Marlene Brüggemann

Smash it!

  • 18.05.2015, 12:58

Neon, Verzerrungen und auszuckende Frauen. Die Kunsthalle Krems zeigt mit der Ausstellung „Komm Schatz, wir stellen die Medien um fangen nochmal von vorne an“ Werke der Schweizer Video- und Objektkünstlerin Pipilotti Rist aus den letzten 30 Jahren.

Neon, Verzerrungen und auszuckende Frauen. Die Kunsthalle Krems zeigt mit der Ausstellung „Komm Schatz, wir stellen die Medien neu um und fangen nochmals von vorne an“ Werke der Schweizer Video- und Objektkünstlerin Pipilotti Rist aus den letzten 30 Jahren.

Begrüßt wird man von einem Kronleuchter aus ähnlich alt aussehenden Unterhosen, der den Weg in einen Raum mit gemütlichen Betten weist. Liegend wird man von kaleidoskopartigen Aufnahmen eingesogen. Mal eine Zunge hier, mal eine Vulva da, auch Himbeeren kommen vor. Alles Motive, die sich durch die ganze Ausstellung ziehen. Großes Highlight: der Film „Ever Is Over All“. Eine Frau in einem Kleid zerschmettert mit lachendem Gesicht willkürlich Autofensterscheiben mit einer Stange, die wie eine Blume aussieht.

(c) Pipilotti Rist - Homo Sapiens Sapiens

Sonst findet man in den großen Räumen immer wieder kleine experimentelle Filmchen in Handtaschen, Teppichen oder Muscheln versteckt. Es ist auf den ersten Blick nicht klar ersichtlich, wo im Raum die Kunst anfängt und aufhört. „Bitte nicht die Kunstobjekte berühren!“, so eine Museumsangestellte zu einem Typen, der sich lässig auf ein Gitterbett aufstützt, in dem eine Stoffbombe liegt, in der wiederum ein Film gespielt wird. Daneben fließt auf den Boden projiziertes Blut.

Gerade zu Beginn changiert die Ausstellung immer wieder zwischen faszinierenden, grellen Aciderfahrungen und erschreckendem Horrortrip, bei dem zuerst noch alles lustig war und dann auf einmal Blut zwischen den Zähnen eines lachenden Gesichts hervorsprudelt. Gegen Ende wird die Ausstellung zunehmend ruhiger. Dazu tragen Lämmer-, Früchte- und Wassermotive bei. Aber auch Teppiche, Sitz- und Liegesäcke, auf denen man sich vom Boden aus wandgroße Videoprojektionen von Füßen auf der Wiese oder zermatschenden Granatäpfeln ansehen kann, verstärken den Effekt.

(c) Pipilotti Rist - Sip My Ocean

Pipilotti Rist bricht mit der klassischen Rolle der Betrachtenden durch die Vielfalt der Positionierungen der Videos, aber auch der Zuseher_innen. Dementsprechend radikal verarbeitet sie auch Körperbilder und Geschlechterrollen, zum Beispiel in dem Covervideoclip zu „I’m Not A Girl Who Misses Much“ der Beatles. Sie schafft es mit ihren Werken Alternativen zum, wie sie es nennt, „Blickregime“ zu zeigen, in denen für den Moment des Betrachtens die Utopie real wird.

 

Pipilotti Rist: „Komm Schatz, wir stellen die Medien neu um & fangen nochmals von vorne an“
Kurator_innen: Stephanie Damianitsch, Hans-Peter Wipplinger
Kunsthalle Krems, Niederösterreich
bis 28.06.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

ROAR!

  • 11.05.2015, 08:36
Comic-Rezension

Comic-Rezension

Die kleine 4-jährige Lena lebt bei ihrer Mama. Aber ihre Mama kann nicht richtig auf sie und sich selbst aufpassen, denn sie ist krank. Immer und überall vermutet sie Scientolog_innen, oder wie Lena sie nennt „Seintogen“, die sie bedrohen und verfolgen. Viel erfährt man nicht über den Hintergund von Lena und ihrer Mama. Offen bleibt zum Beipiel der Name der Krankheit von Lenas Mama, oder warum sie keinen Job, dafür eine Faszination für Amerika hat. Was man aber weiß, ist, dass ihre Mama vergisst einzukaufen, den Wohnungsschlüssel einzustecken und den Geburtstagskuchen aus dem Rohr zu nehmen. Immer wieder ist sie aggressiv gegenüber anderen Menschen wie Frau „Blöde Kuh“ Gehring vom Jobcenter, „Wertloser Dreck“-Passant_innen auf der Straße oder „Abschaum“-Menschen vom Jugendamt.

Irgendwann eskaliert die Situation und Lenas Mama wird gegenüber einer Frau handgreiflich. Danach passiert alles schnell. Frau Siebert, Lenas Mama, wird in ihrer Wohnung verhaftet und mitgenommen. Lena muss bei den Polizisten bleiben bis sie Roswitha, ihre neue Pflegemutter, abholt. Bei ihren Pflegeeltern bekommt Lena ein Zimmer in einem Haus mit Garten und einen Bruder. Und doch kehrt nicht das Gefühl der Ruhe und der Erleichterung eines Happy Ends ein. Lena vermisst ihre Mama und vergisst sich auch nicht über eine klassisch bürgerliche Familienstruktur mit Bonbon-Pillen, einem abwesenden Ehemann/Vater und einer geduldigen, aber überforderten Pflegemutter. Es gibt zwar unverkokelten Kuchen, Schule und Kakao, aber traurig ist Lena trotzdem.

Raphaela Buder schafft es in Grau-Weiß-Schwarz auf manchmal hellrosanem Hintergrund ein unstetes Leben aus der Perspektive eines Kindes zu skizzieren. Die weichen Bleistiftzeichnungen stehen im Kontrast zu den drastischen Erlebnissen. Und doch schafft Buder es durch die realistische Konkretheit ihrer Bilder den Schmerz, das Nicht-verstehen-Können und die Verwirrung Lenas aufs Papier zu bringen. „Die Wurzeln der Lena Siebert“ zeigt die Schwierigkeiten eines kleinen Mädchens, das auf sich selbst aufpasst, aber trotzdem ihre Mama lieb hat.

Raphaela Buder (edit: inzwischen Raphaela Doğan): „Die Wurzeln der Lena Siebert“
mairisch verlag, 128 Seiten
14,90 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Comic-Rezension

Die kleine 4-jährige Lena lebt bei ihrer Mama. Aber ihre Mama kann nicht richtig auf sie und sich selbst aufpassen, denn sie ist krank. Immer und überall vermutet sie Scientolog_innen, oder wie Lena sie nennt „Seintogen“, die sie bedrohen und verfolgen. Viel erfährt man nicht über den Hintergund von Lena und ihrer Mama. Offen bleibt zum Beipiel der Name der Krankheit von Lenas Mama, oder warum sie keinen Job, dafür eine Faszination für Amerika hat. Was man aber weiß, ist, dass ihre Mama vergisst einzukaufen, den Wohnungsschlüssel einzustecken und den Geburtstagskuchen aus dem Rohr zu nehmen. Immer wieder ist sie aggressiv gegenüber anderen Menschen wie Frau „Blöde Kuh“ Gehring vom Jobcenter, „Wertloser Dreck“-Passant_innen auf der Straße oder „Abschaum“-Menschen vom Jugendamt.

Irgendwann eskaliert die Situation und Lenas Mama wird gegenüber einer Frau handgreiflich. Danach passiert alles schnell. Frau Siebert, Lenas Mama, wird in ihrer Wohnung verhaftet und mitgenommen. Lena muss bei den Polizisten bleiben bis sie Roswitha, ihre neue Pflegemutter, abholt. Bei ihren Pflegeeltern bekommt Lena ein Zimmer in einem Haus mit Garten und einen Bruder. Und doch kehrt nicht das Gefühl der Ruhe und der Erleichterung eines Happy Ends ein. Lena vermisst ihre Mama und vergisst sich auch nicht über eine klassisch bürgerliche Familienstruktur mit Bonbon-Pillen, einem abwesenden Ehemann/Vater und einer geduldigen, aber überforderten Pflegemutter. Es gibt zwar unverkokelten Kuchen, Schule und Kakao, aber traurig ist Lena trotzdem.

Raphaela Buder schafft es in Grau-Weiß-Schwarz auf manchmal hellrosanem Hintergrund ein unstetes Leben aus der Perspektive eines Kindes zu skizzieren. Die weichen Bleistiftzeichnungen stehen im Kontrast zu den drastischen Erlebnissen. Und doch schafft Buder es durch die realistische Konkretheit ihrer Bilder den Schmerz, das Nicht-verstehen-Können und die Verwirrung Lenas aufs Papier zu bringen. „Die Wurzeln der Lena Siebert“ zeigt die Schwierigkeiten eines kleinen Mädchens, das auf sich selbst aufpasst, aber trotzdem ihre Mama lieb hat.

Raphaela Buder (edit: inzwischen Raphaela Doğan): „Die Wurzeln der Lena Siebert“
mairisch verlag, 128 Seiten
14,90 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Wer zu stark brennt, brennt aus

  • 11.05.2015, 08:36

Aktivist_innen stecken Zeit, Arbeit und eventuell auch Geld in die Realisierung von Projekten und Veränderungen. Doch manchmal geben sie zu viel, um die Welt zu retten. progress hat mit Aktivist_innen über Burnout, Überlastung und fehlende Anerkennung gesprochen.

Aktivist_innen stecken Zeit, Arbeit und eventuell auch Geld in die Realisierung von Projekten und Veränderungen. Doch manchmal geben sie zu viel, um die Welt zu retten. progress hat mit Aktivist_innen über Burnout, Überlastung und fehlende Anerkennung gesprochen.

