Lisa Zeller

„Mittendrin“ für einen Tag

  • 18.02.2014, 18:26

In dem Hausprojekt „VinziRast“ leben StudentInnen und ehemalige Obdachlose in Wohngemeinschaften unter einem Dach. Lisa Zeller und Margot Landl haben für progress online die innovative Einrichtung besucht.

In dem Hausprojekt „VinziRast“ leben StudentInnen und ehemalige Obdachlose in Wohngemeinschaften unter einem Dach. Lisa Zeller und Margot Landl haben für progress online die innovative Einrichtung besucht.

Neunter Wiener Gemeindebezirk, Lackierergasse Ecke Währinger Straße: Ein unauffälliges kleines Lokal mit dem Namen „mittendrin“ im Erdgeschoß eines großen alten Hauses. Es ist Teil der „VinziRast-mittendrin“, einer Einrichtung, in der StudentInnen und ehemalige Obdachlose gemeinsam in Wohngemeinschaften leben. Was für viele abschreckend klingen mag, ist für die StudentInnen, die dort leben, eine Chance auf eine außergewöhnliche Erfahrung. „Die Idee für dieses Projekt ist aus der #unibrennt-Bewegung, also den Studierendenprotesten 2009, entstanden“, erklärt die Leiterin des Hauses Cecily Corti. „Viele Obdachlose sind damals in die Uni gekommen, um dort zu übernachten.“ Die Geschichtestudentin Karin Stanger war 2009 bei #unibrennt sowie bei der Entstehung der VinziRast dabei. „Viele von ihnen hatten das Problem, dass sie keinen europäischen Reisepass hatten und von einigen Obdachloseneinrichtungen abgewiesen wurden.“ Zu Beginn habe es innerhalb der Protestbewegung Diskussionen gegeben, ob sie bleiben können, meint sie. „Es gab dann recht schnell Konsens darüber, dass es sich um einen gesamtgesellschaftlichen Protest handelt. Langsam wurden sie Teil des Protests.“ Dabei haben die Obdachlosen sich auch selbst etwa in der Volxküche des Protests engagiert. „Als zu Beginn des Winters klar wurde, dass der Protest zu Ende geht, war unklar, was nun passieren würde. Einfach zurück auf die Straße, nur weil der Protest vorbei war, ging nicht.“ Die Idee für ein solches Projekt wie die VinziRast reifte. Sie traten an Cecily Corti und Hans Peter Haselsteiner heran, der den Kauf des Hauses zu diesem Zweck ermöglichte. Es wurde dann mit vielen privaten Spenden und mit Hilfe mehrerer Kredite vom Architekturbüro Gaupenraub generalsaniert. Auch Studierende, ehemals Obdachlose und ehrenamtliche MitarbeiterInnen halfen bei den umfangreichen Arbeiten mit.

Auf der Dachterasse: Der Dachgarten wurde von Studierenden der Universität für Bodenkultur gespendet. Foto: Christopher Glanzl

Inklusion statt Reintegration

500 bis 1000 Obdachlose leben momentan in Wien und die Nächte im Winter sind kalt. Doch für viele Schlafstellen gibt es Beschränkungen: Kein Alkohol, keine Hunde, niemand aus dem Ausland. In der VinziRast-Notschlafstelle in Meidling, die bereits im April 2004 eröffnet wurde, gibt es so etwas nicht. Für Cecily Corti nichts Besonderes: „Wir verstehen unser Engagement nicht als „gutmenschlich“, sondern finden es ganz normal, das zu tun was zu tun ist. Wir haben nicht den Anspruch, diese Menschen in die Gesellschaft zu reintegrieren. Wir wollen sie inkludieren, ihnen ein warmes Bett zur Verfügung stellen und ihnen vor allem mit Respekt begegnen. Das ist alles.“ Von Anfang an gab es keine öffentlichen Gelder, vor allem auch, da die Behörden der Ansicht waren, das sei eine Aufgabe für „ExpertInnen“. Doch genau das soll es laut Cecily Corti nicht sein, sondern jeder und jede Beteiligte lernt unendlich viel dabei. Wir profitieren alle: „Es geht doch darum, was heißt Mensch sein für mich? Wie verhalte ich mich Fremden gegenüber? Wie gehe ich mit Urteil, mit Vorurteil um? Wir setzen uns keine konkreten Ziele, es ist ein Projekt mit offenem Ausgang. Vielleicht eine Versuchsbühne für eine humanere Zukunft“.

