereits eine aktive Modding-Community. Das kleine kanadische Ludeon Studio weiß um die Wichtigkeit von Mod-Unterstützung, die einem Projekt dieser Art Leben einhaucht.

Rimworld ist eine Sandbox, die der Kreativität und Fantasie der Spieler*innen bedarf. Mithilfe der Mods ist es möglich, das Spiel schwieriger zu machen, neue Gegenstände und Akteur*innen in die Welt einzuführen und sogar neue Spielmechaniken zu implementieren. Jede neue Alpha integriert neue Features in das schon jetzt abwechslungsreiche Spiel. Bei der gerade erschienenen Alpha 13 wurde etwa die Simulation der sozialen Beziehungen unter den Kolonist*innen vertieft, ein Permadeath-Modus eingeführt, der das Laden eines früheren Spielstands verunmöglicht, und eine Vielzahl neuer Tiere und Insekten bevölkern die detaillierte Welt, in der sich ein Besuch für Freund*innen des Genres auf jeden Fall lohnt.

Ludeon Studio: Rimworld
Einzelspieler*innen,
Windows, Mac und Linux ab 30 Dollar

Simon Sailer studierte Philosophie an der Uni Wien sowie Art & Science an der Universität für angewandte Kunst.

Dreh das Fernsehen ab, Mutter, es zieht!

  • 22.05.2016, 02:31
Die Stichwahl zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer polarisiert. Aber ist es wirklich nur eine Wahl zwischen zwei Kandidaten mit unterschiedlichen Positionen?

Die Stichwahl zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer polarisiert. Aber ist es wirklich nur eine Wahl zwischen zwei Kandidaten mit unterschiedlichen Positionen?

Sieht man sich die österreichische Berichterstattung über den Wahlkampf im Fernsehen an, muss man auf jeden Fall diesen Eindruck bekommen. Daran änderte auch das bestürzende Wahlergebnis nichts, das den grünen Kandidaten in einem Augenblick vom Favoriten zum Underdog verwandelte.

Meinungsforschung. Nachdem zuletzt bei der Gemeinderatswahl in Wien das Ergebnis der FPÖ im Vorhinein viel zu hoch eingeschätzt wurde, sahen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl alle Institute den Kandidaten der Grünen in Führung. In beiden Fällen lagen die Meinungsforscher*innen falsch. Die Schwierigkeit, verlässliche Vorhersagen zu treffen, ergibt sich aus der unzuverlässigen Bekenner*innenquote. Nicht nur sind Wähler*innen verschiedener Parteien unterschiedlich gewillt, ihr Wahlvorhaben in Umfragen anzugeben, die Bereitschaft dazu, hängt auch vom gerade vorherrschenden gesellschaftlichen Klima ab. Die spezifischen Dynamiken, die dabei letztlich entscheiden, sind im Vorfeld aber kaum einzuschätzen und selbst im Nachhinein oft schwierig zu verstehen. Tiefergehenden Überlegungen zu Wahlmotiven und dem Wahlverhalten der Stimmberechtigten bewegen sich notgedrungen im Bereich der Spekulation, taugen auch nicht für handfeste Prognosen und spielen deshalb in der modernen Sozialforschung nur eine untergeordnete Rolle.

Skandal: Die FPÖ ist rassistisch. Seltsamerweise werden die Gründe, warum die FPÖ gewählt wird, aber sogar dort, wo sie auf der Hand liegen und offen zugegeben werden, in der Berichterstattung übergangen. Der ORF und sein sich niemals ändernder Expert*innenstab diagnostizieren regelmäßig andere Ursachen für den Erfolg der FPÖ als den Rassismus in der Bevölkerung. Die Menschen wären von der Regierung enttäuscht, weil diese Probleme nicht effektiv lösen würde. Außerdem steige die Arbeitslosigkeit und die Menschen hätten weniger Geld. Besonders beliebt ist die Aussage, niemand würde die Sorgen der Menschen ernstnehmen, welche regelmäßig dazu verwendet wird, Rassismus als Angst zu beschönigen.

Fragt sich nur, wieso die Konsequenz all dieser Gründe sein soll, die FPÖ zu wählen. Soziale Themen sind schließlich Kernkompetenz der SPÖ und wie sehr man sich um die Sorgen der Bevölkerung kümmern wolle, wird keine Partei müde zu betonen. Diese Analysen klingen dann – ungewollt – fast wie eine Wahlempfehlung. Der FPÖ wird implizit zugestanden, wirklich ein glaubwürdiges Konzept zur Lösung von Problemen in petto zu haben. Wer aber das Offensichtliche beim Namen nennt, dass, wer eine rassistische Partei wählt, Rassist*in ist, sieht sich schnell mit dem Vorwurf der Überheblichkeit konfrontiert.

Kein normaler Kandidat. Dass jemand mit einem deutschnationalen Hintergrund, der immer wieder offen die Möglichkeit ins Spiel bringt das Parlament zu entlassen, behandelt wird, wie jeder andere auch, ist ein kleiner Skandal. Der große ist, dass es offenbar als polarisierende aber legitime Position verstanden wird, wenn ein Kandidat der in der Nachfolge der NSDAP stehenden FPÖ unterschwellig mit einem Putsch liebäugelt: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist.“

Vielleicht ist alles halb so schlimm und Hofer wäre ein Präsident, der seinen Vorgängern an Bedeutungslosigkeit um nichts nachsteht. Doch wenn das Schlimmste wirklich eintreten sollte und Hofer nach einer beim erstbesten Anlass provozierten Neuwahl einen blauen Kanzler angelobt, kann jedenfalls niemand sagen, man habe nichts gewusst oder damit nicht rechnen können.

Bei diesen Aussichten erscheint das infantile Getue, zu dem die Kandidat*innen bei Hanno Setteles Wahlfahrt angehalten wurden, als ein Stück gute alte Zeit, in der der Präsident vor allem ein zur Satire tauglicher Kauz war. Vielleicht leistet aber gerade diese Art der Berichterstattung jener Harmlosigkeit Vorschub, mit der sich Hofer präsentieren will. Fragt sich, ob die FPÖ gewählt wird, weil sie sich als zahm und ungefährlich gibt oder weil sie zugleich andeutet: Wartet's nur ab. Gegen letzteres wäre kein Kraut gewachsen. Falls ersteres zutrifft, wäre die FPÖ zu demaskieren. Allerdings scheint der ORF wenig bemüht, das zu versuchen.

Simon Sailer studierte Philosophie an der Universität Wien sowie Art & Science an der Universität für angewandte Kunst.

Soufflé mit Lachs 85g Katzenfutter

  • 23.06.2013, 12:47

In Zeiten, in denen sogar Discounter Delikatessen und Gourmet-Produkte anbieten, wird der Begriff Luxus immer weniger greifbar. Was für die einen Alltag ist, bedeutet für andere schon Luxus.

In Zeiten, in denen sogar Discounter Delikatessen und Gourmet-Produkte anbieten, wird der Begriff Luxus immer weniger greifbar. Was für die einen Alltag ist, bedeutet für andere schon Luxus.

Die Packungen der Billig-Luxus-Produkte von Hofer und Konsorten sind mit schwarzen und goldenen Farben auf edel getrimmt. Sie kosten auch wirklich mehr als ihre Mitprodukte und werden als Spezialität oder Delikatesse bezeichnet. Es gibt da Pfeffer-Ziegenkäse, Aufstriche aus Macadamianüssen oder Marmeladen mit gewagteren Fruchtkombinationen. Diese Produkte heben sich von den normalen Produkten ab, die mit „daily“ oder dergleichen beschriftet werden. Denn die Luxusprodukte sollen die anderen billiger erscheinen lassen, sie sind nicht für jeden Tag, die anderen schon. Qualitativ sind diese Edel-Produkte nicht hochwertiger, bezahlt wird für das Gefühl, sich etwas zu Besonderes zu gönnen.