Mahriah berichtet über Prozesse und Repression, die Antifaschist_innen erfahren. Auf Twitter und Facebook teilt sie Infos über Abschiebungen und organisiert Treffen für Netzfeminist_innen, kurz: Mahriah ist politische Aktivistin. „Über einen Freund habe ich 2008 von den Prozessen gegen zehn Tierschützer_innen, die in U-Haft waren, erfahren. Der hat mich zum Landesgericht mitgenommen, das war meine erste Kundgebung. Seitdem bin ich aktiv.“ Für Mahriah gibt es immer was zu tun. Sie gündete prozess.report mit, organisiert das femcamp Wien mit, hält Verschlüsselungs- sowie Netzfeminismusworkshops, ist bei der Initiative für Netzfreiheit dabei und macht sonst noch „1.000 andere Dinge“. Irgendwann wurde ihr jedoch alles und „1.000 andere Dinge“ zu viel. „Ich habe lange nicht gemerkt, dass ich an einem Burnout leide.“

Julia Freidl vom Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung (BV) begann ihr Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien. Politisch aktiv wurde sie, weil sie die Studieneingangsphase (StEOP) als unfair empfand und das ändern wollte. Als Teil des Vorsitzteams weiß sie, was Stress bedeutet und kennt auch das Gefühl der Überlastung. „Ich arbeite ehrenamtlich 60 Stunden in der Woche neben dem Studium. Gerade in der Prüfungszeit kann das sehr anstrengend werden.“

Aus Wut auf den Rassismus der schwarz-blauen Regierung und ihre konservativen Bildungspolitik ging Aaron Bruckmiller mit vierzehn zum ersten Mal auf eine Demonstration. Seitdem kämpft er „für eine andere, schönere Gesellschaft“ und ist heute bei der Interventionistischen Linken (iL) in Berlin und Blockupy aktiv. Dass Aktivist_innen manchmal zu viel geben, liegt für ihn auf der Hand. „Wer wie ich ehrenamtlich und in außerparlamentarischen Gruppen aktiv ist, fühlt sich immer wieder überfordert. Schließlich müssen wir unsere politische Arbeit neben unserem Job, Studium oder unseren Kindern tun.“

Selbstausbeutung in ehrenamtlichen Tätigkeiten ist keine Seltenheit. Lisa Tomaschek-Habrina vom Institut für Burnout und Stressmanagement weiß, dass das ehrenamtliche Engagement seine Tücken hat. Nicht nur, weil der monetäre Ausgleich fehlt: „Wenn das Arbeitsaufkommen mit den Ressourcen im Gleichgewicht ist, kann man ein Ehrenamt Jahrzehnte lang machen, ohne dass etwas passiert. Kippt diese Waage und die Belastung überwiegt, kann man es mit den eigenen Ressourcen nicht mehr ausgleichen.“

DICKE HAUT. Im politischen Aktivismus bereitet Abgrenzung oft besondere Schwierigkeiten: Man steht mit seinem Gesicht und Namen für eine Sache, das Engagement ist Sinnbild persönlicher Hoffnung. Reagierten das politische System und die Öffentlichkeit gar nicht oder negativ auf den eigenen Einsatz, trifft das direkt ins Mark des_r Engagierten.

Julia Freidl kennt es, dass Anerkennung und Wertschätzung ausbleiben oder gar negative Rückmeldungen sie erreichen. Als Mitglied des Vorsitzteams der ÖH steht sie genauso wie die anderen Mitglieder des Teams nicht selten unter Kritik von Seiten Studierender, Medien oder auch politischer Fraktionen. „Man lässt sich eine dicke Haut wachsen. Aber leicht ist es nicht. Nicht alles, was du tust, bekommen alle Studierenden automatisch mit.”

Eine besondere Möglichkeit, die eigene politische Arbeit sichtbar zu machen, bietet das Internet. Laut Christopher Hubatschke, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien, ist es nicht verwunderlich, dass Aktivist_innen das Medium Internet früh für sich entdeckt haben. „Politischer Widerstand hat sich quer durch die Geschichte dadurch ausgezeichnet die neusten Technologien zu vereinnahmen. Schließlich geht es um die Verbreitung von Information und Gegenöffentlichkeit. Das Internet eignet sich besonders gut, um die eigene Position darzustellen und Solidarität aufzubauen.”

Mahriah benutzt seit Beginn ihrer politischen Arbeit Twitter und Facebook und würde sich auch als Netzaktivistin bezeichnen. Das erste, was sie nach dem Aufwachen – noch vor einem Kaffee – tut, ist ihre Mails zu checken. Aktivismus und Internet gehen für Mahriah Hand in Hand.

TOPFHOTLINE. Christopher Hubatschke setzt sich in seiner Dissertation theoretisch mit Protest- und sozialen Bewegungen in Verbindung mit neuen Technologien auseinander. Da er aber auch bei #unibrennt dabei war, kennt er auch die praktische Seite. Er schwärmt von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, um Aktivismus vor Ort zu unterstützen. „In der Volxküche hat uns mal ein Topf gefehlt. Wir haben das auf unseren Social-Media-Kanälen gepostet. Innerhalb von 20 Minuten hat uns jemand einen Topf vorbeigebracht.“ Vor der Allmachtfantasie, dass das Internet von selbst Demokratie und Freiheit bringen würde, warnt Hubatschke jedoch. „Auch im Netz müssen Strukturen, Organisation und Kommunikationswege von Aktivist_innen aufgebaut werden.”

In Zeiten von Blogs, Social Networks und anderen Wortmeldeplattformen braucht man nicht mehr unbedingt auf die Straßen zu gehen, um etwas zu bewirken. Ein Klick, Like oder Post lässt sich bequem vom Smartphone absenden und schon kann man sich zum Team Weltrettung zählen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Onlineaktivismus ist wesentlich kostengünstiger. Er ist spontan, schnell und nicht an Raum und Zeit gebunden. Jede_r kann. Immer. Von überall.

Mahriah weist auf die Besonderheit des Internets hin, als Aktivist_in rund um die Uhr etwas tun zu können. „Wenn andere Leute schlafen gehen, gibt es tausend andere Leute, die gerade was tun. Du kannst dich gut beschäftigen und das lenkt auch effektiv vom Burnout ab.“ Auf die Frage, wie viele Stunden sie vor dem Computer verbringt, kann sie keine eindeutige Antwort geben. „Es ist sehr schwer für mich einzuschätzen. Seitdem ich mein Smartphone habe, bin ich rund um die Uhr online.“

ENEMY’S WATCHING. Sich oft und viel im Netz zu bewegen bedarf auch etwas an Vorsicht. Die Gesetzeslage bezüglich Onlineaktivismus ist nach wie vor uneindeutig. So etwas wie Demonstrationsrecht wird nicht gesichert. Die Blockade von Webseiten kann, muss aber keine Folgen nach sich ziehen. Hubatschke, Aaron und Mahriah wissen, dass es als Onlineaktivist_in notwendig ist, sich vor staatlicher Repression und Überwachung zu schützen. „Es ist klar, dass die Polizei auf Twitter und Co mitliest. Man versucht sich zu schützen, indem man nicht jede Information teilt oder nicht unter dem Klarnamen postet. Ich versuche egal welche Information verschlüsselt zu senden“, sagt Mahriah.

Aber auch im Sinne der Selbstausbeutung und Verletzlichkeit bringt der Cyberaktivismus Nachteile. So können Hassmails und Shitstorms persönlicher und kräftiger auf eine_n niederpeitschen. „Als Blockupy-Pressesprecher habe ich ein paar Fernsehinterviews gegeben, die zu einem kleinen Shitstorm im Internet führten. Neben Morddrohungen erreichten mich Empfehlungen nach Nordkorea, zum IS oder in einen PR-Kurs zu gehen. Als ich das zum ersten Mal las, musste ich mehrmals schlucken.“, erzählt Aaron. Die Unmittelbarkeit verlangt prompte Reaktionen bei gleichzeitigem Mangel an Schutz und Struktur. Für Mahriah ist es besonders schwierig, sich aus Onlinediskursen auszuklinken oder mal das Handy abzuschalten.

I’M A CREEP. Für das Ausbrennen spielen neben privaten Belastungen auch Persönlichkeitsfaktoren eine ebenso große Rolle. Gefährdet, sich für eine Sache bis zur Erschöpfung zu verausgaben, sind vor allem Menschen, die nicht wissen, wann „perfekt“ perfekt genug ist, oder alle Aufgaben stets sofort erfüllen möchten. Gerade im Bereich des politischen Engagements, das 24 Stunden am Tag einnehmen kann und wo Geschehnisse oft eine sofortige Reaktion verlangen, ist ein Vertagen auf morgen, das oftmals gesundheitsfördernd wäre, nicht möglich.

Auch für Mahriah ist es nicht leicht, sich auszuklinken. „Mir fällt es ehrlich gesagt sehr schwer, mal eine Pause zu machen. Allein wie viel Zeit wir in den letzten Monaten, in denen wir prozess.report gegründet haben, investiert haben. Wir waren ständig in Gerichtssälen, sind von einem Prozess zum nächsten und haben uns keine Pause gegönnt. Das hat auch zu dem Burnout geführt, an dem ich gerade arbeite.“ Die Erschöpfung kann sich dann auf körperlicher und geistiger Ebene manifestieren, erklärt Tomaschek-Habrina. Von Beschwerden im Verdauungstrakt über Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu depressiven Stimmungen oder Angstzuständen reichen die Symptome einer Überlastung.

Nach einer Zeit der intensiven Prozessberichterstattung bemerkte Mahriah, dass sie nicht mehr so fit war und immer häufiger krank wurde. Auch fiel ihr auf, dass sie weniger schaffte als früher. „Ich war phasenweise eher erschöpft. Dann hab ich eine Pause gemacht, aber ich hab das nie als Burnout anerkannt, sondern hab’ mir gedacht, ich hab’s etwas übertrieben. Ich habe mir zwar nach den Urteilen eine Auszeit gegönnt, aber das hat nicht ausgereicht.“ Erst durch viele Gespräche mit anderen Aktivist_innen, die auch ein Burnout durchmachen oder durchgemacht haben, konnte sie ihren Schwierigkeiten einen Namen geben: Burnout.

POLITISCHE HERZEN. Laut Tomaschek-Habrina ist es wichtig, Warnsignale früh genug zu erkennen und für sich selbst zu sorgen: mittels ausreichender Bewegung, Entspannung, guter Ernährung, Psychohygiene und sozialen Kontakten. Für Mahriah sind es vor allem Freund_innen aus dem Netz, die sie auffangen und von denen sie sich Unterstützung holen kann. „In Wien kann man beim Netzfeministischen Bier oder femcamp über Hasspostings oder solche Dinge reden. Der Vorteil vom Netzaktivismus ist ja: Wenn man es gerade nicht schafft, kann man das Internet abschalten. Aber dann ist man nicht mehr Teil des Diskurses. Das fällt mir manchmal schwer. Aber es funktionert ganz gut, um sich wieder Energie zu holen.“ Aaron nimmt sich auch mal eine Auszeit vom Aktivismus: „Wenn ich mich ausgebrannt fühle, schiebe ich alles von mir, treffe mich mit netten Leuten, gehe tanzen, schaue stundenlang Serien oder lese ein gutes Buch.“

Auf Mahriahs Laptop klebt ein Sticker, auf dem steht: „Unsere Herzen sind politisch.“ Ob sie schon mal daran gedacht hat, ihre Aktivist_innenarbeit aufzugeben? „Nein! Es macht natürlich auch sehr viel Spaß, auch wenn es frustriert. Man lernt tolle Menschen kennen und man macht Erfahrungen. Ich liebe ihn einfach, den Aktivismus. Ich könnte mir das gar nicht vorstellen, diese Arbeit zu beenden.“ Auch Julia möchte ihre Erfahrungen, auch wenn es mal frustrierend ist, nicht missen. Für Aaron muss Aktivismus aber irgendwann ohne Selbstausbeutung möglich sein: „Kein Aktivismus ist auch keine Lösung. Wir kämpfen gegen die Grobheit des Kapitalismus und für eine zärtliche Gesellschaft. Dieser Kampf schließt den zärtlichen Umgang mit sich selbst ein.“

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien. 
Alisa Vogt studiert Psychologie und Germanistik an der Universität Wien.