Mittendrin in Wien: Blick auf die Währingerstraße. Foto: Christopher Glanzl

Seit Juni 2013 ist das Haus in der Währingerstraße jetzt in Betrieb. Die Studierenden wurden aus Bewerbungen ausgewählt, die Obdachlosen durch Gespräche und Kontakte aus der Notschlafstelle VinziRast. Bis jetzt gab es wenige Konflikte und wenige AussteigerInnen. Natürlich gibt es Spannungen, aber gerade darum geht es ja: Wie kann man diese lösen und neue Formen der Verständigung finden? Es stehen Zweier- und Dreierwohngemeinschaften zur Verfügung, im Moment sind 24 von 27 verfügbaren Plätzen belegt. Zusätzlich attraktiv wird das Wohnprojekt durch die unmittelbare Nähe zur Universität Wien, die Mieten belaufen sich auf 300 bis 350 Euro im Monat. Im Moment mangelt es an Studierenden, besonders an Studentinnen. Lediglich sechs Frauen leben im Augenblick in der VinziRast, weshalb auch vermehrt nach Bewohnerinnen gesucht wird.

Noch ist die Bibliothek recht wenig besucht - zur Prüfungszeit ändert sich das allerdings. Foto: Christopher Glanzl

Viel Platz für Gemeinschaft
Jede/r der BewohnerInnen hat ein eigenes Zimmer innerhalb der Wohneinheiten, doch besonderer Wert wird auf die Gemeinschaftsräume gelegt. Unter dem Lokal „mittendrin“ befindet sich ein Veranstaltungsraum, in dem einmal im Monat ein Filmabend stattfindet sowie des Öfteren auch Lesungen, Vorträge, Konzerte etc. An der Tür einer der Stockwerksküchen hängt die Film-Ankündigung für die Woche nach dem Zeitpunkt unseres Besuchs: „Invictus“, ein Film über Nelson Mandela. Die BewohnerInnen können in den Stockwerksküchen sowie in den Küchen der Wohneinheiten gemeinsam kochen, was auch viel in Anspruch genommen wird. Sie sind selbst verantwortlich für die Sauberkeit im Haus, einmal pro Monat ist eine Wohneinheit mit Großputz dran. Der vermutlich beliebteste Gemeinschaftsraum ist die geräumige Dachterrasse, auf der ein kleiner von Studierenden der Universität für Bodenkultur gespendeter Dachgarten gedeiht. Mangold, Dill, ausgewachsener Kohl und Ringelblumen sprießen hier in der außergewöhnlich warmen Januarsonne. Der Raum im Dachgeschoss wird auch für Veranstaltungen gegen eine Spende zur Verfügung gestellt, am Vortag fand eine Podiumsdiskussion statt, die Sessel stehen noch da. Der Tischfußballtisch ist momentan in eine Ecke verbannt. Auch sämtliche Möbel für das ganze Heim sind gespendet. Weitere Gemeinschaftsräume sind ein Studienraum mit zwei Computern und einer ansehnlichen Bibliothek an Büchern und Spielen. Im Moment befinden sich nur zwei Bewohner darin, aber zur Prüfungszeit wird er deutlich intensiver genutzt. Im Keller des Hauses befinden sich die Waschküche und je eine Textil-, Metall- und Holzwerkstätte. Dadurch soll einerseits die interne Gemeinschaft gefördert und den BewohnerInnen eine Beschäftigung geboten werden, andererseits wird aber auch die Kommunikation nach außen ermöglicht, indem beispielsweise Fahrräder zum Reparieren hierher gebracht werden.

Gereon erzählt von seiner Zweier-WG in der VinziRast. Foto: Christopher Glanzl

Eine gemeinsame Sprache für alle finden

Die Türen der Wohneinheiten sind zumeist offen, als wir ins Haus kommen, treffen wir den deutschen Psychologiestudenten Gereon, der gerade putzt. „Wo ist dein Mitbewohner? Hilft er dir?“, fragt ihn Frau Corti. „Ich weiß nicht… Trinken?“, antwortet Gereon mit einem Augenzwinkern. Prinzipiell versteht er sich gut mit seinem tschetschenischen Mitbewohner, nur beim Putzen kommt es immer wieder zu Kabbeleien. Er hat über die „KRIPS“ (Kritische PsychologiestudentInnen) von dem Projekt erfahren und nachdem er mit seiner vorigen WG unzufrieden war, da die wie er sagt, „mehr Klischees von Obdachlosen erfüllt hat, als ich hier tagtäglich zu Gesicht bekomme“, beschloss er, sich für das Heim zu bewerben. Er sieht das Verhältnis zu seinem Mitbewohner als beidseitig befruchtend, da sie viel über Religion, vor allem über Buddhismus und Islam diskutieren: „Wir unterhalten uns oft stundenlang und da wir aus verschiedenen Kulturen stammen und verschiedenen Religionen angehören, kommt es da oft zu Differenzen und neuen Erkenntnissen.“ Nur gemeinsam kochen können sie nicht. „Ich bin Veganer, für ihn hingegen ist Fleisch Ausdruck von Männlichkeit“, schmunzelt Gereon.