Ist das der Luxus der Hofer-Klientel? Manche andere würden zu Hofer gar nicht einkaufen gehen, weil er ihnen zu billig ist. „Niemals“ würde ihnen beim Gedanken an die Discount-Kette Luxus in den Sinn kommen. Luxus ist für sie ein teures Essen oder ein
schöner Urlaub. Vielleicht eine schöne Wohnung oder ein hübsches Auto. Dinge also, die wiederum für andere Normalität darstellen. Für die Wohlhabenderen sind diese Annehmlichkeiten ohnehin eine Selbstverständlichkeit und ihnen ist Luxus eher etwas, das beim besten Willen nicht notwendig ist. Teurer Schmuck vielleicht oder eine Yacht. Aber wer weiß, vielleicht ist Luxus sowieso etwas für die Ärmeren, während die Reichsten nicht in solchen Kategorien denken.

Ein Stück vom Paradies. Eines steht jedenfalls fest: Luxus ist relativ. Kein einzelnes Ding ist an sich Luxus, sondern es ist nur Luxus in seiner ganz bestimmten Stellung zu den Menschen. Manchmal reicht schließlich schon die richtige Präsentation eines Produkts, um es zum Luxus zu adeln. Es kann aber auch Luxus bedeuten, nicht soviel arbeiten zu müssen oder sich einen Nachmittag lang zu entspannen. Allerdings muss Luxus leistbar sein und er muss eigentlich zu viel kosten. Wer Luxus will, will etwas, das über dem jeweiligen Lebensstandard liegt, ein Stück vom Leben der Reicheren. Und dieser Blick ins Paradies muss weh tun, sonst wäre er keiner.

So betrachtet ist Luxus also teuer und nutzlos. Eigenschaften, die ihm mitunter Kritik eingebracht haben. Denn was nach Vergnügen aussieht, zog stets den Hass derjenigen auf sich, die vom Vergnügen ausgeschlossen sind. Deren Unmut ist verständlich. Wer will schon 40 Stunden die Woche schuften, um sich eine bescheide Bleibe und ein bisschen Freizeitspaß zu finanzieren, während andere den Monatslohn an einem Wochenende durchbringen. Darüberhinaus zieht das Unnütze gerne das Ressentiment derer auf sich, die ihre Leben dem Nützlichen verschrieben haben. Was ich nicht haben konnte, dass sollen auch die anderen niemals haben, lautet die Devise. Was ich mir versagen musste, soll sich ja niemand gestatten.

Der Luxus verkörpert das Privileg. Er macht deutlich, dass manche von den Zwängen des Arbeitslebens verschont bleiben. Die anderen aber, denen dieses Glück nicht vergönnt ward, identifizieren sich mit ihrem Schicksal und geben sich damit zufrieden, darauf zu hoffen, es möge auch den Reichen bald nicht mehr so gut gehen. Gehofft wird auf eine Nivellierung nach unten. Lieber soll es allen schlecht gehen, als nur einigen gut. Daher die Freude, wenn Reiche der Korruption überführt werden oder berühmte Menschen eines Verbrechen angeklagt. Denn damit ist bewiesen, auch sie sind vor der Brutalität der Welt nicht gefeit. Sie können
fallen und verschaffen so jenen Genugtuung, denen es schon immer schlechter ging.

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, lautet dementsprechend ein alter linker Slogan, der auf Georg Büchner zurückgeht. Er weist in dieselbe Richtung wie das Lob von Bescheidenheit und die Romantisierung der Armut, wie sie in Literatur, Film und Fernsehen gerne gepflegt werden. Der Verzicht wird dort verherrlicht, die Armen sollen sich an ihrer Armut erfreuen. Sie werden in diesen Kulturerzeugnissen als die besseren Menschen gezeichnet. Sie sind arm, aber glücklich, sie lieben sich und halten zusammen – die Reichen könnten so scheint es, von ihnen lernen, denn sie werden ihres Reichtums nicht froh.

Kampf den Hütten, Paläste für alle. Aber könnte es nicht auch allen gut gehen? Ein Privileg ist ja nur solange ein Privileg, solange nicht alle in seinen Genuss kommen. Würde der Lebensstandard derer, denen es am schlechtesten geht, angehoben, verlören wohl manche Dinge ihren Schein von Abgehobenheit und dekadenter Luxuriösität. Zumindest verlören sie wohl den bitteren Beigeschmack des Privilegs, der heute moderne Kunst und spekulatives Denken zwangsläufig begleitet. Denn wer es sich leisten kann, stundenlang durch Museen zu tingeln oder sich in ein Buch zu versenken, von dem viele nicht einmal wissen, wovon es überhaupt handelt, sieht sich heute dem – oft zurecht erhobenen – Vorwurf ausgesetzt, sich um handfestere Dinge nicht zu scheren.

Allerdings ist diese Gesellschaft handfest genug und bedarf vielleicht gerade des Abgehobenen und Verträumten. Schließlich kann als Grund für den Hunger der Menschen auf der Welt, ihr Geschundensein und ihre Verhärtung ausgeschlossen werden, sie würden sich zu viel mit nutzlosen und geistigen Dingen abgeben. Im Gegenteil sind sie eher Opfer des Zwangs zur Nützlichkeit und Produktivität, der sich nicht ohne weiteres aufheben lässt und ihnen zum tun unnützer Dinge gar keine Gelegenheit bietet, sowie er das Nutzlose jenen madig macht, die es sich erlauben könnten. Denn der Luxus, das Überflüssige und Unproduktive, ist ja nicht unnütz hinsichtlich der Bedürfnisse der Menschen, sondern hinsichtlich der Produktion. Wäre von den Bedürfnissen der Menschen die Rede, dann würde sicherlich menschliche Arbeit als eines der nutzlosesten Dinge angesehen und es würde daran gearbeitet, Maschinen zu bauen, welche den Menschen diese Last von den Schultern nehmen könnten. Damit sie sich nun den wichtigen Dingen des Lebens widmen könnten: dem Luxus. Dafür wäre freilich der Umbau der Gesellschaft von einer elendigen zu einer luxuriösen, in der der Luxus verallgemeinert wäre, die Voraussetzung. Ein Projekt, das den Kern der kapitalistischen Produktionsweise erfassen müsste.

Der Autor studiert Philosophie an der Uni Wien.

Familienprobleme

  • 20.03.2014, 17:16

 

Die Familie gab stets Anlass zum Kopfzerbrechen, im Leben wie in der Literatur. Sie fordert dazu heraus über das Verhältnis von Generationen, Einzelnen und Gesellschaft nachzudenken.

Familien sind überall. Im Fernsehen sind sie himmlisch und schrecklich, haben kleine Farmen und Anwesen in Bel Air. Auch jenseits der Fiktion sind sie nicht unterrepräsentiert, es gibt ein Ministerium für Familie und Jugend sowie eigene Familiensprecherinnen und -sprecher bei den großen Parteien. Die ersten Assoziationen zu Familie betreffen das traute Heim, die (verlogene) Idylle und die (erzwungene) Harmonie. Eigentlich steht die Familie aber im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte und ist Austragungsort zahlreicher Kämpfe. Sie nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Privatem und Öffentlichem ein.