 

Wo sind die Dinos?

  • 26.03.2015, 08:36

Proton Riders, 17:00. In dem in 80er-Jahre-Zeichentrickstil gehaltenen Spiel „Ace Ferrara And The Dino Menace“ jagt man als der Praktikant Ace Ferrara in Sonnensystemen raumschifffliegende Dinosaurier, die die Menschheit bedrohen.

App-Rezension

Proton Riders, 17:00. In dem in 80er-Jahre-Zeichentrickstil gehaltenen Spiel „Ace Ferrara And The Dino Menace“ jagt man als der Praktikant Ace Ferrara in Sonnensystemen raumschifffliegende Dinosaurier, die die Menschheit bedrohen. Und das ist relativ einfach, denn die Steuerung verzichtet auf jeglichen Firlefanz. Dafür büßt sie eine dritte Dimension ein. Mit dem virtuellen Joystick geht es nur links oder rechts weiter. So einfach die Steuerung ist, so platt und deswegen lang wirkt die Story.

Eigentlich will man lieber mit der älteren Captain Rogers in den eindrucksvoll gemachten Galaxien Dinos jagen. Ihre Rolle beschränkt sich aber darauf, Anweisungen zu geben und sich in Weisheit/Fadheit zu üben. So muss man eben Fragen des Piloten Sneaky Jaques beantworten, z.B. wie „she“, das neue Schiff (sic!), so drauf ist. Da ärgert man sich, dass „Ace Ferrara“ kein Open-World-Spiel ist, in dem man Sneaky Jaques ein Glas Wasser ins Gesicht schütten kann. Stattdessen liest man Antworten wie: „She’s … powerful, I suppose? Maybe … Maybe a little bulky.“ Ähh?

Nicht nur die Dialoge machen es schwer, nicht einfach auf Skip zu drücken, sondern auch deren graphische Umsetzung. Da zittern die Buchstaben, Wörter oder Satzteile sind ohne erkennbare Struktur eingefärbt und Englisch ist die einzige Sprachoption. Englisch – kein Problem? Wenn Wörter wie „Counter-Impersonation“ oder „Xeno-Relations 201“ in fast jedem Satz auftauchen, denkt man anders.

Unterhaltsam sind die Retrospektiven auf Gewohnheiten des 21. Jahrhunderts. In „Ace Ferrara“ ist der Bus, der mit fossilen Brennstoffen betrieben wird, ein Absurdum. Ebenfalls unglaublich ist die Vorstellung, dass Dinosaurier, die erbitterten Feinde, mal für eben diese Busse verbrannt wurden.

Auch wenn die Storyline etwas hohl ist, hat der Wiener Philipp Seifried im Alleingang (!) einen technisch klugen und graphisch sauberen Weltraumshooter entwickelt. Mit kleinen Flugtricks wie Barrel Rolling oder Afterburner wird die Jagd im Miniversum am Handy zum ausgetüftelten Flugerlebnis.

Philipp Seifried: „Ace Ferrara And The Dino Menace“
iOS/Android
1,99 Euro

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

8 Monate

  • 23.03.2015, 20:55

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Der damals 20-jährige Student Alex Plima* wollte gerade bei einem Würstelstand nahe einer Wiener U-Bahn-Station Schottentor Bier kaufen, als er Zeuge einer gewaltvollen Verhaftung wurde. Mehrere WEGA-Beamt_innen schleiften einen Mann, der nicht bei vollem Bewusstsein war und am Kopf blutete, die Treppen hoch. Alex stellte sich vor sie und schrie, um Passant_innen auf die Situation aufmerksam zu machen. Mehrmals forderte er die Beamt_innen auf, den Verhafteten ins Krankenhaus zu bringen und ihn ärztlich versorgen zu lassen. Angriffig, beleidigend oder gewalttätig wurde er aber nicht. Die Reaktion der Beamt_innen war für ihn überraschend und unerwartet aggressiv. „Von hinten hat mir ein Polizist die Hoden gequetscht. Nachdem ich ihn fragte, was das soll, wurde ich von sechs WEGA-Polizist_innen festgenommen. Auf meine Frage nach dem Grund für die Festnahme erhielt ich keine Antwort.“ Trotz Verhaftung wurde er jedoch nicht in Untersuchungshaft genommen. Erst ein halbes Jahr später erhielt er einen Brief, in dem er darüber informiert wurde, dass er wegen drei Vergehen angeklagt wird: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und schwere Körperverletzung. Grund dafür sei ein wildes Herumschlagen seinerseits gewesen. Alex beteuert, nie Gewalt angewendet zu haben.

Eine Beschwerde wegen des Verhaltens der Polizei legte Alex jedoch nicht ein: „Du hast nur wenig bis keine Chance, dass dir Recht gegeben wird. Ich bin mir so ohnmächtig vorgekommen, weil sich die Polizist_innen so skrupellos über das Rechtssystem hinweggesetzt haben. Außerdem hätte es Energie, Zeit und Geld gekostet eine Beschwerde einzureichen und ich hatte nichts davon, weil ich mitten in der Vorbereitung für meine Studienberechtigungsprüfung steckte.“ Bei einer sogenannten Maßnahmenbeschwerde tragen von Polizeigewalt Betroffene ein Kostenrisiko von zirka 800 bis 900 Euro. Dass Personen, die eine Beschwerde einlegen, das Verfahren verlieren, ist statistisch eher die Regel als die Ausnahme. Nur zirka 10 Prozent der Misshandlungsvorwürfe werden überhaupt verhandelt.

„Rechtsschutz ist eine Frage der Ökonomie“, fasst die Verfassungsjuristin Brigitte Hornyik diesen Zustand zusammen. Sie legte kürzlich Maßnahmenbeschwerde gegen das Vorgehen der Polizei während der ersten Pegida-Kundgebung in Wien ein. „Eingekesselt wurden alle, auch Personen mit Presseausweis. Diese Freiheitsberaubung – wir wurden einzeln kontrolliert, Identitätsfeststellung, Perlustrierung – geschah frei nach US-Cop-Serien: Beine auseinander, Hände an die Wand! Die gesamte Aktion war einfach nur willkürliche Polizeirepression. Es hatte ja niemand von uns irgendwas verbrochen.“ Das wollte Hornyik nicht unwidersprochen lassen. Sie überlegt, bei Abweisung bis zum Verfassungsgerichtshof zu gehen. Sie ist sich aber ihrer Privilegien bewusst: „Das Institut für Kriminalsoziologie hat in den 80er Jahren eine Studie gemacht, welche Menschen ihr Recht am meisten verfolgen und welche am wenigsten: Akademisch gebildete Menschen männlichen Geschlechts standen ganz oben auf der Skala, Hausfrauen und Alleinerzieherinnen ganz unten – Rechtsschutz hat also auch eine geschlechtsspezifische Komponente.“

KEINE BEDAUERLICHEN EINZELFÄLLE. In den Sicherheitsberichten des Bundesministeriums für Inneres werden unter dem Punkt „Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden und ähnliche Verdachtsfälle“ Beschwerden gegen Polizist_innen statistisch erfasst und offengelegt. In den letzten zehn Jahren gingen 8.958 solcher Vorwürfe ein. Davon wurden ganze 8.004 Verfahren eingestellt.

Die hohe Zahl an Beschwerden und die vergleichsweise kleine Verfahrensanzahl wird wie folgt verteidigt: „Bei dieser Auswertung muss berücksichtigt werden, dass […] in einer überwiegenden Anzahl der angezeigten Fälle geringfügige Verletzungen beispielsweise durch das Anlegen von Handfesseln oder den Einsatz von Pfeffersprays eintrat (sic!) – zum Teil ohne dass ein Misshandlungsvorwurf gegen das einschreitende Organ erhoben wurde.“ Aufschlussreich ist die Tatsache, dass Verletzungen durch die Verwendung von Handfesseln und Pfefferspray als geringfügigbezeichnet werden, obwohl Pfefferspray in Österreich offiziell als Waffe gilt, die nur zur Notwehr eingesetzt werden darf, und jemanden zu fesseln als Nötigung.

„Ich denke, dass in einigen Fällen an den Vorwürfen gegen Polizist_innen tatsächlich nichts dran ist, sondern sich von Amtshandlungen Betroffene subjektiv ungerecht behandelt fühlen und sich über die Beamt_innen beschweren, obwohl die ihren Job korrekt gemacht haben“, sagt Anwalt Clemens Lahner, der unter anderem im Landfiredensbruchsprozess gegen Josef S. und im Fluchthilfeprozess gegen mehrere Aktivisten der Refugee-Bewegung Verteidiger war. Nun: Das 1989 gegründete „European Committee for the Prevention of Torture“, kurz CPT, kritisiert seit seinem Bestehen die Bedingungen der österreichischen (Schub-)Haft und die Zustände in Wachzimmern sowie Gefängnissen. Sogar bei absoluten Grundlagen sieht das CPT in Österreich Nachholbedarf und forderte etwa 1994 die österreichischen Behörden auf, in der Praxis den Haftbericht allgemein zu verwenden und richtig auszufüllen. Die Stellungnahme der Regierung: „Das richtige und vollständig (sic!) Ausfüllen der Haftberichte ist und wird Gegenstand der berufsbegleitenden Fortbildung sowie interner Schulungen sein.“ Im aktuellsten Bericht von 2010 wünscht sich das CPT von der österreichischen Regierung, „Polizeibeamte in ganz Österreich in regelmäßigen Abständen daran zu erinnern, dass jede Form von Misshandlung (z.B. auch Beschimpfungen) von Häftlingen nicht akzeptabel ist und Gegenstand strenger Sanktionen sein wird“. Sind die Festgenommenen einmal unter Kontrolle gebracht, gäbe es keinen Grund, sie zu schlagen. Lahner führt aus: „Gerade in Situationen, wo Gedränge und Lärm herrschen und die Beamt_innen eine Menschenmenge subjektiv pauschal als feindlich wahrnehmen, liegen die Nerven oft blank. Es kommt zu unverhältnismäßigen Einsätzen und bei Festnahmen werden Menschen oft am Boden fixiert, obwohl das gar nicht nötig wäre.“

Weiters kritisierte das CPT die niedrigen Strafen für straffällig gewordene Polizist_innen und rief angesichts bisheriger Fälle dazu auf, die Straftat „Folter“ so bald wie möglich in das Strafgesetz aufzunehmen, was Ende 2012 dann auch geschah. Schon 1991 schrieb das CPT über Österreich: „There is a serious risk of detainees being ill-treated while in police custody.“ 1999 erstickte der Nigerianer Marcus Omofuma während seiner Abschiebung in einem Flugzeug; 2006 wurde der Gambier Bakary J. von drei Polizisten nach einer gescheiterten Abschiebung in eine leere Lagerhalle gebracht und schwer misshandelt. 2009 erschoss ein Kremser Polizeibeamter einen unbewaffneten 14-jährigen. In allen drei Fällen fassten die Hauptangeklagten nur acht Monate Haft aus, Entlassungen folgten erst viele Jahre später oder gar nicht. Seit 1999 wurden mindestens acht Fälle bekannt, bei denen Schwarze Männer bei Festnahmen oder in Polizeigewahrsam gestorben sind. People of Color, Migrant_innen, Demonstrant_innen, Sexarbeiter_innen, Obdachlose, drogenabhängige und sozial schwache Menschen sind laut sämtlichen NGOs überdurchschnittlich von Polizeigewalt betroffen.