In Carmens Dreier-WG gestaltet sich das Putzthema hingegen völlig anders. Die Studentin der Internationalen Entwicklung wohnt hier gemeinsam mit dem ehemaligen Obdachlosen Heimo und einer weiteren Studentin, Christine. „Unser Mitbewohner putzt sehr gerne. Die Messies sind im Heim meiner Meinung nach die Studies“, lacht sie. Auch sie hat über den Email-Verteiler ihrer Studienvertretung von dem Projekt erfahren. Sie schätzt an dem Heim, dass sich alle persönlich kennen und die viele gemeinsame Zeit, die man miteinander verbringt. Sie mag auch die offenen Türen: „Es ist noch nie etwas weggekommen. Am Anfang habe ich meine Tür immer abgeschlossen, mittlerweile nicht mehr. Nur das Geschirr verteilt sich im ganzen Haus“. Eine besondere Rolle spielt dabei die Küche Eins. „Wenn das Lokal unten zumacht, kommt das übrige Essen in Küche eins, welche dann zum Hotspot wird“, erzählt uns Carmen. Essen wird häufig geteilt, besonders wenn zu viel da ist – auch Gereon hat bereits zehn Packungen gedumpsterten Räucherlachs im ganzen Haus verteilt. Einmal pro Woche kann, wer will, gemeinsam musizieren. Auch FreundInnen herzubringen ist kein Problem. In Stockwerks- und Hausrunden einmal pro Monat können Anliegen besprochen werden. Aber auch sonst bleiben Carmen und andere BewohnerInnen oft lange in die Nacht hinein gemeinsam in den Küchen sitzen, um zu plaudern. Abschließend sagt Carmen noch: „Es ist schön, dass viele verschiedene Leute hier wohnen. Und die größte Herausforderung ist es wohl, eine gemeinsame Sprache für alle zu finden.“

Carmen erzählt von ihrem WG-Leben in der VinziRast. Foto: Christopher Glanzl

Interessierte können sich gerne um einen Wohnplatz bewerben unter vinzirastmittendrin@gmail.com .

Kollegial kolonial

  • 08.12.2013, 14:04

Jedes Jahr gibt es sie, die Kritiken um Zwarte Piet des niederländischen Sinterklaasfests. Dieses Jahr gab es sie besonders durch internationale Aufmerksamkeit. Damit einher ging eine große Bewegung von VerteidigerInnen der „Tradition“. Lisa Zeller kommentiert die Gegenstimmen des Protests.

Alle Jahre wieder gibt es sie, die Kritik um den Zwarte Piet (dt. schwarzer Peter) des niederländischen Sinterklaasfests. Dieses Jahr erregte die internationale Kritik an der Figur bei den VerteidigerInnen der kolonialgeschichtlichen "Tradition" die Gemüter. Lisa Zeller kommentiert die Gegenstimmen des Protests.

Tradition ist schon eine komische Sache. Man wächst mit ihr auf und weiß oft nicht, woher die Dinge kommen, die man als normal empfindet. Wenn diese dann kritisiert werden, versteht man es nicht. So müssen sich die zahlreichen NiederländerInnen fühlen, die sich jedes Jahr gegen immer größer werdende Kritik gegenüber einer ihrer wichtigsten  – wenn nicht sogar der wichtigsten – Weihnachtstraditionen zur Wehr setzen.

Zunächst hieß es an mehreren Stellen, die Vereinten Nationen hätten ein Untersuchungskomitee gegründet um zu prüfen, ob es sich hierbei um eine rassistische Tradition handele. Dann ließ ein Sprecher der UNESCO verkünden, dass es sich bei den Kritikpunkten um keine offiziellen UN-Kritiken handelte, sondern dass diese von einem - von den Mitgliedstaaten gewählten - unabhängigen Kommissariat für Menschenrechte kamen.

Einen Riesenaufruhr gab es jedenfalls unter den HolländerInnen, die ihre Lieblingstradition in Gefahr sahen. Dies ging so weit, dass besagte UN-InvestigatorInnen während ihrer Arbeit Todesdrohungen erhielten.
Repressionen gegen jede Form der Kritik gegenüber der Festlichkeit seitens der Bevölkerung gab es auch zuvor schon zur Genüge.

Im Jahr 2008 organisierten Petra Bauer und Annette Krauss eine Demonstration im Rahmen einer Ausstellung, die die Bedeutung von Zwarte Piet erläuterte. Auch diese Aktivistinnen erhielten Todesdrohungen, sodass das ausstellende Museum den Demonstrationszug absagte. Als „Ausländerinnen“ hätten sie zudem kein Recht gehabt, sich von der Zwarte Piet-Figur beleidigt zu fühlen.
Quincy Gario, ein niederländischer Aktivist, wurde während der Festlichkeiten im Jahr 2011 in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Zwarte Piet ist Rassismus“ verhaftet und erlebte massive Polizeirepressionen. Er beschreibt an mehreren Stellen, dass er aufgrund seiner Hautfarbe nicht als Niederländer gesehen wird und seine Kritik somit „weniger wert“ sei als die vieler anderer NiederländerInnen.