Sozialtümpel. Die Familie bildet deshalb ein äußerst reizvolles Experimentierfeld für die Literatur. In ihr verdichtet sich Gesellschaft, sie ist Kulminationspunkt abstrakter Verhältnisse und macht diese greifbar. Darüber hinaus ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Eltern einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Das motivierte etwa die sogenannten „Väterbücher“, in denen sich, beginnend mit den 1970er-Jahren, eine ganze Reihe von Autoren und einige Autorinnen mit ihren gestorbenen Vätern auseinandersetzten. Peter Henischs „Die kleine Figur meines Vaters“ und Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ sind Beispiele für diese Art der Vergangenheitsbewältigung. Bis heute erfreut sich diese Form der Kontaktaufnahme mit den toten Ahnen gewisser Beliebtheit. So legte Erich Hackl gerade einen Band voll dichter Prosa vor, die sich vorsichtig dem Leben seiner Mutter im Waldviertel annähert. Charakteristisch für diese Art der Literatur ist ein einfühlsamer Stil, der sich Wertungen enthält. Dennoch idealisiert Hackl das Landleben keinesfalls, sondern schildert verhältnismäßig nüchtern auch dessen Grausamkeiten; etwa wenn es um den Umgang mit Abtreibung geht.

Pars pro toto. Bereits 2010 hatte Hackl einen anderen Familienroman vorgelegt. Er beschreibt die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. So behutsam das Buch mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ die individuelle und genau recherchierte Geschichte der Figuren erzählt, so sehr ist es auch ein Buch über gesellschaftliche Kontinuität und das Fortleben von Antisemitismus und autoritärem Charakter. Es ist ein Buch über eine Familie, aber auch ein Buch über Postnazismus. Noch der Enkel des Kommunisten und Widerstandskämpfers Hugo Salzmann und der in Ravensbrück ermordeten Juliana Salzmann wird an seinem Arbeitsplatz bei der Grazer Gebietskrankenkasse antisemitisch gemobbt und 1997 schließlich entlassen.

Diese Verbindung des Erzählens über einzelne Personen und Familien auf der einen Seite und über eine Gesellschaft als Ganze auf der anderen Seite könnte als widersprüchlich verstanden werden. Schließlich hat das Leben einer eingewanderten Hilfsarbeiterin mit dem einer erfolgreichen Anwältin aus eingesessener Familie zunächst scheinbar wenig zu tun. Aber kreuzen sich die Wege dieser Bewohnerinnen unterschiedlicher Welten nicht dennoch, und sind ihre Positionen nicht im Grunde voneinander abhängig?

Solche Zusammenhänge kann ein Roman in einer Situation zuspitzen. Die Herausforderung liegt darin, Beispiele auszuwählen, die nicht einfach als Einzelfälle abgetan werden können. Dazu müssen sie mehr sein, als ein Beleg für ein Problem. Sie müssen etwas Zwingendes erhalten, das es ihnen erlaubt, sich ein Stück weit zu verselbstständigen. Solche Geschichten sind wahr, ohne dafür auf historischer Wahrheit beruhen zu müssen.

Verwandtes. Die Probleme, die der Familien- und Generationenroman aufwirft, gehen somit über die Sphäre der Verwandtschaft hinaus. Zentral ist dabei der Gegensatz zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Dieses Verhältnis kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Auch über völkischrechte Kreise hinaus ist die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus, dessen Zellen die einzelnen Menschen seien, weit verbreitet. In dieser Vorstellung wird das Ganze hoch bewertet, die Einzelnen werden jedoch zu funktionalen Rädchen und Schrauben herabgesetzt.

In einer anderen Sicht, die mitunter von Teilen der modernen Sozialwissenschaft vertreten wird, stellt sich Gesellschaft als die Summe ihrer Teile vor. Auf eine Gesellschaftstheorie verzichten VertreterInnen dieses Weltbilds. Die Forschung beschränkt sich dann darauf, die Reaktionen der Menschen auf gewisse Impulse aufzuzeichnen und Prognosen für zukünftiges Verhalten zu treffen. Aussagen über ein gesellschaftliches Ganzes scheinen aus dieser Perspektive spekulativ und unseriös.

Gesellschaft ist jedoch weder ein für sich selbst existierendes Wesen, noch einfach ein Sammelbegriff für einen Haufen unzusammenhängender Einzelteile. Eher müsste sie als das Verhältnis der Menschen zueinander gedacht werden. Sie ist zwar als eigenständige Dynamik beschreibbar, aber nicht als von einzelnen Menschen und Geschichten unabhängig existierende Wesenheit. Walter Benjamin hat einmal das Bild der Sternenkonstellation bemüht, um seine Theorie von Wahrheit zu erklären. Die Analogie funktioniert auch hier. So wie der „Große Wagen“ eine bestimmte Anordnung von Sternen ist, so ist Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von handelnden und denkenden Menschen. Eine Konstellation übrigens, die sich durchaus ändern ließe, würde der Wagen nicht allzu tief im Schlamm stecken.

Vielleicht besteht aber Hoffnung. Schließlich ist das Verhältnis zur Elterngeneration zunächst rebellisch und unangepasst. Deutet der Umstand, dass sich Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, der sich um einen jugendlichen Ausreißer dreht, beständig auf den Bestsellerlisten hält, auf die Lebendigkeit dieses Potentials hin? Oder mündet die Rebellion der Jungen am Ende doch in der Anpassung an die Werte der Eltern?

 

Simon Sailer studiert im Master Art and Science an der Universität für angewandte Kunst Wien

Mindgames

  • 04.05.2013, 20:21

Magier, Illusionist, Mentalist, Hypnotiseur – Derren Brown ist der Scharlatan unter den Skeptikern und trifft damit einen Nerv der Gegenwart.

Magier, Illusionist, Mentalist, Hypnotiseur – Derren Brown ist der Scharlatan unter den Skeptikern und trifft damit einen Nerv der Gegenwart.

Angefangen hat der mittlerweile zum Star avancierte Brite Derren Brown im Fernsehen. Dort präsentierte er unter dem Titel „Mind Control“ Zaubertricks so, als würden sie auf der erstaunlichen Fähigkeit beruhen, Reaktionen von Menschen vorherzusehen oder aufgrund von Körpersprache und Suggestionen Informationen über sie zu erhalten. Dieses Grundprinzip hat Brown im Laufe seiner Karriere nicht wesentlich verändert. Laut eigener Aussage besteht sein „Entertainment“ aus einer Mischung unterschiedlicher Techniken. Er dementiert allerdings die umstrittene Behauptung, er würde mitunter Schauspielerinnen einsetzen, beziehungsweise die Teilnehmerinnen in seine Tricks einweihen.

Polarisierung. Durch seine Live-Shows und Fernsehsendungen spaltet er sein Publikum in Anhängerinnen und Feindinnen: in jene, die alles, was er macht, mit großer Energie verteidigen, jene, die ihn als Betrüger entlarven wollen und jene, die seine angeblichen Methoden zwar in Zweifel ziehen, ihn aber dennoch als Entertainer bewundern. Jedenfalls führen seine Produktionen zu heftigen Diskussionen, die sich um Fragen der Grenzen von Hypnose und Suggestion drehen. Kurzum: um den Realitätsgehalt der Shows des Tricksters.

Derren Brown selbst sieht sich als eine Art Skeptiker, entlarvt er doch regelmäßig Menschen mit angeblichen übersinnlichen Fähigkeiten, indem er mit seinen Tricks viel erstaunlichere Ergebnisse zustande bringt. Außerdem verkehrt er mit bekannten Skeptikern und Neoatheisten wie Richard Dawkins oder dem Schauspieler Stephen Fry. Allerdings unterscheidet ihn von anderen skeptischen Magiern, wie etwa Penn&Teller, dass er niemals preisgibt, wie genau er seine Stunts ausführt, sondern nur vage in Richtung Suggestion und Manipulation deutet. Er beschreibt dabei häufig Techniken, die zwar existieren, aber nicht zur Erklärung seiner Performances ausreichen.