BESCHWERDE? GEGENANZEIGE! Dina Malandi berät beim Verein Zara (für „Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit“) Betroffene und Zeug_innen von Rassismus und dokumentiert im jährlich erscheinenden Rassismusreport auch Fälle rassistischer Polizeigewalt. Besonders körperliche Übergriffe seien schwierig nachzuweisen. Sollte man es doch versuchen, muss man mit einer sofortigen Gegenanklage wegen schwerer Körperverletzung rechnen. „Es wird schnell einmal gesagt, dass schwere Körperverletzung vorliegt. Diese Schutzbehauptung wird getätigt, um einer Beschwerde entgegenzuwirken. Jede kleinste Verletzung auf Seiten der Polizist_innen – ein Kratzer oder ein blauer Fleck – sind von Rechts wegen schon schwere Körperverletzung. Hier findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.“

Aber auch Zeug_innen und Beobachter_innen mit Zivilcourage erfahren, wie etwa Alex’ Fall zeigt, massive Repression. Mit Geld- und Verwaltungsstrafen oder auch Verhaftungen wird es Menschen schwer gemacht, bei Übergiffen einzuschreiten, auf Missstände aufmerksam zu machen oder auch nur eine Demonstration, einen Einsatz oder eine Festnahme zu beobachten.

Maria Nym* saß an einem Freitagabend in einem Lokal, als sie vor dem Fenster eine Festnahme bemerkte. Sie versuchte, die gewaltsame Festnahme zu beobachten und ließ sich auch nicht durch Beleidigungen, Drohungen und physische Übergriffe durch die Polizei einschüchtern oder vertreiben. Nun werden ihr vier Verwaltungdelikte vorgeworfen: „öffentliche Anstandsverletzung“, „ungebührliche Erregung störenden Lärms“, „aggressives Verhalten gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht“ und Nicht-auf-dem-Gehsteig-Gehen. Die Höhe der Strafe: 350 Euro. Diese könnte sie zwar zahlen, aber sie hätte dann kein Geld mehr für die Miete. Deswegen legte Maria nun Einspruch ein und hofft darauf, dass die Strafe heruntergesetzt oder ganz fallen gelassen wird.

Dass nur wenigen, die wie Maria gegen Polizeigewalt und Schikane vorgehen wollen, Recht gegeben wird, liegt oft daran, dass die eigene Aussage gegen jene mehrerer Polizist_innen steht. „Unter den Polizist_innen gibt es nicht unbedingt den Willen, gegen Kolleg_innen auszusagen. Da herrscht noch oft eine falsch verstandene Solidarität“, so Dina Malandi. Das kann sich verheerend für die Person auswirken, die die Maßnahmenbeschwerde eingereicht oder Anzeige erstattet hat. Sobald Verantwortliche durch Kolleg_innen gedeckt werden, kann der_die Betroffene auch wegen Verleumdung angeklagt werden – statistisch gesehen passiert dies in fast vier Prozent der Fälle. Laut Malandi sind dies wesentliche Gründe dafür, dass viele Betroffene erst gar nicht Beschwerde einreichen. Die Dunkelziffer dürfte dementsprechend hoch sein.

FUCK THE SYSTEM. Diese „Cop-Culture“ zu brechen, sieht auch Florian Klenk als eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Polizeigewaltprävention: „Es braucht eine Beförderungsstruktur, die BeamtInnen, die auf Misstände hinweisen, belohnt. Momentan ist es noch so, dass jemand, der oder die seine Kollegen und Kolleginnen kritisiert oder verpfeift, absolut unten durch ist.“ Gerade machte Klenk einen Fall bekannt, bei dem eine 47-jährige Frau zu Silvester bei einer Tankstelle der Wiener Innenstadt offenbar ungerechtfertigt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen und misshandelt worden ist. Steißbeinbruch, Schädelprellungen und Blutergüsse: für ihre Verletzungen oder für die Sicherstellung der Videobeweise nach der Anzeige der Frau interessierte sich die Staatsanwaltschaft vorerst nicht.

Der Falter-Chefredakteur und Jurist, der seit den 90ern investigativ über Missstände in österreichischen Gefängnissen und bei der Exekutive berichtet, meint, es habe sich aber seit damals auch einiges getan. Brigitte Hornyik dazu: „Der Polizei sind durch das Sicherheitspolizeigesetz nach wie vor sehr weitreichende Befugnisse eingeräumt. Vor 1991 war das noch schlimmer. ´Übergangsbestimmungen von 1929 waren oft die einzige Grundlage polizeilichen Handelns.“

Trotzdem kritisiert Klenk (genau wie das CPT und der Menschenrechtsbeirat der Volksanwaltschaft) die immer zunächst schleißig und intern angestellten Nachforschungen: „Es muss endlich eine unabhängige Stelle geben, die für Beschwerden gegen die Exekutive zuständig ist.“ Alle von progress kontaktierten Expert_innen sind sich übrigens einig, dass eine Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen (etwa eine sichtbar an der Uniform angebrachte Dienstnummer) sowie am Körper angebrachte Kameras bei der Gewaltprävention aber auch bei der Aufklärung extrem hilfreich wären. Doch dagegen wehrt sich die Polizeigewerkschaft vehement. „Die blau unterwanderte Polizeigewerkschaft stellt sich leider allzu oft auf die Seite der schwarzen Schafe und diskreditiert damit die Arbeit der korrekten Polizistinnen und Polizisten. Sie ist Teil eines Systems des Schweigens und Verharmlosens. Wie in der RichterInnenschaft sollte auch bei der Polizei Äquidistanz zu politischen Parteien herrschen“, meint Klenk.

Zudem sähen Richter_innen und Staatsanwält_innen die Polizei als Verbündete im Kampf gegen das Verbrechen und wähnten einander trotz Gewaltenteilung auf derselben Seite, sagt Klenk. „Sie poltern zwar manchmal im Gerichtssaal, verhängen dann aber sehr milde Strafen. Man soll sich nur vorstellen, was zwei Nigerianer ausfassen würden, wenn sie einen Polizisten so gefoltert hätten wie es Bakary geschah.“ Verschwindend niedrig ist die Zahl der Polizist_innen, die nach einer Anklage überhaupt schuldig gesprochen werden. In den letzten zehn Jahren, von 2004 bis 2013, waren das insgesamt 13 Beamt_innen.

Im Fall von Edwin Ndupu, der von 15 Justizwachebeamten verprügelt worden war und kurz darauf in der Justizanstalt Krems/Stein starb, gab es sogar Anerkennung:  Laut Falter 41/04 lud Justizministerin Miklautsch Anfang Oktober 11 der 15 an dem Einsatz beteiligten Justizbeamten zu sich ins Ministerium ein. Da die 11 Beamten bei dem Einsatz mit dem Blut des HIV-positiven Häftlings in Berührung gekommen waren, erhielten sie 2.000 Euro Schadensersatz.

Brigitte Hornyik meint, dass diese Zusammenarbeit zwischen Justiz und Exekutive kein Zufall sei: „Für mich ist das Ausdruck eines autoritären und hierarchischen Denkens: Die Staatsgewalt braucht eben Repression, um an der Macht zu bleiben. Letztlich sind das Ausläufer des Absolutismus und des Metternich’schen Überwachungsstaates.“

Zusammengefasst: Die Polizei handelt (nicht selten) gewaltsam. Es gibt keine unabhängigen Untersuchungsgremien bei Streitfällen. Sich zu wehren oder zu beschweren ist ein finanzielles, rechtliches und gesundheitliches Risiko. Die Justiz stärkt gewalttätigen und straffälligen Polizist_innen den Rücken, die Politik weigert sich zu handeln, obwohl internationale Gremien seit Jahrzehnten warnen und mahnen. Der längere Ast, auf dem die Staatsgewalt sitzt, ist ein Prügelknüppel. „Trotzdem würde ich vorschlagen, an diesem längeren Ast zu sägen und die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns in Frage zu stellen“, sagt Brigitte Hornyik. „Durchaus mit Hilfe der Gerichte, so lange wir noch nichts Besseres haben.“

*Name von der Redaktion geändert.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien. 
Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Uni Wien.

 

Smartphoneschnitzeljagd

  • 27.10.2014, 16:08

Mit Alexander Pfeiffer, dem Leiter der angewandten Spieleforschung an der Donau Uni Krems, hat progress über Alt-Englisch, virtuelle Schnitzeljagden und Kriegswerbung in Videospielen gesprochen.

Mit Alexander Pfeiffer, dem Leiter der angewandten Spieleforschung an der Donau Uni Krems, hat progress über Altenglisch, virtuelle Schnitzeljagden und Kriegswerbung in Videospielen gesprochen.

progress: Nach welchem Spiel waren Sie als Jugendlicher süchtig?

Alexander Pfeiffer: Mit dem Begriff „Sucht“ muss ich als Gründer des Instituts zur Prävention von Onlinesucht aufpassen. Aber das erste Spiel, mit dem ich die eine oder andere Minute zu viel verbracht habe, war in den 90ern der „Bundesliga Manager Professional“, eine Fußballmanagersimulation. Gemeinsam mit einem guten Schulfreund habe ich oft ganze Nachmittage „durchgelernt“ und zwar Taktiktraining. Wir wussten nahezu alle Spieler aus den deutschen Bundesligen zu dieser Zeit auswendig. Als Kind war mein erstes Spiel mit acht Jahren „Ultima VI“, ein Rollenspiel, bei dem man Held und Vorbild wird, indem man Verdienste in verschiedenen Tugenden erwirbt. So hat „Ultima VI“ für ein Basisgefühl von Ethik gesorgt. Außerdem hat es dazu geführt, dass mein Altenglisch wirklich gut ist und dass ich meine erste Englischschularbeit statt auf Englisch auf Altenglisch geschrieben habe.