Das Rassistische an der Figur ist zum Einen die Praxis des Blackface, bei der sich weiße DarstellerInnen schwarz anmalen und im gleichen Atemzug meist überholte Klischees und Stereotype schwarzer Menschen nachahmen. So trägt der Zwarte Piet eine Afroperücke und oft auch Kreol-Ohrringe. In einem Interview mit Al Jazeera von 2012 sagte der Aktivist Gario zum Beispiel, dass Holland ein Land sei, in dem schwarze Kinder auf dem Spielplatz als „Zwarte Piet“ bezeichnet werden.

Es stellt sich die Frage, wie Gegenwartsgesellschaften mit Traditionen umgehen und wie inklusiv oder exklusiv diese sind. Umso wichtiger ist es, sich mit gewissen „Traditionen“ auseinanderzusetzen und vor allem kritische Stimmen anzuhören, ohne sie gleich anzugreifen.

Zwarte Piet war nämlich nicht immer „Tradition“. Die Festlichkeit wurde bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Zwarte Piet gefeiert.

Die Figur kam erstmals 1845 in der Geschichte eines Lehrers aus Amsterdam vor, Jan Schenkman „St. Nikolaas en zijn knecht“ („Nikolaus und sein Knecht“). In der Geschichte kommt Sinterklaas in einem Dampfschiff aus Spanien mit einem „schwarzen Helfer“, der einen afrikanischen Hintergrund hatte. Piet steckte unartige Kinder in einen Sack und nahm sie mit nach Spanien, angelehnt an die in mehreren europäischen Ländern verbreitete Idee eines Gegenstücks zum Weihnachtsmann (wie etwa dem Krampus). Das Buch war sehr beliebt und mit ihm begann der Einschluss der Zwarte Piet-Figur in der niederländischen Weihnachtsfestivität.
Wohlgemerkt erstreckte sich zu dieser Zeit das niederländische Imperium auf drei Kontinente. Teil dieses Imperiums waren Kolonien in Surinam und Indonesien, in denen auch der Sklavenhandel florierte. In der Vergangenheit hatte Zwarte Piet sogar einen surinamischen Akzent und spielte die Rolle eines Narrs.
Einige Argumentationen beziehen sich darauf, dass die Figur nicht auf den Sklavenhandel zurückzuführen sei, sondern auf Muslime aus der Nordafrikaregion, die wegen ihrer Religion gefürchtet waren.
Beide Zugänge enthalten jedenfalls rassistische Elemente, die sich eher gegenseitig bedingen, als sich auszuschließen.
Inzwischen sind die Rollen der jeweiligen „Helfer“ zwar diverser als in der einfachen Rolle des Narrs zuvor, doch die Unreflektiertheit der NiederländerInnen ist angesichts der Geschichte sehr beunruhigend.
Warum halten sie so klammerhaft an einer „Tradition” fest, die während des Höhepunkts der niederländischen Kolonialära entstanden ist?

Man könnte wie viele aus heutiger Sicht sagen, es ginge nicht darum, irgendwen zu beleidigen und es wäre ja nur für die Freude der Kinder.

Doch die HolländerInnen lieben ihren Zwarte Piet. So sehr, dass sie die Sicherheit anderer Menschen bedrohen. Die Facebook-Seite Pietitie (ein Wortspiel aus Piet und dem niederländischen Wort für Petition), die als Reaktion auf die Kritiken gegründet wurde, hat derzeit 2,1 Millionen Fans. Diese Reaktionenen kann man angesichts der Geschichte der Figur auch als kollegial kolonial bezeichnen.

Rassistische Übergriffe und Todesdrohungen an GegnerInnen sind allerdings Zeichen dafür, dass das Land bei der Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte noch einiges zu tun hat. Dabei sollten auch alle niederländischen Stimmen in die Diskussion miteinbezogen werden.

KritikerInnen betonen, dass Unabsichtlichkeit und Rassismus nah beieinander liegen. Doch genau in dieser Unabsichtlichkeit manifestieren sich rassistische Praktiken und das Problem wird auf andere - meistens politisch rechts stehende - Menschen, geschoben. Eine Reflexion über die eigenen und persönlichen Rassismen erfolgt viel zu selten.

Leider wirkt da das Argument, Zwarte Piet sei schwarz, weil er sich in den Kaminen schmutzig mache, wie eine faule Ausrede – zumal weder seine knallroten Lippen (übrigens auch ein Element rassistischer Darstellungen durch Blackface) noch seine Klamotten vom „Schmutz“ betroffen sind.

Auch die unreflektierte Aussage des niederländischen Premierministers Mark Rutte: „Der Name sagt es schon. Er ist schwarz. Ich kann da nicht viel tun“, zeugt von dem Unwillen, sich mit dem Thema und der geschichtlichen Vorbelastung auseinanderzusetzen.

Erfreulicherweise gibt es jedoch auch modernere Versionen des Zwarte Piet, die manchmal nicht mehr “schwarze” Helfer sind, sondern bunte. Wenn es also wirklich um die Kinder geht, ist eine bunte Welt doch auch viel schöner.