Zahlreiche Artikel befassen sich mit Brown und seinen medialen Erzeugnissen. Allerdings wird die Frage kaum berührt, wie eigentlich ein Zauberer in der entzauberten Welt noch so erfolgreich sein kann. Die erstaunliche Vehemenz, mit der sich Menschen mit Browns Behauptungen identifizieren, oder diese ablehnen, ist erklärungsbedürftig. Sie ist umso interessanter, als sie einen zentralen gesellschaftlichen Widerspruch zwischen der Identifikation mit dem Bestehenden und der Sehnsucht nach einer besseren Welt berührt.

Etwas fehlt. Die meisten Menschen fühlen, dass mit der Welt ganz grundlegend etwas nicht stimmt. Sie sehen, dass Menschen verhungern, gefoltert werden und teils unter elendigen Bedingungen leben müssen. Sie bemerken, dass selbst jene, die es noch besser getroffen haben, kühl und gleichgültig oder verzweifelt und depressiv sind. All das nehmen sie war und es bildet den Grundwiderspruch des Bestehenden. Wie kann eine gesellschaftliche Ordnung gut und gerecht sein, in der dies alles zugleich möglich ist?

Gleichzeitig fühlen sie sich ohnmächtig und ausgeliefert angesichts der Starrheit der Verhältnisse. Und sie haben damit nicht ganz Unrecht, schließlich scheinen alle Versuche, an den herrschenden Bedingungen etwas zu ändern, hoffnungslos unterlegen und von inneren Widersprüchen geplagt. Anstatt nun dieses Dilemma ganz zu realisieren, wählen viele, zumindest um den Alltag zu ertragen, die Strategie, sich mit der Aggressorin zu identifizieren. Anstatt sich einzugestehen, dass es besser sein könnte und doch furchtbar ist, sagen sie, es müsse so sein, wie es ist und das sei im Grunde sogar gut.

Dieses Dilemma verkörpern die Werke Derren Browns. Könnten sie sprechen, würden sie uns sagen: „Ich bin was ich bin und bin doch mehr als ich bin.“ Sie erlauben es, sich gleichzeitig mit ihrer Realität zu identifizieren, wie auch mit der Möglichkeit von etwas scheinbar Unmöglichem. Wer Browns Shows als „echt“ verteidigt, identifiziert sich mit dem Bestehenden im Namen von etwas Darüberhinausgehenden. Genauso können die Skeptischen den Realitätsgehalt seiner Shows kleinmachen und sich dabei darauf berufen, dass nichts sein kann, was nicht ist. Auch wenn sie dabei Recht haben, sprechen sie im Namen des Bestehenden.

Zombies. In einem Fernsehfilm lässt Derren Brown uns glauben, er würde einem ausgewählten Probanden vorspielen, die Welt werde von Zombies überrannt. Es handelt sich dabei um eine Art Spielfilm, der keiner sein will. Ähnlich dem Reality-TV oder den Filmen, die auf „einer wahren Begebenheit“ beruhen, wollen diese Kunstwerke keine Kunstwerke sein. Es handelt sich um entkunstete Kunst, die sich für Phantasie schämt. Das Künstlerische wird geleugnet, während sich zum Entertainment bekannt wird. Die Realität wird angebetet und die Phantasie, die Möglichkeit des Anderen wird verleugnet, obgleich sie anwesend ist. Sie muss präsent sein, um verleugnet werden zu können.

So ist es auch kein Zufall, dass Skeptikerinnen an Esoterik und Religion nichts sehen können als deren Irrationalität. Sie selbst haben sich zu VerfechterInnen des Prinzips des Bestehenden und der Rationalität erklärt. Sie sind wohl die beispielhafteste Verkörperung der Identifikation mit dem Bestehenden und irgendwie passt Derren Brown zu ihnen und doch nicht. Er passt zu ihnen als Verfechter des Bestehenden, der jemandem die Apokalypse vorspielt, um ihm klarzumachen, dass er glücklich sein soll, mit dem, was er hat. Und er passt nicht zu ihnen als einer, der dazu die Möglichkeit des Untergangs inszeniert – als einer, der keine Gelegenheit auslässt, den Menschen den größten Wahnwitz als Wirklichkeit vorzustellen. Das macht ihn in gewisser Weise zugleich zu einem schlechteren und besseren Skeptiker als seine weniger verspielten Mitstreitenden: Es macht ihn zu einem Scharlatan unter den Skeptikern.

Sein Erfolg und der Siegeszug der Realität in Film und Fernsehen sind Ausdruck der wachsenden gesellschaftlichen Spannung zwischen Möglichem und Wirklichem. Das könnte einen hoffnungsvoll stimmen, würden sich die freigesetzten Energien nicht entweder darauf richten, allerorts Lügen zu entlarven, oder sie nur umso heftiger zu verteidigen. Wenig lässt darauf hoffen, dass der zugrundeliegende Widerspruch ins Bewusstsein dringen könnte. Und selbst, wenn er – wie es hin und wieder vorkommt – ganz manifest greifbar und bewusst wird, hebt sich doch nicht wie von selbst die Ohnmacht auf, die objektiv besteht. Denken ist allerorts von gesellschaftlichem Einfluss abgeschnitten. Die entzauberte Welt ist ganz und gar verzaubert.

Der Autor Simon Sailer studiert Philosophie in Wien.

Offizielle Website von Derren Brown.

Hard Way to make an Easy Living

  • 31.03.2013, 23:20

Über Poker wird oft gesagt, es wäre eine anstrengende Art, sich ein einfaches Leben zu machen. Etwas ganz Ähnliches ließe sich über den reativbereich sagen.

Über Poker wird oft gesagt, es wäre eine anstrengende Art, sich ein einfaches Leben zu machen. Etwas ganz Ähnliches ließe sich über  den Kreativbereich sagen.

Alle ernsthaften Pokerspielerinnen wissen, dass sie ihr Spiel mit Disziplin und Ausdauer betreiben müssen, um erfolgreich zu sein.  Dennoch treibt viele der Traum an, vom Spielen leben zu können. Also von einer Tätigkeit, die im Grunde doch keine „richtige“ Arbeit ist, auch wenn ihr mit mehr Fleiß und Verbissenheit nachgegangen wird, als sie die meisten anderen Jobs erfordern. Es ist  eben ein Traum und nicht einfach Mittel zum Zweck. Poker ist aber nicht der einzige Bereich, auf den diese Diagnose zutrifft: Menschen wollen auch Journalistinnen werden, Künstlerinnen, Designerinnen; sie wollen sich kreativ betätigen, ihre Idee vom  eigenen Geschäft oder Restaurant verwirklichen. Sie träumen davon, von ihrer Leidenschaft leben zu können und sind bereit, dafür  einiges in Kauf zu nehmen.