Wenn Spiele so viel Fachwissen vermitteln und SpielerInnen zu ExpertInnen ausbilden können – werden dann LehrerInnen und ProfessorInnen in Zukunft obsolet?

Nein. PädagogInnen sind absolut wichtig, um das Lernen zu leiten, um zu didaktisieren. „Ludwig“ ist ein Spiel, in dem man eine virtuelle Welt entdeckt, Experimente durchführt und auch noch lernt, wie man aus Wind Energie macht. Das Spiel funktioniert am besten, wenn es die Kids spielen und die LehrerInnen im Physiklabor dazu die Versuche zeigen. Wenn noch der oder die DeutschlehrerIn zusätzlich eine Nacherzählung über „Ludwig“ schreiben lässt, haben alle gewonnen.

Trotzdem zögern LehrerInnen und ProfessorInnen, Videospiele im Unterricht oder im Lernprozess zu verwenden. Warum?

Aus Unwissen, wegen der meist negativen Medien-Berichterstattung und letztendlich auch, weil es an Angeboten für LehrerInnen fehlt. Doch es wird langsam, aber sicher besser. Es gibt auch immer mehr Studienrichtungen, die „pro“ oder zumindest „fair“ gegenüber Spielen sind. Leider sind Videospiele in der didaktischen Grundausbildung von LehrerInnen und ProfessorInnen noch nicht ganz angekommen, obwohl es mittlerweile auch großartige Leute gibt, die auf spielendes Lernen in ihren Vorlesungen in der Grundausbildung aufmerksam machen.

Ab dem Kindergarten gibt es eine klare Trennung zwischen Spiel und Ernst. Da sind Schule und Uni kein Ort für Spaß. Was macht es so schwierig, Lernen und Spielen wieder zusammenzuführen?

Rund um die Jahrtausendwende waren „EduGames“ im Trend, selbst Nintendo ist hier aufgesprungen. Das Problem war jedoch immer der Medienbruch. Man spielte das Spiel, aber das Lernen und Evaluieren waren aus dem Kontext rausgerissen. Im besten Fall findet kein Lernbruch statt. Spiel und Lernen können dann eventuell sogar in eine perfekte Erzählung eingebunden werden und folgender Formel von Michael Wagner: „Spielziel ist gleich Lernziel“. Was es schwierig macht, im Spielen zu lernen, ist die Tatsache, dass verschiedene Interessen einander in die Quere kommen. Ein Spiel muss freiwillig gespielt werden und sollte keine Auswirkungen auf das reale Leben haben. Wenn ich auf mein gamifiziertes Lernen Noten bekomme, gehen aber die beiden vorher genannten Voraussetzungen für lustvolles Spielen verloren. Ich denke, dass nur mit der gamifizierten Simulation spielerisch gelernt werden kann. Das kann auf die Kosten der Freiwilligkeit gehen, aber der Lerneffekt ist auch im realen Leben gegeben.

Apropos reales Leben. Besteht die Gefahr, dass durch die intensiven Erlebnisse in virtuellen Welten das Gefühl für den eigenen Körper und Lebenssituationen verloren geht?

Nein, keinesfalls. Spiele sind immer ein sicherer Ort, um Dinge auszuprobieren. Ich appelliere an die Eltern, die Kinder selbst und auch die Stadtverwaltung, für schöne, reale und am besten kostenfreie Spiel- und Erlebniswelten zu sorgen. Vielleicht ist die Kombination aus realem und virtuellem Spiel die beste Lösung für die Zukunft: Schnitzeljagden mit dem Smarthone durch das Grätzel, Kicken gehen und mit dem Sport-Armband Punkte sammeln und dafür Items oder Upgrades für das Lieblingsfußballspiel zu erwerben. So etwas macht Spaß und Sinn.

Trotz Partizipations- und Interaktionsmöglichkeiten in Spielen können SpielerInnen nicht einfach tun, was sie wollen. Sie können nur so viel machen, wie ihnen von den SpieledesignerInnen erlaubt wird. Ist das nicht eine scheinheilige Autonomie?

Es gibt zum einen viele verschiedene Spielgenres und zum anderen braucht man sich nur die PlayerInnen-Typisierung von Richard Bartle oder in neuerer Version von Nick Yee ansehen. Anhand derer wird klar, dass SpielerInnen immer wieder genau diese Grenzen ausloten oder auch den GamedesignerInnen Feedback geben, wie es weitergehen könnte, und damit auf die Entwicklung eines Spiels Einfluss nehmen. Auch um das eigentliche Spiel herum entstehen plötzlich – teils auch von Fans produzierte – Bücher, Filme, Comics, Kurzgeschichten und Ähnliches. Das Spiel kann auf jeden Fall mehr als das Video, bei dem man ja nur zusieht. Wobei auch das großartig sein kann. Man muss nicht immer selbst aktiv sein.

Der SPÖ-Politiker Otto Pendl hat vor Kurzem behauptet, Egoshooter hätten dazu beigetragen, junge Menschen für den Jihadismus zu gewinnen.

Genauso wie die US-Armee mit „Americas Army“ für eine Karriere in der Armee wirbt, könnte auch die IS ein Spiel machen, in dem man den Beruf „JihadistIn“ ausüben kann. Das Spiel müsste aber auch „unterhaltsam“ sein, um Verbreitung zu finden, was jedoch bei dieser Thematik schwierig sein wird. Das Beispiel, auf das sich Pendl bezieht, war ein Videozusammenschnitt aus dem Videospiel GTA V, das nicht einmal ein Egoshooter ist. Der direkte Vergleich hinkt dann doch und es ist schade, dass ein digitales Spiel als Sündenbock herhalten muss. Man hätte de facto auch ein Best-of aus Krimi-Büchern oder Ausschnitte aus Hollywood-Filmen zusammenstellen können.

 

Das Interview führte Marlene Brüggemann.

Verein der Freunde des multimedialen Lernens: www.vfml.at

Wer schön sein will, muss leiden

  • 10.07.2014, 13:06

Während sich Frauen daran abrackern, anerkannte Sportlerinnen zu werden, wird es für Männer immer schwieriger, selbstbewusste Sportmuffel zu sein. Auch sie geraten immer mehr unter Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.

Während sich Frauen daran abrackern, anerkannte Sportlerinnen zu werden, wird es für Männer immer schwieriger, selbstbewusste Sportmuffel zu sein. Auch sie geraten immer mehr unter Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.

Es ist Cristiano Ronaldo, der sich nach seinem Elfmetertor sein Trikotleiberl von Real Madrid über den Kopf zieht. Muskeln kommen darunter zum Vorschein. Ronaldo zeigt, wer hier das Sagen hat. Trotz seiner schwachen Performance im Finalspiel, ist er der König, nämlich Torschützenkönig der UEFA Champions League.

Goldener Sixpack. Ronaldo zeigt der Welt, wie ein „richtiger Mann“ auszusehen hat. Er repräsentiert, dass Männer mit breiten Schultern, Sixpack, Bizeps und Trizeps viel Geld machen und Erfolg haben können. Seine Botschaft: Seht her, dieser Körper ist Gold wert. Wenn ihr Männer da draußen nur wollt, könnt ihr so sein wie ich. Moritz Ablinger, Redakteur beim Fußballmagazin Ballesterer, ist überzeugt, dass sich der Fußballer David Beckham bereits um die Jahrtausendwende mit seinem sehr gepflegten und präsenten Körper extrem gut vermarktet hat. „Beckham wurde zum prägenden Fußballstar seiner Zeit und das, obwohl er kein großer Fußballer war.“ Ab diesem Zeitpunkt rückte ein durchtrainierter, modellierter Körper für Fußballspieler immer mehr ins Zentrum. Rosa Diketmüller, Professorin am Institut für Sportwissenschaften an der Uni Wien, beobachtet diese Entwicklung: „Es reicht nicht mehr, nur gut Fußball zu spielen, auch der Körper muss perfekt passen.“ Wer nicht gesund oder sportlich genug aussieht, dem hilft auch oft das Können nicht weiter.

Am Beispiel der Entwicklung des Fußballs lassen sich gesellschaftliche Umbrüche eindrücklich nachskizzieren. Der deutsche Männerforscher Klaus Theweleit behauptet sogar, wer den Fußball verfolgt, werde fast zeitgleich darüber informiert, wie sich die Gesellschaft verändert. Und die Geschichte des Fußballs scheint ihm retrospektiv Recht zu geben. Im Mittelalter war Fußball ein tagelanges, regelloses Spiel, das keine Unterscheidung zwischen Spieler_innen und Zuschauer_innen kannte. Mit der Industrialisierung verlor Fußball in England als Volkssport seine Bedeutung, fand seine neue Heimat in den Privatschulen und wurde dort kultiviert und diszipliniert. Eva Kreisky, emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Uni Wien, sieht darin einen Bruch in der Rolle des Sportlers und Spielers. Von nun an ging es nicht mehr nur um spielerische Fähigkeiten, sondern auch um den Ethos des Spielers. Einen guten Spieler zeichneten ab diesem Zeitpunkt „Mut, Uneigennützigkeit, Fähigkeit zur Arbeit im Team und Härte gegen sich selbst“ aus.

Eiserner Wille. Angesichts der eisernen Disziplin, sich selbst und seinem Körper gegenüber, gewinnt das alte Sprichwort „Wer schön sein will, muss leiden“ wieder an Aktualität. Denn der Körper ist oft widerspenstig. Er ist nicht der erhoffte Verbündete im Wettkampf um die schönste Frau, den besten Job oder engsten Kumpel. Er sabotiert mit Bierbauch, Schwabbeloberarmen oder Hühnerbeinchen. Unzählige Fitness- und Gesundheitsratgeber sollen Männern helfen, ihren unfitten Körper zu überwinden. In dem heuer erschienenen Ratgeber „Sixpack in 66 Tagen“ gilt Selbstdisziplin als der Schlüssel zum Erfolg. Das Buch ist eines der Produkte des Muskeltrends. Autor Andreas Troger dokumentiert darin seinen Selbstversuch, sich innerhalb kurzer Zeit einen fitten, muskulösen Körper zuzulegen. Strikt werden Nahrung, Trainingsübungen und Erholungsphasen geplant und strukturiert. Der Sportwissenschaftler Werner Schwarz schreibt in „Sixpack in 66 Tagen“ zufrieden: „Als Experte stelle ich fest: Training gut geplant und ausgezeichnet umgesetzt; Ernährung optimal bilanziert und eingehalten; Zusatzernährung bedarfsgerecht auf Training, Zusatzbelastungen aus Beruf und Alltag sowie den Ernährungsplan abgestimmt.” Das klingt wie eine Analyse zur Wartung und Instandhaltung einer Maschine. Immer wieder wird betont, dass Troger eher ein Gelegenheitssportler sei, der gerne zum Fast Food greift und auch mal raucht und trinkt. Aber mit genügend Disziplin kann es selbst für den schlimmsten Sportmuffel noch ein glückliches Ende geben.