 

Die Autorin studiert Internationale Entwicklung und Transkulturelle Kommunikation an der Uni Wien.

 

Hinter geschlossenen Türen

  • 16.02.2013, 10:24

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Ein Mann, eine Frau und zwei oder drei Kinder halten sich an den Händen und springen draußen durchs Grüne. Die Sonne strahlt. Sie strahlen. Das ist das Bild, das man nach einer kurzen Internet-Recherche zu Familie erhält. Dass es bei vielen Familien hinter geschlossenen Türen anders aussieht, macht zum Beispiel die Gewaltprävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ von 2011 deutlich. Die Familie wird dort als jener soziale Nahraum genannt, in dem am häufigsten körperliche Übergriffe erlebt wurden. Von insgesamt 2.334 Personen im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren gaben etwa drei Viertel an, als Kind mehr als einmal mit körperlicher Gewalt durch Familienmitglieder konfrontiert gewesen zu sein – Gewaltformen wie psychische und ökonomische Gewalt noch nicht mit einberechnet.

Gewalt in der Familie kann von allen Familienmitgliedern ausgehen. Jedoch belegen Studien, dass Frauen in Familie oder Partnerschaft am häufigsten von ihr betroffen sind. Jede fünfte Frau in Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt  in einer Beziehung betroffen. Fünfzig bis siebzig Prozent der Kinder misshandelter Frauen werden ebenfalls misshandelt. „Es geht bei Gewalt immer um Machtungleichgewichte. In Familien sind diese sehr deutlich ausgeprägt, weil sie wenig durch öffentliche  Blicke kontrolliert sind“, erklärt Marion Geisler vom Kinder- und Jugendlichenbereich im ersten Wiener Frauenhaus.

Das Gegenmittel. Auch Frauen werden auffallend oft gegenüber Kindern gewalttätig. Misst man körperliche Gewalt, liegt die  Gewalterfahrung durch Mütter noch vor der Gewalterfahrung durch den Vater. „Ein Grund könnten die klassischen  Geschlechterrollen sein, in denen Frauen noch immer die meiste Erziehungs- und Hausarbeit leisten und zusätzlich einer beruflichen Arbeit nachgehen“, sagt Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung, der maßgeblich an der eingangs zitierten Gewaltprävalenzstudie beteiligt war. Dies führe zu enormem Stress und einer Situation der Hilflosigkeit, die dann in Gewalt gegen die Kinder münden kann. „Hilflosigkeit und Überforderung sind allgemein wichtige Gründe, wenn es um Gewalt in Familien geht“, fügt Hannelore Pöschl, Diplomsozialarbeiterin und Leiterin des Amts für Jugend und Familie Wien im 13. und 14. Wiener Gemeindebezirk, hinzu. „Besonders von Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konfliktsituationen umzugehen, wird die eigene Hand zum Beenden eines Zustands genutzt, den man nicht mehr erträgt.“

Männer wiederum, die dominante Rollenbilder verkörpern, neigen zur Abwertung von Weiblichkeit und werden so gegenüber Partnerinnen häufiger gewalttätig. Grund dafür können die patriarchale Prägung einer Gesellschaft sowie die damit verbundene geschlechterspezifische Sozialisation sein. „Gleichstellung und Gewalt bedingen sich gegenseitig: Das Gegenmittel gegen Gewalt ist Gleichstellung von Frauen“, sagt Rosa Logar von der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. „Je traditioneller eine Familie  aufgebaut ist, desto höher ist die Gefahr, dass Gewalt vom Vater oder vom Partner ausgeht“, bestätigt Geisler. Außerdem kann das traditionelle Familienideal dazu beitragen, dass Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Mütter in solchen Frauenrollen fühlen sich oft verantwortlich für eine „heile“ Familie und differenzieren nach dem Muster, „er“ sei zwar ein gewalttätiger Ehemann, aber ein liebevoller Vater. „Doch das funktioniert nicht. Beobachtete Gewalt hat die gleichen Folgen wie selbst erlebte Gewalt. Das weiß man auch von der Folter, aber genau dieser Mechanismus wird bei Kindern bagatellisiert.“ Das Ende der Beziehung wird zudem oft nicht als Ausweg gesehen, weil eine Trennung das Gewaltrisiko steigert.

Die Erfahrung im Frauenhaus zeigt auch, dass sich Kinder stark nach dem klassischen Familienmodell sehnen. Manchmal erwähnen sie seltene Momente mit dem Vater, zum Beispiel am Spielplatz, als Wunsch, es möge doch in Zukunft immer so sein. „Die Kinder wünschen sich einen liebevollen Vater, der sich um sie kümmert, so wie sie es in der Werbung oder in Filmen sehen können.“ Gewaltvolle Kindheiten sind auch für die eigene Familiengründung prägend. Bei Mädchen und Buben aus Gewaltbeziehungen steigt  im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit, wieder als Opfer oder TäterIn eine Gewaltbeziehung einzugehen. Etwa 30 Prozent fallen in diese sogenannte Gewaltspirale. 