San Precaria. Das Prekariat ist mittlerweile in aller Munde. Es hat sich herumgesprochen, dass sich die Arbeitsformen transformieren  und immer weniger Menschen in stabilen, vertraglich langfristig geregelten Verhältnissen beschäftigt sind. Auch in  linken Debatten hat sich der Fokus vom Proletariat auf das Prekariat verschoben. Damit einher geht auch eine Verschiebung von der  Betrachtung der kapitalistischen Produktionsweise als ganze zur Betrachtung der wechselnden Arbeitsbedingungen innerhalb  des Kapitalismus. War das Proletariat noch eine Bestimmung der grundsätzlichen Lage von Menschen im Produktionsprozess, meint  das sogenannte Prekariat eine sehr heterogene Gruppe, die das Leben unter ungewissen Verhältnissen gemeinsam hat. Die junge  selbstständige Architektin oder die angehende Künstlerin lebt scheinbar genauso prekär wie die Fließbandarbeiterin, die womöglich  umziehen muss, um einen Job zu finden, von dem sie nicht einmal sicher weiß, wie lange sie ihn behalten wird. Bei letzterer ist  übrigens einigermaßen verständlich, warum sie bereit ist, unsägliche Schikanen auf sich zu nehmen: Es bleibt ihr nicht viel übrig.  Wie verhält es sich aber in jenen Bereichen, von denen eigentlich alle wissen, dass ökonomisch nicht viel zu holen ist und in denen  sich dennoch Horden junger gut ausgebildeter  Menschen finden, die bereit sind, für die Chance auf eine mögliche Karriere ein  schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum nach dem anderen zu absolvieren? Sie bilden eine Art Wohlstandsprekariat und  konkurrieren um Stipendien, Beihilfen und Ausbildungsplätze, in der Hoffnung, einmal ihre Brötchen mit etwas Interessantem zu  verdienen.

Privilegien. Dieses Prekariat der Studierenden und Jungabsolventinnen ist in der eigentümlichen Situation, von einem Projekt zum  ächsten zu hetzen, einen Förderantrag nach dem anderen auszufüllen und Zertifikate zu sammeln, die sich im Lebenslauf gut  machen, aber dabei nichts zu verdienen, sondern sich vielmehr mit Hilfe von Reserven oder versteckten Einkünften über Wasser  halten zu müssen. Teilweise sind sich diese Prekären ihrer Einkünfte nicht einmal völlig bewusst. Vielleicht arbeiten sie sogar und  finanzieren sich selbst, leben aber in der günstigen Eigentumswohnung von Verwandten, bekommen immer wieder Geldgeschenke  oder werden auf Urlaube eingeladen. Und selbst wenn all dies nicht zutrifft, sind sie oft in der angenehmen Lage, einfach zu wissen,  dass sie einen Rückhalt haben, falls es hart auf hart kommt. Ihre prekäre Lage ist deshalb auch abenteuerlich und  zumindest eine Zeit lang durchaus erträglich. Das vergegenwärtigt, wieso vielen ein unbezahltes Praktikum als normaler Schritt auf  der Karriereleiter erscheint, oder warum es vielen nicht widerstrebt, Projekte, von deren Wichtigkeit sie im Grunde nur halbherzig  überzeugt sind, unentgeltlich auf die Beine zu stellen. Wir sind alle Individuen. „Ich nicht“, antwortet ein Statist in Monty Pythons  Das  Leben desBrian und stört die Menschenmenge, die im Chor einstimmig ihre Verschiedenheit bekundet. Sicher ist es auch ein Wunsch nach Selbstverwirklichung: danach, mit dem Leben etwas Besonderes anzufangen, der alle in dieselben prekären Berufe  drängt.

Die meisten wollen ja doch nicht leidenschaftlich Zahnärztin oder Mechanikerin werden, sondern Stars, Künstlerinnen, Profi- Gamerinnen. Sie strömen in Felder, in denen zu arbeiten mehr als einen Job bedeutet, mehr als ein Mittel, Geld zu verdienen. Es geht  darum, einen Traum zu verwirklichen und sich in einem umkämpften Bereich zu behaupten. Letztlich darum, etwas Besonderes zu  sein. Die Wohlstandsprekären machen mit, weil sie sagen wollen: „Ich bin Designerin“ oder „Ich kann von meiner Kunst leben“. Und  weil sie die Vorstellung, einen dieser normalen Jobs, die anstrengend sind, aber sein müssen, verständlicherweise abschreckt. Eine  Musikerin in einer Talk-Show meinte einmal, sie hätte hart an ihrem Album gearbeitet, aber sie wäre dankbar, keinen „richtigen Job“  machen zu müssen. Irgendwie nachvollziehbar. Es ist, wie Dolly Parton singt: „Working nine to five – what a way to make a livin’.“ Zweierlei Elend. Natürlich sind die Bedingungen, unter denen viele ihrem wahren Selbst nachhetzen, wirklich elendig – und die Kritik  daran notwendig und begrüßenswert. Auch wenn es nicht überrascht, dass sie reichlich artikuliert wird, betrifft sie doch  gerade jene, die im Kulturbereich, im Fernsehen und bei Radios tätig sind. Immerhin zeigen sie sich üblicherweise solidarisch mit  jenen, denen es noch mieser geht und deren Zugang zu Artikulationsmöglichkeiten begrenzter ist.

Es gibt nämlich noch ein anderes Prekariat. Viele Menschen haben keine Wahl, weil sie nichts haben. Ihnen bleibt nichts übrig, als  jeden Job anzunehmen, wo er auch sein mag, und noch die schikanösesten Arbeitsbedingungen zu ertragen. Diese Prekären gibt es  hierzulande und es gibt sie anderswo; dort geht es ihnen vielleicht noch schlechter. Dieses Phänomen ist nicht neu, es existiert, seit  es Kapitalismus gibt. Wer nichts hat, muss die eigene Haut verkaufen. Neu ist nur, dass Akademikerinnen  icht automatisch  mit einem sicheren Platz im Verwaltungsapparat des Elends belohnt werden. Und vielleicht war auch das nie wirklich ganz so  einfach. Die Gesellschaft transformiert sich also – und bleibt sich doch gleich.

Wie der Kern in die Familie kam

  • 21.02.2013, 14:35

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Kernfamilie. Als Kernfamilie wurde im deutschen Sprachgebrauch meist eine Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, die aus Mutter, Vater und deren leiblichen Kindern besteht. Der Ausdruck bezeichnete also ein heterosexuelles Pärchen und deren gemeinsame, nicht adoptierte Kinder. In dieser Verwendung spiegelt er ein konservatives, heterosexistisches und völkisches Familienbild wider.

Allerdings unterliegt der Begriff derzeit einer Bedeutungswandlung. Die österreichische Regierung etwa bestimmt auf help.gv.at die Kernfamilie in Zusammenhang mit Aufenthaltsrecht als „Ehegatten, eingetragene Partner und ledige minderjährige Kinder (einschließlich Adoptiv- und Stiefkinder)“. 

Nuclear Family. Im Englischen entspricht der Begriff der „Nuclear Family“ dem deutschen Ausdruck „Kernfamilie“ – allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die üblichen Bestimmungen auch explizit auf gleichgeschlechtliche Paare und Adoptivkinder hinweisen. Im Unterschied zu der im deutschen noch üblichen völkischen und heterosexistischen Verwendung ist im Englischen die liberale Begriffsauffassung dominanter. Sie geht einfach von einem Erwachsenenpaar und deren sozialen Kindern aus. Die paarförmige Lebensweise bleibt dabei als der liberale Kern der „Nuclear Family“ aufrecht. 

Geschichte der bürgerlichen Familie. Der Begriff der Familie unterlag im Lauf der Zeit zahlreichen Wandlungen. Sowohl wer zum Kern der Familie gerechnet wird, hat sich verändert, wie auch die innere Familienstruktur, also die Aufgabenteilung und der Status der einzelnen Tätigkeiten. So bezeichnete das lateinische Wort famulus, das der Familie ihren Namen gab, das häusliche Eigentum des Mannes: nach damaligem Recht seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen und Nutztiere. In der vorindustriellen Familie waren alle im Haus lebenden Männer und Frauen am geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierten Haushalt beteiligt. Die moderne bürgerliche Familie mit ihrer deutlichen Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit bildete sich erst im 19. Jahrhundert prägnanter aus und traf schon relativ früh auf Kritik seitens sich herausbildender feministischer Gruppierungen.