Der Körper wird zum sozialen Kapital, indem er wie ein Gegenstand behandelt und perfektioniert wird, um sich auf dem Markt als begehrte Ware verkaufen zu können. Unternehmen wie Coca Cola, Giorgio Armani oder Nike setzen in ihren Werbungen auf männerkörperbetonte Bilder, um ihre Produkte zu bewerben. Andere Firmen wie Red Bull setzen mit einem Extremsportprogramm weniger auf „Sex sells“, sondern auf Sport und Spannung. Die Sportler_ innen sollen den „Spirit“ der Marke vertreten. Und welcher Sport passt besser zum Slogan „Red Bull verleiht Flügel“ als Extremsport? Mit der Austragung von Sportevents erreicht Red Bull breite Medienpräsenz und schafft einen Wiedererkennungseffekt. Allein der Stratosphärensprung von Felix Baumgartner wurde von 200 Millionen Menschen weltweit mitverfolgt.

Im Gegenzug bekommen Sportler_innen Sponsor_ innenverträge. In medial sehr präsenten Sportarten, wie im Fußball, wird es daher für die Spieler zunehmend wichtig, sich als Marke zu etablieren. Laut Rosa Diketmüller setzen vor allem männliche Sportler ihre Körper gezielt für Marketingzwecke ein: „Ideale Kombinationen aus Bewegungsformen, die mit Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Körperbildern übereinstimmen, sind gewinnbringend. Dass vor allem männliche Sportler viel mehr Geld bekommen, zeigt, wo das System verankert ist.“ Eva Kreisky hat in dem Sammelband „Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht“ gezeigt, dass Sport, und im besonderen Fußball, ein wichtiger Herrschaftsstabilisator ist, der Bilder von Männlichkeit herstellt und institutionalisiert.

Die Konstruktion unterschiedlicher Körperbilder der Geschlechter ist auch in den Medien nicht zu übersehen. Während Männer am Cover von Men’s Health mit Versprechen wie „Breite Brust + starker Bizeps in nur 28 Tagen!“ geködert werden, ist es die „Last minute zur Bikini-Figur“-Formel im Women’s Health-Magazin, die Frauen ansprechen soll. Die Coverfotos sind ebenfalls repräsentativ dafür, wie das jeweilige Ideal aussieht. Der Mann trägt ein enges T-Shirt, unter dem sich deutlich die breiten Schultern und die muskulösen Arme abzeichnen. Die Frau zeigt ihren nackten, flachen Bauch, der unter dem kurzen Top sichtbar wird. Die beiden Bilder illustrieren, dass zu einem sportlichen Männerkörper Muskeln gehören, während Frauen, die Sport betreiben, vor allem schlank, aber nicht durchtrainiert aussehen sollen.

In einer Gesellschaft, in der sich jede_r über Selfies oder Social Media präsentiert, wird das Aussehen immer zentraler. Die ständige Sorge um den eigenen Körper ist für Männer eine paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite werden Männlichkeitsideale über durchtrainierte Körper definiert, andererseits sind Männer Hohn ausgesetzt und werden als verweiblicht und verweichlicht empfunden, wenn sie sich zu sehr um ihr Äußeres bemühen. Nicht ohne Grund wird Cristiano Ronaldos intensives Verhältnis zu seinem Körper in der Sportgemeinschaft auch zur Projektionsfläche für spöttische Kommentare. So kursierte beispielsweise im Internet ein Bild von einem rosa Spielzeugbeautyset mit einem Emblem von Ronaldo darauf.

Muskelpaket statt Stangensellerie. Die Gender- und Männerforschung verortet in dieser Diskrepanz einen neuen, extremen Druck auf Burschen und Männer. Gerade im Sport müssen Burschen den Überlegenheitsimperativ, also zumindest nicht schlechter als ein Mädchen zu sein, erfüllen, aber sie müssen nun auch gut dabei aussehen. „Der Schönheitszwang, mit dem Frauen konfrontiert sind, kommt jetzt auf die Burschen massiv und schlagartig zu. Junge Burschen sind oft gut durchtrainiert, viele gehen in die Kraftkammer und nehmen Muskelpräparate, damit sie mithalten können. Ein Stangensellerie zu sein, das geht nicht mehr. Die Burschen zupfen, werken, inszenieren und formen den Körper. Was gut und schlecht ist.“ Diketmüller ist überzeugt, dass Burschen durch die sportliche Bewegung durchaus auch ihr Selbstwertgefühl steigern und ein positives Körpergefühl bekommen können.

Bei Mädchen und Frauen hingegen sieht es bei der Motivation, Sport zu betreiben, meist doch ein wenig anders aus. Die Scham, resultierend aus Diskriminierungen, wie Pfiffen, abfälligen Bemerkungen oder auch nur Blicken, drängt sie in Fitnessstudios und zu „Speck-weg“-Trainingsprogrammen. Denn oft üben Frauen Sport – vor allem im öffentlichen Raum – erst aus, wenn sie die gesellschaftlich anerkannte, schlanke Figur bereits haben. Wenn sich das „Speckweg“- Motiv jedoch nicht in einen lustvollen Umgang mit Sport umwandelt, gibt es wenig Chance auf eine längerfristige sportliche Betätigung. Diketmüller sieht darin kein Eigenverschulden: „Ob ich als Frau Fußball spiele oder nicht, ist gesellschaftlich bedingt. Ob man Sport betreibt und welchen, sollte aber nichts mit dem Geschlecht zu tun haben.“ Dass Frauenfußball in den USA viel populärer als Männerfußball ist, zeigt für Diketmüller, dass die Wahl der Sportart hauptsächlich damit zusammenhängt, was in einer Kultur als „Männersport“ oder „Frauensport“ präsentiert wird. Eine wichtige Rolle spielen auch dabei die Medien, und die assoziieren Sport klar mit Männern. Nur 10 bis 15 Prozent aller Personen, die im Sport medial sichtbar sind, sind Frauen. Und die sind meist besonders attraktiv. Diketmüller erinnert sich an die ehemalige russische Tennisspielerin Anna Kurnikowa, die mit ihrem Aussehen bei den Medien punktete. Sie sieht jedoch die Gefahr, dass es jene Frauen, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen (wollen), dadurch schwerer haben, erfolgreich im Profi-Sport Karrieren zu machen, oder sie überhaupt aus gewissen Sportarten ausgeschlossen werden.

Um der Sexualisierung des Frauenkörpers im Sport entgegenzuwirken, kämpfen beispielsweise Volleyballer_ innen oder Tennisspieler_innen für längere Röcke, weitere Hosen und stoffreichere Tops. Denn in erster Linie soll der Sport zählen, nicht wie sexy die Sportlerin aussieht.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Studentenfutter

  • 10.06.2014, 15:33

 

Für viele Studierende bietet das Mensaessen guten Grund sich zu mokieren. Dass leistbares Essen für Studierende wieder in den Bereich der Utopie abzudriften droht, zeigt sich an der zunehmenden Ökonomisierung der Mensen.

Das Konzept der Mensen, die leistbares Essen für alle anbieten sollen, hat sich an Europas Universitäten durchgesetzt. Die Idee ist gut: günstig essen in Gesellschaft anderer Studierender direkt an der Universität. Dass diese schöne Idee aber nicht immer der Praxis entspricht, wissen Studierende aus Erfahrung. Schmutziges Besteck, Essen, das immer nach Suppenwürfel schmeckt, egal was man auf dem Teller vor sich wiederfindet, und ein sich ständig wiederholender Speiseplan kommen in vielen Mensen vor. Darüber freuen sich zwar die studentischen Geschmacksknospen nicht, aber für Unterhaltung kann das Mensaessen schon einmal sorgen: Es wird evaluiert, ob das graue Letscho oder das vermeintliche Putenschnitzel den Contest der grauslichsten Speise gewinnt, spekuliert, was überhaupt der unbestimmbare grüne Quader sein soll, der aufgetischt wird, und geraten, in wie vielen Gerichten die Nudeln zuvor schon zu finden waren. Ein denkbar schlechtes Zeugnis. So gesehen, bleibt als positiver Aspekt wohl nur die Stärkung der Gemeinschaft übrig. In einer Zeit, in der es für viele Studierende finanziell düster aussieht, ist die Idee vom billigen Essen auf der Uni dennoch aktueller denn je. Studierende sind oft an das Essensangebot an der Hochschule gebunden, auch weil ihr stressiger Studienalltag nicht immer zulässt, Angebote außerhalb des Universitätsgebäudes zu nutzen.

Illustration eines Wiener Schnitzels mit einer Zitronenscheibe. Illustration: Christina Uhl

Einmal Menü 1 bitte. So geht es auch Lisa. Die 22-Jährige studiert Pharmazie an der Universität Innsbruck und geht regelmäßig in die Mensa im Café 80/82. Was sie dort mit einer Studierendenermäßigung zu einem Preis von 3,60 Euro zu essen kaufen kann, findet sie verhältnis- mäßig gut. Obwohl meist einfache Gerichte wie Wokgemüse, Nudeln, Ofenkartoffeln oder Salate angeboten werden und die Qualität des Essens von Woche zu Woche schwankt, isst sie oft dort: „Neben einem Weckerl aus dem Supermarkt ist die Mensa häufig die einzige Chance auf ein Mittages- sen.“ Besonders Studienrichtungen mit hoher Anwesenheitspflicht lassen es oft nicht zu, dass man gerade mittags etwas Warmes essen kann. Lange Laboreinheiten und dichte Stundenpläne schränken die Zeiten ein, in denen man sich in Ruhe dem Kochen und Essen widmen kann.

Das Café 80/82, in dem Lisa isst, ist einer von vielen Standorten der Österreichischen Mensen Betriebsges.m.b.H. Die anspruchsvolle Aufgabe der Ernährung von Studierenden in Österreich lag bis vor kurzem zum größten Teil in ihrer Hand. Die Österreichische Mensen Betriebsgesellschaft ist an Unis in allen Landeshauptstädten sowie an der Donau-Universität Krems, der Montanuniversität Leoben und der FH Joanneum in Kapfenberg vertreten. Der Betrieb ist Eigentum des Bundes, zuständig ist das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft. Gegründet wurde er mit dem Ziel, Studierenden günstiges Essen zu ermöglichen, dafür bekommt die Mensen Betriebsges.m.b.H. die Räumlichkeiten an den Unis gratis oder kos- tengünstig zur Verfügung gestellt. Seit zwei, drei Jahren können sich aber auch private Firmen für diese Aufträ- ge bewerben, was zur Folge hat, dass Betriebs- und Pachtkosten steigen. Die Mensen Betriebsgesellschaft, die nicht gewinnorientiert arbeitet, muss deshalb vermehrt aus zusätzlichen Quellen, wie Catering, Geld lukrieren, um die Mensen finanzieren zu können.