„Ursachen für Gewalt gibt es allerdings viele. Meine Erfahrung zeigt, dass Eltern grundsätzlich das Beste für ihr Kind wollen. Ich  kenne ganz wenige, denen es wirklich egal ist oder die sadistisch veranlagt sind“, so Pöschl. Oft hätten sie durch die eigene Erziehung selbst kein gutes Beispiel bekommen und ihnen gingen die Ideen aus. Fest steht allerdings, dass Gewalt in der Familie  keiner sozialen Schicht zugeschrieben werden kann – mit Gewalterfahrungen wird lediglich anders umgegangen. So ist das Schamgefühl in höheren sozialen Schichten größer, und weniger Gewalttaten werden angezeigt.

Angebote gegen Gewalt in der Familie sind in Österreich vielfältig: Von Präventionsarbeit in Form von Workshops von Vereinen wie Poika, White Ribbon und den Frauenhäusern über Hilfeleistungen vom Jugendamt und Helplines als Beratungsstelle, sowie durch die Krisenarbeit der Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie gibt es in Österreich ein sehr breites Angebot. Insgesamt wurden im Jahr 2008 in den Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt 14.016 Opfer betreut. Nahezu alle Opferschutzeinrichtungen sind jedoch unterfinanziert.

Stark eingeschränkt wird die Arbeit auch von der Väterrechtsbewegung. Besonders Frauenhäuser bekommen die damit  einhergehende Stress- und Angstsituation der Mütter durch lange Prüfungen der Obsorge zu spüren. „Häufig wird bei den  Untersuchungen die Gewalt ausgeklammert“, berichtet Geisler. „Wenn immer auf dieses Vaterrecht beharrt wird, frag ich mich, wo ist das Kindeswohl?“ Häufig laste auch enormer Druck auf SozialarbeiterInnen, BeraterInnen und MitarbeiterInnen bei Gericht und beim Jugendamt, die von Väterrechtlern immer wieder geklagt werden.

Als gesellschaftliches Problem mit rechtlichen Folgen wird familiäre Gewalt erst seit Kurzem angesehen. Das liegt an dem hohen  Stellenwert, den die Familie gesellschaftspolitisch hat: „Die Wertvorstellung, die Familie sei das Heiligtum, ist genau das, was dazu  geführt hat, dass jahrelang gar nicht eingeschritten wurde“, erklärt Assistenzprofessorin Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Logar ergänzt: „Doch die feministische Bewegung in den 60er und 70er Jahren hat das Thema  wieder öffentlich gemacht.“ So wurde 1989 Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Gewaltschutzgesetz trat 1997 in Kraft. Es ermöglicht der Polizei ein Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter und schreibt Maßnahmen zum Gewaltschutz, kostenlose  Beratung und Unterstützung der Opfer durch die genannten Einrichtungen fest. So wird bei Wegweisungen die Interventionsstelle kontaktiert – und falls Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.

Ein großes Problem allerdings ist, dass Frauen oft keine Anzeige erstatten. „Viele Frauen wissen nicht, dass es ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist“, sagt Beclin. Auch Abhängigkeiten finanzieller Art oder durch Verlust des Aufenthaltsstatus sind häufig Gründe, lieber zu schweigen. „Auf individueller Ebene kann man das leider oft gut nachvollziehen.“ Wird aber doch angezeigt, sind Straftaten über längere Zeit hinweg meist nicht mehr nachweisbar. RichterInnen tun sich oft schwer, den Frauen zu glauben.  „Deswegen ist es ratsam, die Verletzungen nicht nur behandeln, sondern auch fotografisch und schriftlich dokumentieren zu  lassen“, meint Beclin.

Oft kommt es allerdings gar nicht zum Strafverfahren, etwa wenn in der Polizeiakte Aussage gegen Aussage steht. In diesem Fall  wird das Verfahren schon vorher eingestellt – von der Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Kontakt mit den ZeugInnen hat. „Das  halte ich für problematisch. Denn dann dauern die Gewaltakte meist Jahre an.“ Auch wenn es unter diesen Umständen zur  Verurteilung kommt, sei die herkömmliche Haftstrafe für das Problem eher kontraproduktiv. Nach Absitzen der Haft können Täter  durch Gewalterfahrungen von Mithäftlingen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt frustrierter und abermals gewalttätig werden. „Es  wäre wichtig, dass sie parallel ein Anti-Gewalt-Training machen. Auch eine milde Strafe kann mit dieser Auflage verhängt werden“,  sagt Beclin. So sollte es neben der umfassenden Opferbetreuung auch Täterbetreuung geben. Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten sind enorm: „Krankenstände, Arbeitsunfähigkeiten, Todesfälle, Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren, Gefängnisaufenthalte,  psychische Folgen, post-traumatische Belastungsstörungen, die natürlich auch wieder Folgen haben für die Familien“, zählt Geisler  auf. Sie fügt hinzu: „Geld für Prävention statt für Strafen auszugeben, wäre wohl besser, als immer im Nachhinein die Folgen zu bezahlen.“