Patchworkfamilie. Dass die Kernfamilie nicht mehr die einzige Form des aktuellen Familienbildes darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. In den 1990ern erfuhren alternative Familienformen eine sprachliche Aufwertung, die mit einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz einherging. Familien, die aus Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen, Alleinerziehenden oder wechselnden sozialen Eltern und Bezugspersonen bestehen, werden jetzt mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet.

Schon sprachlich verweist der Begriff auf Zerstückelung und Zusammensetzung. Die zunehmende Individualisierung in den Industriestaaten führt zu einer erhöhten Beweglichkeit und Flexibilität und damit einhergehend auch zu einer freieren Allianzenbildung im familiären Bereich. Die Menschen beginnen sich, entgegen der Redewendung, ihre Familie auszusuchen.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Ob Homo- oder Heteropärchen, Patchwork- oder Kernfamilie, jedenfalls wird in den gängigen Debatten immer von fixierten und klar definierten Geschlechtern ausgegangen. Es gäbe eben Frauen und Männer, die sich in homo- oder heterosexuellen Beziehungen zusammenschließen und Kinder ausbrüten. Diese Auffassung spiegelt sich auch gesetzlich wider und stellt Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren wollen, beziehungsweise ihr Geschlecht ändern oder geändert haben vor einige Schwierigkeiten. Weil das Familien- und Adoptionsrecht von zwei feststellbaren und feststehenden Geschlechtern ausgeht, werden die Möglichkeiten von Inter- und Transpersonen erheblich eingeschränkt. Das Recht sieht vor, dass sie sich einer aufwendigen Prozedur unterwerfen und sich schließlich auf ein Geschlecht mit „passendem“ Namen festlegen. 

Die kleinste Zelle der Gesellschaft. Friedrich Engels bezeichnet die Ehe als kleinste Zelle der zivilisierten Gesellschaft – eine Formulierung, die häufig in unkritischer Weise aufgegriffen und wiedergegeben wird, obwohl Engels die Unterdrückung von Frauen durch Männer im selben Absatz als die erste Klassenunterdrückung bezeichnet. An der Ehe lasse sich die Natur der voll entfaltenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft ablesen – eine Position übrigens, mit der sich Simone de Beauvoir kritisch auseinandersetzt. Sie gesteht Engels zwar zu, eine vergleichsweise fortschrittliche Position zu vertreten, zeigt sich aber vor allem davon enttäuscht, dass er eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraussetzt, anstatt sie zu erklären. De Beauvoir vermutet gerade in der Frage der Kindergeburt und -versorgung den ersten Vorteil, der es Männern erlaube, Herrschaft über Frauen zu erlangen und diese zu verfestigen. Sie geht von einem körperlichen Unterschied aus, der einst eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, in einer modernen Gesellschaft aber keine Rolle mehr spielen müsse.

Schön ist es

  • 26.12.2012, 14:53

Simon Sailer über Probleme der Kritik am „Lookismus“ und die Schönheit des Menschen.

Simon Sailer über Probleme der Kritik am „Lookismus“ und die Schönheit des Menschen.

Die Rede vom Schönheitsideal unterstellt, es gäbe ein Bild, eine ideale Vorstellung davon, was schön sei und was davon abweiche.   Genauer aber wird der Begriff im Plural verwendet, weil schon nach einem kurzen Blick klar sein dürfte, dass es, je nach Zusammenhang, eine Vielzahl solcher Idealvorstellungen gibt. Und dennoch hat diese Perspektive einen wahren Kern: Wer als schön beurteilt wird und wer nicht, ist keine ganz individuelle Angelegenheit. Es gibt Menschen, die finden nur sehr wenige schön, während sich bei anderen die allermeisten auf ein solches Urteil einigen können.

Jene Menschen, die im Allgemeinen für schön gehalten werden, erfreuen sich – natürlich wiederum im richtigen Zusammenhang – einiger Vorteile. In einer alten faschistischen Tradition wird von ihrem Aussehen auf ihren Charakter geschlossen, sie werden für ehrlicher und sympathischer gehalten und sind entsprechend erfolgreicher im Beruf wie im Privatleben. Sie kommen voran. Auch wenn es ihnen dabei nicht unbedingt besser geht, ist wohl einschränkend hinzuzufügen. Jedenfalls hat dieser Umstand, der Frauen stärker zu treffen scheint als Männer, einige dazu bewogen, eine neue Form der Diskriminierung zu erfinden: Lookism.

Schöne neue Welt. Die Kritik am Lookism nährt sich aus dem nachvollziehbaren und nicht völlig unberechtigten Impuls, die Ungerechtigkeit anzuprangern, die es aus liberaler Sicht bedeutet, wenn Menschen wegen einer Eigenschaft Nachteile erfahren, für die sie wenig können. Der Leitsatz des Liberalismus ist schließlich: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, wobei nicht zufällig von Schmiedinnen keine Rede ist. Weil der um Erfolg kämpfende Mann immer noch nicht unbedingt ein zweiter David Beckham sein muss, um sich durchzusetzen, beinhaltet die Ablehnung von Lookismus auch die feministische Forderung nach Beteiligung an  gesellschaftlicher Macht.

Darüber hinaus wird kritisiert, dass bestimmte Körpernormen vorgeführt würden. Die Annahme lautet, dass sich Menschen genötigt fühlen, diesen Normen zu entsprechen, und Probleme haben, wenn sie ihnen nicht entsprechen können. Dabei sind die Darstellungen in der Werbung dermaßen bearbeitet, dass ihnen in der Wirklichkeit kein Mensch auch nur nahekommt. Somit  schwingt in dieser Perspektive ein vereinfachtes Verständnis von der Vorbildwirkung medialer Bilder mit. Die Auswirkungen von Werbung sind aber vermittelter und komplizierter. Sie zeugen eher von der Macht der werbenden Unternehmen, die sich solche  Werbung überhaupt leisten können, inklusive der Verfügung über menschliche Körper. Indem sich aber die Kritik auf diese Vorbildwirkung konzentriert, wird implizit das Schönheitsideal, das kritisiert werden soll, relativ genau bedeutet und bestimmt. Es wird gesagt: So soll „man“ sein und das lehnen wir ab. Der Befehl zur Anpassung ist in dieser Kritik enthalten.

Tabu Schönheit. Es wäre natürlich eine unmögliche und nicht wünschenswerte Alternative, gar nicht mehr darüber zu reden, was  schön ist und was nicht, und stattdessen alle als gleich attraktiv zu behandeln, obwohl alle insgeheim anders empfinden. Vielleicht muss in die andere Richtung gegangen und der Begriff von Schönheit genauer und bedeutungsvoller gefasst werden. Die  Wissenschaft, die zu Schönheit forscht, interessiert sich meist für subjektive Reaktionen und fragt danach, was Menschen als schön  empfinden und was nicht. Die meist gar nicht ernsthaft reflektierten Ergebnisse werden dann auf Gemeinsamkeiten  untersucht, daraus wird ein Bild der Schönheit erstellt. Dieses wird dann entweder als ewige Naturschönheit ausgegeben oder aber als zufälliger Geschmack der Gegenwart.

Beim Ergebnis dieser Studien setzt Reflexion erst an. Es offenbaren sich an dieser hilflosen Beforschung – ähnlich den unglücklichen  Versuchen, Glück zu messen – bereits einige Momente von Schönheit selbst. In der philosophischen Ästhetik haben  die Kategorien des Naturschönen und des Kunstschönen immer eine zentrale Rolle gespielt. Es handelt sich dabei um das, wonach  es klingt: Menschen sind ergriffen und bewegt zum einen von der Schönheit der Natur, die sie in ihrer Fremdheit und Größe  berwältigt. Ein ähnliches Gefühl kann durch Werke großer Kunst entstehen. Jedenfalls tritt uns auch Kunst mitunter als ein fremdes,  in sich verschlossenes und rätselhaftes Anderes entgegen. Beiden Varianten des Getroffenseins, jenem angesichts des Natur- wie des Kunstschönen, ist eine gewisse Haltung der Interessenlosigkeit gemeinsam: Die Natur wird in dem Moment nicht als zu  beackernder Boden oder zu rodender Wald gesehen und das Bild nicht als Gebrauchs- oder Verkaufsgegenstand.