Der Geschäftsführer der Mensen Betriebsges.m.b.H., Gerhart Stadlbauer, ist sich der Änderung der Spielregeln bewusst. „Wir haben kein Monopol mehr, sondern stehen in einem Wettbewerb mit anderen Betrieben. Das ist gut so. Aber wir müssen unser Verhalten verändern.“ Um sich Ideen zu holen, besucht er auch die Konkurrenz, zum Beispiel die Mensa am neu- en Campus der WU Wien. Diese wird von der Cateringfirma Eurest, die sonst hauptsächlich Betriebskantinen wie jene von Siemens bewirtschaftet, betrieben. Die Mensen Betriebsges.m.b.H., die die Mensa am alten WU-Gelände geführt hatte, wurde bei der Neuausschreibung von Eurest überboten und verlor den Standort. Dass Eurest sich angesichts der hohen Investitions- und Pachtkosten halten könne, bezweifelt Stadlbauer. Trotzdem zeigt sich daran exemplarisch, dass die Mensen Betriebsgesellschaft zunehmend in Bedrängnis gerät, auch finanziell. Noch können Studierende Menüs um circa fünf Euro erwerben und Wassertrinken ist bis jetzt noch gratis, was in der Gastronomie, die von den Einnahmen aus Getränken lebt, keine Selbstverständlichkeit ist. Ob das angesichts der geänderten Rahmenbedingungen so bleiben kann, ist fraglich.

Illustration eines Brokkolis. Illustration: Christina Uhl

Essfertig in 8 Min. Viele Studierende weichen der Mensa jetzt schon aus und nehmen den Kochlöffel selbst in die Hand, auch weil ihnen das Mensamenü zu teuer und zu minderwertig ist. Selbst, wenn es eine zusätzliche Ermäßigung von 80 Cent mit dem Mensapickerl der ÖH gibt.

Sarah Lea studiert seit sechs Semestern Humanmedizin an der Medizinischen Universität in Innsbruck, in der Mensa war sie jedoch noch nie. Sie kennt den stressigen Studienalltag, trotzdem bemüht sie sich, ihr Essen selber zu kochen. Das oft überdurchschnittlich hohe Fleischangebot an der Mensa kommt ihr als Vegetarierin nicht entgegen. „Bei mir gibt es fast jeden Tag Gemüse. Mal mit Kartoffeln, mal mit Reis. Natürlich gibt es auch mal Nudeln, wenn es schnell gehen muss.“ Auf Fertiggerichte möchte sie aber nicht zurückgreifen. Was bedeutet, dass sie oft erst am Abend den Seziertisch gegen den Herd eintauscht, um sich zumindest eine warme Mahl- zeit am Tag zu kochen. In besonders intensiven Lernphasen kocht sie dann auch gern einmal vor.

Untertags machen viele andere Studierende gerne mal einen Abstecher in den nächsten Supermarkt. Das Weckerl aus der Feinkostabteilung stellt eine wesentliche Ernährungsgrundlage für viele Studierende dar. Wenn es aber etwas Warmes sein soll, weichen viele auf Gastronomiebetriebe in der Umgebung ihrer Universität aus.

Bitte die Rechnung. Die 21-jährige Katrin, Lehramtsstudentin an der Karl-Franzens-Universität in Graz, war von ihrem einmaligen Besuch in der Mensa am Sonnenfelsplatz nicht enttäuscht, zieht aber die Bierbaron- Kette, mit ihren fünf Betrieben in der näheren Umgebung der KFU und der TU, vor. „Ich bin ein Riesenfan der ,Bausatzmampferei’: superlecker und supergünstig.“ „Bausätze“ werden in diesen Lokalen Basisprodukte, wie Ofenkartoffeln, Pizza oder Toast, die individuell mit zusätzlichen Zutaten bestellt werden, genannt. Die gibt es zum Preis von drei bis sieben Euro von elf Uhr vormittags bis ein Uhr nachts. Die Kombination aus niedrigen Preisen, großen Portionen, langen Küchenzeiten, günstigen Standorten und breiter Auswahl macht Betriebe wie den Bierbaron für Studierende attraktiv. Die Geschäftskonzepte sind rein auf Studierende ausgerichtet und werfen soviel ab, dass solche Betriebe häufig expandieren und nachgeahmt werden.

Diese Beliebtheit kann man sich auch mit Stadlbauers Beobachtung erklären, dass Studierende zunehmend darauf Wert legen, dass ihr Essen individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Daran soll sich auch die Mensen Betriebsges.m.b.H. zukünftig orientieren. „Im Vergleich zu früher fordern die Studierenden mehr Kreativität in der Essenszubereitung und wollen keine Kelle von irgendwas, das satt macht, mehr. Immer öfter wird gesundes, veganes, vegetarisches und frisch gekochtes Essen gewünscht.“ Auch die Mensen gehen deshalb zunehmend weg von der klassischen Großküchenmensa und entwickeln sich eher in Richtung Normalgastronomie. Bis jetzt ist das Vakuum, das die Mensen Betriebsgesellschaft hinterlässt, eben vor allem für diese Normalgastronomie lukrativ.

Illustration eines Schnellimbissbox, gefüllt mit Nudeln. Illustration: Christina Uhl

Heute: Curry mit Tofu! Auch auf Studierende ausgerichtet, aber dennoch ganz anders macht es das selbstverwaltete Studierendenkollektiv im Tüwi neben der Universität für Bodenkultur. Das Tüwi ist für viele Studierende eine willkommene Alternative zu der dortigen Mensa, unter BOKU-Student_innen bekannt als die „Baracken“. Das Essen dort soll laut Michi, Student und Koch im Tüwi, katastrophal sein, weshalb mittlerweile durchschnittlich 80 Portionen Essen pro Tag im Tüwi verkauft werden. Er und andere haben vor ein paar Jahren angefangen, vegetarisches und veganes Essen zu kochen, um es zu einem niedrigen Preis zu verkaufen. Michi hält die Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten für besonders wichtig: „Wo wird gespart? Beim Essen. Aber Hauptsache ein cooles Leiberl anhaben.“ Besonders, was den Fleischkonsum betrifft, würde er sich ein Umdenken bei den Studierenden wünschen: Die Nachfrage nach Fleischgerichten sei noch immer sehr hoch. Dass qualitativ hochwertiges Essen leistbar bleibt, ist ein Grundanliegen des Tüwi-Kollektivs. Es trifft damit den Nerv der Zeit. Vielen Studierenden fehlt nicht der Wille, sich gut, gesund und nachhaltig zu ernähren; das Problem sind vielmehr finanzielle und zeitliche Barrieren.

Bestpreis: Clever Leberaufstrich um 0,65 €. Laut Studierenden-Sozialerhebung von 2012 steigt die Erwerbstätigkeit, während jedoch das Budget der Studierenden real sinkt. Die Kürzungen der Familien- und der Studienbeihilfe, steigende Lebensmittel- und Mietpreise sowie die zunehmende Berufstätigkeit von Studierenden verlangen auch nach einer Reflexion darüber, wie und zu welchem Preis sich Studierende ernähren.

Was Studierende tatsächlich essen und wie es in Folge um ihre Gesundheit bestellt ist, liegt bisher aber völlig im Dunkeln, denn es fehlt an Daten. Der vierte österreichische Ernährungsbericht (OEB) wurde 2012 veröffentlicht und dokumentiert und analysiert das Ernährungsverhalten und die Konsumgewohnheiten der Österreicher_innen. Über die spezifische Situation von Studierenden und ihre Essgewohnheiten erfährt man im Bericht allerdings nichts: Alle 18- bis 65-Jährigen werden dort, ungeachtet ihrer völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten, in einen Topf geworfen. Dass es gerade unter den Erwachsenen eklatante Unterschiede, vor allem auch finanzieller Art gibt, wird dabei übersehen.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Ein ausgeprägter Mangel an Perfektionismus

  • 13.03.2014, 18:17

Judith Holofernes ist ab April mit ihrem neuen Soloalbum „Ein leichtes Schwert“ auf Tour. Mit progress sprach sie über ihren musikalischen Neubeginn nach Wir sind Helden.

Judith Holofernes ist ab April mit ihrem neuen Soloalbum „Ein leichtes Schwert“ auf Tour. Mit progress sprach sie über ihren musikalischen Neubeginn nach Wir sind Helden.

progress: Du bist nun wieder solo als Judith Holo­fernes unterwegs. Sieht so aus, als hättest du die schwere Flotte Wir sind Helden verlassen...

Judith Holofernes: Auf einem kleinem Ruderboot hab ich mich vom Acker gemacht {lacht).

Wie wichtig ist dir dein Kurswechsel als Musikerin?

Ich als Fan finde es toll, wenn sich Leute verändern. Für mich hat das keinen hohen Selbstwert, wenn jemand 30 Jahre lang in derselben Band ist und immer das Gleiche macht. Ich selbst hing sehr an meiner Band Wir sind Helden und wenn das nicht so gewesen wäre, hätten wir sicher fünf Jahre früher aufgehört. Mit zwei Kindern waren die Helden doch ein Himmelfahrtskommando. Ich bin froh, dass ich einen Weg gefunden habe, überhaupt noch Musik machen zu können.

Nach Wir sind Helden wurde es sehr ruhig um deine Person. An „Ein leichtes Schwert" hast du fast heim­lich gearbeitet. Wie kam es zu dem Entschluss die Platte nicht groß anzukündigen?

Ich hatte gar nicht vor eine Platte zu machen. Ich habe nur irgendwann bemerkt, dass ich das eigent­lich gerade tue. Ich habe niemandem davon erzählt, außer meinem Mann Pola und meinen Freunden. Auch auf meinem Blog hab' ich erst sehr spät kleine Zeichen gegeben. Das war ein Segen, weil ich bis zum Schluss ein Gefühl von Freiheit hatte. Niemand wartet auf irgendetwas. Das hatte ich das letzte Mal bevor es Wir sind Helden gab.

Auf deiner letzten Platte hast du in dem Song „Die Träume anderer Leute" noch gesungen: „Wenn die Träume so tief fliegen/weil sie zum Schweben zu viel wiegen". Deine neuen Songs klingen hingegen viel unbeschwerter. Hast du mit dem Soloprojekt die Leichtigkeit wieder gefunden?

„Die Träume anderer Leute" trifft total die damalige Situation. Wenn man die Geschichte von Wir sind Helden erzählt, ist sie wie ein Märchen und das dann loszulassen braucht Mut. Ich finde die Band immer noch toll und trotzdem will ich das nicht mehr machen. Die Energie, die nach Wir sind Helden frei­gesetzt wurde, ist nun in dieser Platte und es freut mich, dass sie wie die letzten drei Jahre meines Lebens klingen.