Entschuldigt wird familiäre Gewalt Pöschl zufolge oft mit der lapidaren Aussage: „Mir hat die Watschen auch nicht geschadet und aus mir ist auch was geworden.“ Doch darauf hat sie eine klare Antwort: „Ja, aber wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sie nicht bekommen hätten?“

Anonym und kostenlos

  • 09.12.2012, 18:53

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

In dem Büro stehen ein Schreibtisch mit Telefon und Computer, Ordner und zwei Betten. „Für die Nachtschichten, für den Fall dass es vielleicht länger keine Anrufe gibt“, sagt Angelika.

progress: Wie viele Anrufe kommen denn so im Schnitt?

Eisterer: Laut unserer jährlichen Statistik sind es durchschnittlich etwa 30 Anrufe am Tag mit 24 Stunden. Ein Tag besteht aus drei Diensten und das verteilt sich eben auch. Es gibt Zeiten, in denen es ganz dicht ist und dann gibt es wieder Zeiten, in denen es vielleicht einen Anruf in der Schicht gibt und wenn man das nicht statistisch erfasst, dann merkt man das als Beraterin nicht, wie viele Anrufe es sind. Man kriegt eher mit, heute ist ein heftiger Tag oder heute ist ein ruhigerer Tag.

progress: Und wenn in einer heftigen Zeit die Leitung besetzt ist?

Eisterer: Das sollte natürlich nicht passieren, aber wenn, dann gibt es einen Spruch am Tonband, das sagt: „Die Beraterin ist gerade in einem Gespräch. Bitte rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder an“. Wir rufen nicht zurück, obwohl wir eigentlich die meisten Nummern sehen, weil die übertragen werden. Aber wir sind anonym und eine Helpline, darum rufen wir aus Prinzip nicht zurück.
Oft kann es ja so sein, dass das Handy oder Telefon von der Familie benutzt wird und dann geht vielleicht der Mann dran oder wer anderer, was natürlich auch problematisch oder sogar gefährlich für die Anruferin sein kann.

progress: Wer ruft denn alles an?

Eisterer: Es ist ein Teil direkt betroffener Frauen, ein anderer Teil sind Frauen oder auch Männer aus dem sozialen Umfeld. Manchmal sind das Leute, die sagen, sie kennen wen. Das sind dann sowohl Frauen als auch Männer, die einfach für eine bestimmte Frau eine Unterstützung wollen. Es gibt auch einen sehr geringen Teil an Männern oder Tätern, die tatsächlich Hilfe für sich wollen und auch Männer, die Opfer sind.

progress: Gibt es auch feindlich gesinnte Anrufe?

Eisterer: Ja, auch. Es gibt einen gewissen Teil derjenigen, die meiner Meinung nach in ein Täterprofil hineinpassen. Das sind eben sozusagen klassische Täter, die uns beschimpfen wollen, oder sich irgendwie rechtfertigen wollen. Das geht hin bis zu laufenden Belästigungen.

progress: Sind auch Vaterrechtler dabei?

Eisterer: Die gibt es auch, die anrufen, ja. Ich weiß natürlich immer nur das, was am Telefon thematisiert wird, aber natürlich. Wenn sie davon anfangen, merkt man da natürlich schon die Richtung. Ich merke persönlich, dass ich meinen Beratungsstil etwas geändert habe, seitdem sie gesellschaftspolitisch einen starken Aufwind bekommen haben.

progress: Inwiefern?

Eisterer: Bei vielen unserer Gesprächen mit Frauen geht es auch um das Thema Obsorgeregelungen, also auch um juristische Beratung. Oft, bevor eine Frau in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, muss Rechtliches geklärt werden. Bei Scheidung und Trennung spielt oft  die Sorge um das Kind bzw. um die Kinder eine große Rolle. Frauen haben oft Angst ihre Kinder zu verlieren,  was durch Väter, die stark um ihre Rechte kämpfen, auch passieren kann. Vor der Obsorgedebatte hab ich diesen Frauen noch sagen können, sie hätten da wenig zu befürchten, aber nun und auch zukünftig kann ich ihnen das nicht mehr so bestimmt vermitteln, weil nicht mehr sie, sondern RichterInnen entscheiden können und entscheiden werden. Das bringt Frauen in eine sehr große Unsicherheit  – oder in die Ausweglosigkeit beim Gewalttäter bleiben zu müssen, weil sie denken, dann können sie wenigstens noch mit dem Kind zusammen sein. Ich merke da schon, dass sich da der politische Wind gegen Frauen ordentlich gedreht hat.  Diese Situation ist für Frauen sehr belastend, aber auch für uns.

progress: Wie geht es denn nach einem Anruf weiter?