Natur, Kunst,  Mensch. Aber wie verhält es sich nun mit der Schönheit der Menschen? Die Menschenschönheit ist ja weder Naturschönheit noch Kunstschönheit. Sie hat Elemente von beidem und ist doch keines ganz. Der Mensch ist kein Stück Natur und schon gar nicht seine  Schönheit. Die Schönheit der Menschen war seit jeher künstlich und abhängig von sozialen Bedingungen,   beispielsweise von Schmuck, der sozialen Status repräsentiert.Aber Menschen sind keine wandelnden Kunstwerke, niemand hat sie gemacht und sie bilden keine eigene Sphäre. Der Unterschied zwischen den Menschen, wenn sie einfach ihren alltäglichen Dingennachgehen, und einer Performance-Künstlerin – die ihren Körper für eine begrenzte Zeitspanne zum Kunstwerk macht – lässt diese Differenz greifbar werden.

Der Blick auf „schöne“ Menschen ist auch nicht zweckfrei. Bei den Dingen, gegen die sich der Vorwurf des Lookismus richtet, handelt es sich oft um ganz instrumentell kalkulierende Darstellungen: in der Werbung, in der Mode oder in Film und Fernsehen. Die schönen Menschen sind bloßes Mittel zum Zweck: Niemand bleibt vor einer Plakatwand staunend stehen und wird schmerzhaft  getroffen von der Schönheit der darauf gezeigten Menschen. Und falls doch, dann aus einem Gefühl der eigenen Kleinheit und Unzulänglichkeit, aber nicht aus dem Bewusstsein der Unzulänglichkeit der Welt. Vielleicht, weil die überlebensgroßen 2D-Körper  aus einer anderen Welt einem emphatischen, nachdrücklichen Sinn von Schönheit gar nicht entsprechen. Denn ein Element ernster  Schönheit ist der sehnsüchtige Schmerz. Der zweckfreie Blick richtet sich auf ein ganz bestimmtes Einzelnes und entdeckt seine Schönheit. Es ist ein erlösender Blick, der deshalb weh tut, weil der Gerechtigkeit, die dem Einzelnen durch ihn geschieht, die  allgemeine Ungerechtigkeit zu Grunde liegt. Die Erlösung des Einzelnen gemahnt schmerzhaft an die Möglichkeit der Rettung der Welt.

Endstation Sehnsucht

  • 17.11.2012, 01:31

Warum die Kindheit als Utopie so ihre Macken hat und besser der Tod abgeschafft werden sollte. Ein Essay von Simon Sailer.

Warum die Kindheit als Utopie so ihre Macken hat und besser der Tod abgeschafft werden sollte. Ein Essay von Simon Sailer.

Nichts scheint eine Action-Heldin mehr zu motivieren als ein schutzloses Kind. In jedem zweiten Film muss ein Kind mit besonderen Kräften oder besonderem Wissen vor bösen Verfolgerinnen gerettet werden. Auch in der Werbung wuseln so viele Kinder über die Flachbildschirme, dass man den Eindruck erhält, das durchschnittliche Alter der glücklichen Fernsehbevölkerung liege bei etwa 15. Selbst in politischer Propaganda, die ihre Sache gut macht, darf ein Kind nicht fehlen. Kinder symbolisieren Unschuld, Verwundbarkeit und Glück. Sie dürfen noch schwach sein, ihr Leben ist unbeschwert und frei von jedweder Pflicht oder Härte. Es besteht aus Spiel und Spaß. So zumindest das Bild, das sie hartnäckig verkörpern und das ihnen zu so vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten verhilft.

Erwachsen werden. In Wirklichkeit ist das Leben der Kinder natürlich oft gar nicht frei von Problemen und Verpflichtungen. Schon sehr früh werden sie mit dem Prinzip der Realität konfrontiert und müssen ihre Wünsche aufschieben. Bereits wenn sie schreien und nicht sofort gefüttert werden, oder wenn sie lernen sollen, ihren Stuhl zurückzuhalten. Später werden die Probleme nur noch größer. Im besseren Fall müssen sie ihre überforderten Eltern unterstützen, sich um ihre Geschwister kümmern. Im schlechteren sind die familiären Verhältnisse eher Hölle als Paradies: Es gibt physische und psychische Gewalt, Vernachlässigung, Kälte und Brutalität. Komischerweise scheint das zunächst nicht am Bild zu kratzen, das Kinder repräsentieren. Es hält sich wider besseren Wissens und nichts kann ihm etwas anhaben. Kinder bleiben süß und fröhlich und unschuldig. Vielleicht, weil sie an die eigene Kindheit denken lassen und diese in der Regel verklärt wird. Den Allermeisten erscheint die eigene Kindheit in der Erinnerung schöner, als sie sie empfunden haben, während sie sie durchlebten. Auch nach dem Zivil- oder Wehrdienst etwa erklären alle, sie hätten doch auch etwas gelernt und so schlecht wäre es im Grunde gar nicht gewesen. Während der erniedrigenden Schinderei haben die selben jungen Männer freilich weniger freundliche Worte gefunden. Noch der letzte miese Drecksjob wird im Nachhinein zu einer wertvollen Lektion umgedeutet, die noch anderen anempfohlen wird. In noch stärkerem Maß gilt das freilich für die Kindheit, welche der Erinnerung nur zerstückelt und ungenau zugänglich ist. Zu einem großen Teil besteht sie aus Bildern, die im TeenagerInnen- und Erwachsenenalter gedanklich eingefügt wurden. Erinnert jemand die eigene Kindheit als schlecht, muss sie also schon ziemlich furchtbar gewesen sein.

Nützliche Lügen. Aber wenn dem so ist, hat die Verklärung dann nicht auch irgendeinen Sinn, ist sie nicht zu etwas gut? Vielleicht wird der Lüge unrecht getan, wenn sie automatisch zum Schlechteren gemacht wird. Womöglich ist die Wahrheit nicht immer gut und die Lüge nicht immer schlecht. Es wird zwar die Wirklichkeit weniger scharf gesehen, doch schließlich ist diese Erinnerung des nie Gehabten auch ein Leitbild für die Zukunft. Anderen Kindern soll es auch so gut gehen und überhaupt sollte es wieder so sein wie früher, wo angeblich alles besser war. Die Zukunft sollte schöner werden. Es gibt eine seltsame Einheit von Utopie und Konservativismus. Die Konservative will etwas bewahren, das eigentlich nie gewesen ist. Die Familie, die sie zu beschützen vorgibt, in der sich alle lieben und füreinander sorgen, müsste überhaupt erst erfunden werden. Eher verdoppeln sich in der Familie die Verhältnisse der Gesellschaft. Arbeitszwang und Härte gegen sich und andere verlängern sich bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ob jene Familie, nach der sich viele Konservative sehnen, überhaupt wünschenswert ist, darf übrigens bezweifelt werden. Jedenfalls aber, könnte eingewandt werden, sei es besser, die Welt zu erkennen, wie sie ist und ihr Falsches aufzudecken, anstatt sich in nützlicher Selbsttäuschung zu ergehen. Denn wer das Falsche erkennt und benennt, so die Idee, erweist dem Richtigen einen größeren Dienst, als wer ein Hirngespinst schlichtweg zum Richtigen erhebt. Das Gegenstück zum eingebildeten Glück der verschonten und unbeschwerten Kindheit ist der Tod. Der Tod ist das Ende von Möglichkeit. Er ist das Ende. Er wird gefürchtet und ersehnt. Die Utopie der Kindheit lässt sich negativ als Idee der Abschaffung des Todes ausdrücken.