A propos Mut, viele deiner Texte, zum Beispiel in „Pechmarie" oder „Liebe Teil 2", beschreiben den schwierigen Alltag mit Kind. In „Nichtsnutz" zeigst du, dass man auch mal nichts zu machen braucht. Ist Müßiggang für dich manchmal eine Mutprobe?

Ich finde das Thema Müßiggang total wertvoll, weil ich es wichtig finde, sich mit dem - in Deutschland würde man sagen - preußischen Arbeitsethos ausei­nander zu setzen. Unsere Gesellschaft definiert sich sehr über das, was man macht und schafft.

Einige Lieder haben einen sehr selbstironischen Touch, obwohl sie sich eher um ernstere Themen drehen. Ist Ironie deine Methode, den Dingen ihre einschüchternde Größe zu nehmen?

Das ist gewissermaßen der Blick, den ich auf die Welt habe. Ich nehme viele Sachen mit Humor. Aber nicht, um mich von ihnen zu distanzieren. Ich glaube der Humor kommt einfach mit einem liebevollen Blick. Das können dann schon schwere Themen sein, weil es ist nicht so einfach ein Mensch zu sein. Wir sind alle niedlich und es ist auch etwas Lustiges in der Art, wie wir uns abstrampeln und dem, was dabei alles schiefgeht. Ich als Fan mag es am liebsten, wenn das Ernste und das Humorvolle zusammenkommen. Wenn ich in der ersten Strophe des Liedes lache und in der dritten weine, dann ist das Lied für mich perfekt. Dann ist das Menschsein auf den Punkt gebracht.

In einem Interview hast du erwähnt, dass in deiner neuen Band Frauen dabei sind. Warum ist dir das wichtig?

In erster Linie hat das musikalische Gründe, weil auf der Platte sehr viele Backingvocals drauf sind, die mir wichtig waren. Unsere Vorbilder dafür waren Dolly Parton oder die Backingsängerinnen von Bob Marley. Ich wollte, dass das so klingt. Nach 20 Jahren, in denen man immer seine eigenen Ba­ckingvocals singt und dann auf der Bühne die Jungs „AURELIE!" brüllen hört, habe ich mir überlegt, wie das wohl mit Frauen klingen würde. Auf der anderen Seite finde ich es auch einfach super Frauen in der Band zu haben. Mein Beruf ist sehr männ­lich geprägt. Ich war jahrelang mit 18 Männern im Tourbus unterwegs. Jetzt habe ich ein Frauenma­nagement und die letzten Heldenjahre hatten wir eine technische Leiterin, der testosteronigste Job am Platz. Ein bisschen mehr Frauen in meinem Umfeld, das tut mir schon gut - allein schon, weil mir ab und zu jemand sagt, dass ich mir die Haare kämmen könnte (lacht).

Musikalisch sind die Lieder sehr unterschiedlich. Von Indie Rock und Pop bis Country und Folk lässt sich darin einiges finden.

Und Afrobeat. Und Blues. Im Prinzip bin ich meinen ganz persönlichen Vorlieben nachgegangen: von Alternative-Country über Zydeko bis hin zu afrika­nischer Musik. Jetzt wo ich alleine unterwegs bin, mach ich eben jeden Quatsch, der mir so einfällt. Auf „Ein leichtes Schwert" sind viele verschiede­ne Musikstile zu hören, aber sie haben alle eine gemeinsame Wurzel und das ist ein ausgeprägter Mangel an Perfektionismus.

 

www.judithholofernes.com

Konzert: 9.4. Wien, Arena

Es braucht ein radikales Umdenken

  • 21.10.2013, 16:23

Mit der Sprachwissenschafterin Brigitta Busch hat Marlene Brüggemann über die Kosten der Einsprachigkeit, emotionales Spracherleben und Unterhaltungen mit Pflanzen diskutiert.

Mit der Sprachwissenschafterin Brigitta Busch hat Marlene Brüggemann über die Kosten der Einsprachigkeit, emotionales Spracherleben und Unterhaltungen mit Pflanzen diskutiert.

Brigitta Buschs Interesse an Fragen der Mehrsprachigkeit schlug bereits erste Wurzeln, als sie noch als Landwirtin in Kärnten lebte und Slowenisch lernte. Heute ist sie Professorin für angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien und forscht derzeit über Zusammenhänge von Migration, Mehrsprachigkeit und traumatischem Erleben. Während sie auf der institutseigenen Terrasse ihre Finger über die harten Blätter eines Rosmarinstockes laufen lässt, eröffnet sie das Interview mit progress mit einem Bekenntnis zum Guerilla Gardening.

progress: Frau Busch, Sie sind Linguistin, aber auch gelernte Landwirtin – können Pflanzen sprechen?

Brigitta Busch: Ich spreche mit meinen Pflanzen – das tun viele Leute.

Warum eigentlich?

Im Zuge meiner Forschungsarbeit zu „Trauma – Mehrsprachigkeit – Resilienz“ habe ich erlebt, dass die Bedeutung der – wie Julia Kristeva es formuliert – semiotischen Dimension von Sprache, also der lautund zeichenhaften Dimension, groß ist, wenn es darum geht, die eigenen Widerstandskräfte zu stärken. Das kann z.B. im Sprechen mit Pflanzen und Tieren passieren, im Sprachspiel oder im Anhören von Sprachen, die man nicht versteht. Also im Angesprochensein ohne direkt angesprochen zu werden.

Inwiefern ist Sprache auch von Nützlichkeit und Effizienz durchzogen? Bleibt da noch Platz für Poesie und persönlichen Ausdruck?

Die Dimension zwischen Funktionalität und Ausdruck der Sprache vernachlässigt die Sprachwissenschaft viel zu oft. Obwohl sie im Alltag eine größere Rolle spielt, als man auf den ersten Blick meint. Die Freude am semiotischen Ausdruck verliert sich nicht mit dem Kleinkindlallen, sie zieht sich durch das ganze Leben. Entgegen dem Trend, das Funktionale zu betonen, denke ich, dass das Nachdenken über eine semiotische Sprache die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung bereichert.

Wie kann so eine Bereicherung aussehen?

Für mich ist die Frage nach dem emotionalen und körperlichen Spracherleben zentral. Ich gehe davon aus, dass Sprache nicht nur etwas Kognitives ist, sondern, dass aufgrund meines Sprechens oder Schreibens auch emotionale Zuschreibungen und Einschätzungen stattfinden. Wenn ich eine Stimme am Telefon höre, beginnt ein Film zu laufen: weiblich oder männlich, gutgelaunt oder schlechtgelaunt, sympathisch oder weniger sympathisch, Dialekt oder Standardsprache. Das sind viele Ebenen und weitreichende Annahmen. Und das geschieht weitgehend unbewusst. Spracherleben ist ein komplexer Prozess aus Selbst- und Fremdwahrnehmung, der mit vielen Emotionen verbunden ist. Mein Schwerpunkt auf leiblich-emotionales Spracherleben stellt eine Gegenbewegung zum Trend der Standardisierung und Normierung dar – und ist in meinen Augen kein marginales Thema, wenn man es unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass es so viele Menschen gibt, die unter sprachlicher Gewalt leiden.

Könnten Sie das genauer ausführen?

Es gibt Situationen, da stellt man sich Fragen wie: Wie werde ich wahrgenommen? Wird mein Akzent als defizitär gesehen? Da kann schon ein Schamgefühl auftauchen. Ich entspreche nicht der Norm, also schäme ich mich. Das bedeutet einen Rückzug auf sich selbst, eine Verschließung. Im Bildungsbereich kann das ungünstige Folgen haben. Zum Lernen brauche ich eine Öffnung hin zur Welt. Wenn sich eine belastende Situation ständig reproduziert, die Defizitzuschreibungen sich wiederholen und man sich selbst als ungenügend sieht, blockiert das Lernprozesse.

Stellt der Umgang unserer Universitäten mit Mehrsprachigkeit diesbezüglich nicht ein Negativbeispiel dar?

Von der Uni wünsche ich mir, dass eine Sprachenpolitik definiert wird, die die Sprachressourcen würdigt, die Lehrende und Studierende mitbringen. Durch die jetzige Sprachenpolitik an den Universitäten, die nicht viel dazu beiträgt, mitgebrachte Erstsprachen von Studierenden auszubauen, vergeben wir sehr viel wissenschaftliches Kapital. Wir schneiden uns dadurch von einem differenzierten internationalen Diskurs ab.

Wann sind Sprachenkompetenzen ein Vorteil, wann nicht?

Der entscheidende Punkt ist, welche Sprache man spricht. Ein Beispiel: Eine Frau aus dem Senegal schrieb in ihren Lebenslauf, dass sie Deutsch, Englisch und Spanisch beherrscht. Auf die Frage, warum sie nicht auch Wolof [Umgangssprache im Senegal, in Gambia und Mauretanien, Anm. d. Red.] angibt, antwortete sie: „Wenn ich Wolof dazuschreibe, weiß ich, dass ich abgestempelt werde.“ Probleme wie diese muss man wahrnehmen, weil Sprache als Merkmal für Diskriminierung missbraucht wird. Bei den Tests auf den Fachhochschulen und den Pädagogischen Hochschulen sind vor allem MigrantInnen im Nachteil, da diese Tests hauptsächlich auf Deutschkompetenz aufgebaut sind. Selbst wenn das Ausmaß an Deutschkenntnissen für den geprüften Themenbereich nicht notwendig ist.

Wie werden Menschen gefördert, die sich nicht im klassischen Bildungssystem, also Schule oder Hochschule, bewegen?

Dafür ist kein Geld mehr zu haben, das wird zunehmend wegrationalisiert. Vor ein paar Jahren habe ich gemeinsam mit Perigrina, einer Beratungsstelle für MigrantInnen, Deutschkurse für Frauen mit posttraumatischem Syndrom entwickelt. Dieses erfolgreiche Konzept hätte eine ständige Einrichtung werden sollen. Es ist aber wegen der Kosten nur bei drei Durchgängen geblieben.

Ist das für einen Sozialstaat tragbar?

Es braucht ein radikales Umdenken. Die Kosten der Mehrsprachigkeit werden immer nur daran gemessen, wie teuer ein Kurs ist, aber es wird nie anders herum gedacht und gefragt, was man sich durch die Förderung von Vielsprachigkeit und Deutschkursen ersparen würde – gerade im Gesundheits- und Bildungsbereich. Wir sollten uns vielmehr über die Kosten der Einsprachigkeit unterhalten und uns nicht an einem monolingualen Habitus festklammern, der längst keiner Realität mehr entspricht. Da geht es nicht nur um Migration, sondern auch um berufliche Mobilität und internationale Kommunikation. Davon auszugehen, dass der Monolingualismus der Normalfall ist, ist vollkommen überholt.

Lesetipp: Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit. Wien Facultas Verlags- und Buchhandels AG, 2013.

 

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

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