Familienprobleme

  • 20.03.2014, 17:16

 

Die Familie gab stets Anlass zum Kopfzerbrechen, im Leben wie in der Literatur. Sie fordert dazu heraus über das Verhältnis von Generationen, Einzelnen und Gesellschaft nachzudenken.

Familien sind überall. Im Fernsehen sind sie himmlisch und schrecklich, haben kleine Farmen und Anwesen in Bel Air. Auch jenseits der Fiktion sind sie nicht unterrepräsentiert, es gibt ein Ministerium für Familie und Jugend sowie eigene Familiensprecherinnen und -sprecher bei den großen Parteien. Die ersten Assoziationen zu Familie betreffen das traute Heim, die (verlogene) Idylle und die (erzwungene) Harmonie. Eigentlich steht die Familie aber im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte und ist Austragungsort zahlreicher Kämpfe. Sie nimmt eine Scharnierfunktion zwischen Privatem und Öffentlichem ein.

Sozialtümpel. Die Familie bildet deshalb ein äußerst reizvolles Experimentierfeld für die Literatur. In ihr verdichtet sich Gesellschaft, sie ist Kulminationspunkt abstrakter Verhältnisse und macht diese greifbar. Darüber hinaus ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Eltern einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Das motivierte etwa die sogenannten „Väterbücher“, in denen sich, beginnend mit den 1970er-Jahren, eine ganze Reihe von Autoren und einige Autorinnen mit ihren gestorbenen Vätern auseinandersetzten. Peter Henischs „Die kleine Figur meines Vaters“ und Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ sind Beispiele für diese Art der Vergangenheitsbewältigung. Bis heute erfreut sich diese Form der Kontaktaufnahme mit den toten Ahnen gewisser Beliebtheit. So legte Erich Hackl gerade einen Band voll dichter Prosa vor, die sich vorsichtig dem Leben seiner Mutter im Waldviertel annähert. Charakteristisch für diese Art der Literatur ist ein einfühlsamer Stil, der sich Wertungen enthält. Dennoch idealisiert Hackl das Landleben keinesfalls, sondern schildert verhältnismäßig nüchtern auch dessen Grausamkeiten; etwa wenn es um den Umgang mit Abtreibung geht.

Pars pro toto. Bereits 2010 hatte Hackl einen anderen Familienroman vorgelegt. Er beschreibt die Geschichte der Familie Salzmann über drei Generationen. So behutsam das Buch mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ die individuelle und genau recherchierte Geschichte der Figuren erzählt, so sehr ist es auch ein Buch über gesellschaftliche Kontinuität und das Fortleben von Antisemitismus und autoritärem Charakter. Es ist ein Buch über eine Familie, aber auch ein Buch über Postnazismus. Noch der Enkel des Kommunisten und Widerstandskämpfers Hugo Salzmann und der in Ravensbrück ermordeten Juliana Salzmann wird an seinem Arbeitsplatz bei der Grazer Gebietskrankenkasse antisemitisch gemobbt und 1997 schließlich entlassen.

Diese Verbindung des Erzählens über einzelne Personen und Familien auf der einen Seite und über eine Gesellschaft als Ganze auf der anderen Seite könnte als widersprüchlich verstanden werden. Schließlich hat das Leben einer eingewanderten Hilfsarbeiterin mit dem einer erfolgreichen Anwältin aus eingesessener Familie zunächst scheinbar wenig zu tun. Aber kreuzen sich die Wege dieser Bewohnerinnen unterschiedlicher Welten nicht dennoch, und sind ihre Positionen nicht im Grunde voneinander abhängig?

Solche Zusammenhänge kann ein Roman in einer Situation zuspitzen. Die Herausforderung liegt darin, Beispiele auszuwählen, die nicht einfach als Einzelfälle abgetan werden können. Dazu müssen sie mehr sein, als ein Beleg für ein Problem. Sie müssen etwas Zwingendes erhalten, das es ihnen erlaubt, sich ein Stück weit zu verselbstständigen. Solche Geschichten sind wahr, ohne dafür auf historischer Wahrheit beruhen zu müssen.

Verwandtes. Die Probleme, die der Familien- und Generationenroman aufwirft, gehen somit über die Sphäre der Verwandtschaft hinaus. Zentral ist dabei der Gegensatz zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Dieses Verhältnis kann sehr unterschiedlich gedacht werden. Auch über völkischrechte Kreise hinaus ist die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus, dessen Zellen die einzelnen Menschen seien, weit verbreitet. In dieser Vorstellung wird das Ganze hoch bewertet, die Einzelnen werden jedoch zu funktionalen Rädchen und Schrauben herabgesetzt.

In einer anderen Sicht, die mitunter von Teilen der modernen Sozialwissenschaft vertreten wird, stellt sich Gesellschaft als die Summe ihrer Teile vor. Auf eine Gesellschaftstheorie verzichten VertreterInnen dieses Weltbilds. Die Forschung beschränkt sich dann darauf, die Reaktionen der Menschen auf gewisse Impulse aufzuzeichnen und Prognosen für zukünftiges Verhalten zu treffen. Aussagen über ein gesellschaftliches Ganzes scheinen aus dieser Perspektive spekulativ und unseriös.

Gesellschaft ist jedoch weder ein für sich selbst existierendes Wesen, noch einfach ein Sammelbegriff für einen Haufen unzusammenhängender Einzelteile. Eher müsste sie als das Verhältnis der Menschen zueinander gedacht werden. Sie ist zwar als eigenständige Dynamik beschreibbar, aber nicht als von einzelnen Menschen und Geschichten unabhängig existierende Wesenheit. Walter Benjamin hat einmal das Bild der Sternenkonstellation bemüht, um seine Theorie von Wahrheit zu erklären. Die Analogie funktioniert auch hier. So wie der „Große Wagen“ eine bestimmte Anordnung von Sternen ist, so ist Gesellschaft eine bestimmte Konstellation von handelnden und denkenden Menschen. Eine Konstellation übrigens, die sich durchaus ändern ließe, würde der Wagen nicht allzu tief im Schlamm stecken.

Vielleicht besteht aber Hoffnung. Schließlich ist das Verhältnis zur Elterngeneration zunächst rebellisch und unangepasst. Deutet der Umstand, dass sich Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, der sich um einen jugendlichen Ausreißer dreht, beständig auf den Bestsellerlisten hält, auf die Lebendigkeit dieses Potentials hin? Oder mündet die Rebellion der Jungen am Ende doch in der Anpassung an die Werte der Eltern?

 

Simon Sailer studiert im Master Art and Science an der Universität für angewandte Kunst Wien

AutorInnen: Simon Sailer