Die Abschaffung des Todes. Abschaffung des Todes hat in den meisten Ohren einen seltsamen Klang. Die Idee hat für die meisten etwas Bedrohliches. Nicht sterben? Aber das wäre doch furchtbar! Eine ungemein verbreitete, aber überraschende Reaktion angesichts der zahlreichen Geschichten, in denen machtgierige Halunken über Leichen gehen, um in Jungbrunnen zu baden. Es sind wohl nicht zufällig immer die Bösewichte, die sich das ewige Leben wünschen, während die braven Heldinnen um die Gefährlichkeit dieses Vorhabens zu wissen scheinen. Die Vorstellung, nicht zu sterben, schreckt viele noch mehr als der Tod. Dabei fragen sie nur selten neugierig nach, wie das überhaupt gemeint sei. Denn die Formel „Abschaffung des Todes“ ist alles andere als eindeutig. Ist damit die ewige Jugend gemeint? Kann auch durch Einwirkung größter Gewalt nicht sterben, wer es will? Eine unwahrscheinliche Vorstellung, wenn Menschen den Tod beseitigen könnten, könnten sie ihn wohl auch wieder einführen? Handelt es sich überhaupt um eine bloß naturwissenschaftliche Utopie oder geht es eher um die Beseitigung von Zuständen, in denen das Sterben alltäglich ist? Aber diese Fragen scheinen die Menschen zunächst gar nicht zu kümmern, sie erschrecken bloß vor der Vorstellung des ewigen Lebens. Das Leben ist ihnen so unangenehm, dass der Tod für sie eine Erlösung darstellt und seine Abschaffung ihnen als brutale Verewigung der Qual erscheint – es kann nichts Schlimmeres geben. Auch deshalb gewinnen wohl die Vampire, die Untoten, so an Faszination. Sie sind das personifizierte ewige Leben. Gefangen im begrabenen Silberkäfig lägen sie so für alle Ewigkeit. Eine Vorstellung angesichts welcher der Tod, der schnelle, schmerzlose Tod, wie ein Segen erscheinen muss: des Schlafes Bruder. So wie die Menschen mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen, werden auch Vampire gerne als dekadente Zynikerinnen porträtiert, die das Leben schon seit Jahrhunderten langweilt.

Lebenselend, Todeselend. Die Zeichnerin und Graphikerin Käthe Kollwitz hat das Thema Tod in zahlreichen Arbeiten behandelt. Sie stellt den Tod ganz ähnlich dar wie das Elend. Der Hunger und die Verzweiflung, die sie aufs Papier bringt, sind Hunger und Verzweiflung des Todes. Der Tod ist die Konsequenz des Leides, das sie zeigt. Ihr Elend ist ein Todeselend. In Mitteleuropa hat diese Darstellung des Leids ihren Schrecken für viele verloren. Es wird zwar noch mitleidig und bestürzt geschaut bei Bildern von hungernden Kindern und vielleicht eine kleine Spende springen gelassen. Aber dieses Leid wird als Leid der Anderen erlebt. Es betrifft eine selbst nicht. Was die Menschen betrifft, ist das Lebenselend. Wenn etwa der Regisseur Ulrich Seidl in Import/Export alte Menschen zeigt, die eben noch nicht gestorben sind, aber deren Leben auch kein Leben ist, das ängstigt und bestürzt. Sie sind die Vampire im Silberbettgestell. Deshalb interessieren sich neuerdings schon die Jungen und Gesunden für Sterbehilfe. Auf den Tod soll Verlass sein. Wurde das Altern in den 1990ern noch verdrängt und sich damit in jungen Jahren vorerst einfach nicht beschäftigt, so soll heute nichts mehr dem Zufall überlassen werden. Wer sterben will, soll sterben dürfen. Das ist einfacher, als dafür zu sorgen, dass nicht soviel gestorben werden will; leichter als für Verhältnisse einzutreten, in denen die Menschen leben wollen und wenn es geht, noch ein bisschen länger, in denen sie mit den Worten des Kabarettisten Georg Kreisler sagen würden:

Doch sollte sich einmal in meinem Leben
Der Tod trotz alledem zu mir begeben
Und sagen: „Lieber Freund, sei nicht beklommen
Die Stunde schlägt, du musst jetzt mit mir kommen.“
Dann sag ich: „No, es wird mir eine Freud´ sein
Nur muss es wirklich ausgerechnet heut´ sein?
Und ruft er dann: „Was zögerst du? Du musst!“
Dann sag ich: „Nein, ich hab ka Lust!“

Voll Hunger und voll Brot. Ein anderer Dichter, der von den Nazis ermordete Kommunist Jura Soyfer, hat dem Thema Leben und Tod einige ernstere Worte gewidmet. In seinem Lied von der Erde spitzt er den Widerspruch zwischen dem, was möglich wäre und dem, was ist, zu: „Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde / Voll Leben und voll Tod ist diese Erde / In Armut und in Reichtum grenzenlos.Es wäre heute möglich, dass niemand mehr hungert; Nahrung ist im Überfluss vorhanden. Nur verhungern die Menschen vor den Bäckereien, weil sie kein Geld haben, weil sie von den Gütern getrennt sind, die sie mitunter mit den eigenen Händen herstellen. Das Leben wird in dem Lied zur Chiffre des Potentials dessen, was sein könnte und der Tod wird zum Mal des unnötigen Leids. Das Gedicht des Autors des Dachauliedes legt noch einen Optimismus an den Tag, der heute nur mehr schwer vorstellbar wäre. Wenn er die oben halb zitierte Strophe mit den Versen schließt „Gesegnet und verdammt ist diese Erde, / Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde, / Und ihre Zukunft ist herrlich und groß“, dann ist diese Möglichkeit – sofern sie je bestand – aus heutiger Sicht vertan.  

Kindheitstraum. Dass einige dennoch an der Möglichkeit dieser Zukunft festhalten, hat vielleicht doch wieder mit der Kindheit zu tun. Es ist nämlich irgendwo ein kindlicher Wunsch, dass Friede sei auf Erden. Oder zumindest einer, der heute kindlich tönt – so wie die Formeln und Reste der Religion. Denn die allzu Erwachsenen haben eingesehen, dass es gilt, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist. Sie sagen, es solle so sein, weil es nicht anders sein könne. Sie verteidigen, was ist, weil es so ist, wie es nun einmal ist. Und wer sich damit nicht abfinden will, die sei noch zu jung, sei im Grunde noch ein Kind, werde schon noch darauf kommen, schon noch zur Vernunft kommen. Dabei ist es gerade Unvernunft, Zustände zu legitimieren, in denen die Menschen zu Hunderttausenden ohne Not verrecken, ertrinken, ermordet und gefoltert werden, in denen die Menschen in Angst leben und unter der ständigen Drohung von Gewalt. Das Vernünftige wäre es, in dieser Hinsicht ein trotziges Kind zu bleiben und an dem infantilen Wunsch festzuhalten, alles möge endlich gut werden. Und auch darauf zu bestehen, wenn im Grunde nichts dafürspricht. Denn der Wunsch muss sich nicht an die Realität halten, er ist zunächst eben ihr Gegenteil: Was nicht ist. Er ist aber eben immer auch ein Noch Nicht, etwas, das werden kann. Und wäre es auch ein Wunder. 

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