Eisterer: Wir sind ja für ganz Österreich zuständig und haben hier eine dicke Mappe am Tisch liegen, wo sämtliche Beratungsstellen österreichweit drinnen stehen, nach Thema geordnet, damit wir sie natürlich schnell finden.
Grundsätzlich gilt es erst einmal, das Anliegen zu klären. Am Telefon find ich das noch schwieriger als in der persönlichen face-to-face Beratung, weil Menschen in der Krise natürlich nicht geordnet erzählen. Da muss man natürlich zuerst herausfinden, was ist jetzt der Problemfall. Was ist jetzt und was ist in der Vergangenheit passiert. Dann geht es in erster Linie natürlich immer um die Sicherheit. Das heißt, es geht darum zu klären, liegt eine akute Gefährdung vor und was kann dagegen getan werden. Da kommen de facto eigentlich immer nur zwei Sachen ins Spiel. Das eine ist die Polizei zu rufen und die andere Möglichkeit ist, selber wegzugehen wie etwa in ein Frauenhaus. Wenn es sich um keine akute Situation handelt, dann kann die Beraterin mit der Anruferin einen Sicherheitsplan besprechen für den Fall, dass es wieder gefährlich werden wird, wie kann sie sich und ihre Kinder schon im Vorfeld davor schützen, wen kann sie miteinbeziehen, einweihen.
Manchmal rufen auch Frauen aus ländlichen Gegenden an, wo es rundherum oder in der Nähe keine Hilfseinrichtung gibt, die sie aufsuchen könnte. Für diese Frauen ist die Frauenhelpline besonders wichtig, damit sie sich Hilfe holen können.

progress: Warum bist du Telefonberaterin geworden?

Eisterer: Ja, also ich bin Psychologin und Sozialarbeiterin, wobei wir hier im Team ganz unterschiedliche Fachkompetenzen haben. Wir haben Psychologinnen,  Sozialarbeiterinnen und Frauen, die aus ganz unterschiedlichen beruflichen Kontexten kommen und langjährige Gewaltexpterinnen sind, weil sie bereits in adäquaten Hilfseinrichtungen gearbeitet haben. Wir haben auch Beraterinnen, die auf Arabisch, Englisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Rumänisch und Türkisch beraten können.

Ich persönlich habe die letzten Jahre im Gewaltschutzzentum in Niederösterreich gearbeitet, wo ich viele gewaltbetroffene Frauen und Kinder beraten habe. Ich bin seit zwölf Jahren Sozialarbeiterin und ich kennen viele Formen von Gewalt, ich war beim Jugendamt und in der Flüchtlingsarbeit tätig. Ich kenn das Thema Gewalt von verschiedenen Seiten. Ich verfüge durch meine langjährige Tätigkeit über ein umfassendes Wissen, auch über das Netz an Einrichtungen, die Hilfe anbieten. Dieses Wissen aus der Praxis ist für die telefonische Beratung bei der Frauenhelpline sehr hilfreich und nützlich. Im Vergleich zur Arbeit im Gewaltschutzzentrum, wo ich Frauen zur Polizei, zum Gericht und zu sonstigen Stellen begleitet habe, was oft sehr zeitaufwendig und stressig war, ist die Arbeit bei der Frauenhelpline etwas weniger belastend, aber ebenfalls sehr sinnvoll und erfüllend für mich, weil ich den Frauen mein praktisches Wissen und die Erfahrungen gut und kompetent vermitteln kann.

progress: Wie sieht der der normale Tagesablauf aus?

Eisterer: Es gibt zwei Tagdienste von 8.00 bis 14.00 Uhr  und von 13.30 bis 19.30 Uhr. Die Nachtschicht geht von 19.00 bis 8.30 Uhr. Wie man sieht, gibt es da immer eine halbstündige Übergabezeit, wo man mit den Kolleginnen alle Anrufe bespricht und weitergibt. Ausführliche Besprechungen gibt es bei den wöchentlichen Teamsitzungen, bei denen es zu ausführlichen „Fallbesprechungen" kommt. Vor allem die sogenannten Mehrfachanruferinnen, also Frauen, die öfter anrufen müssen, weil sie sich in einer Krise befinden und laufend Hilfe brauchen. Einige Frauen begleiten wir schon seit mehreren Jahren. Das sind Frauen, die aufgrund von ihren Gewalterfahrungen psychisch oder psychiatrisch erkrankt sind und die die Frauenhelpline als wichtige Stütze sehen, um ihren Alltag  bewältigen zu können.

progress: Wie wird da die Anonymität gewahrt?

Eisterer: Wir dokumentieren jeden Anruf, wo wir bestimmte Daten festhalten, die für uns intern relevant sind bzw. die uns die AnruferIn mitteilt. Wie etwa das Geschlecht, das Alter und die Herkunft der AnruferIn und welche Anliegen am Telefon besprochen werden, welche Hilfe wir angeboten haben und wie oft sie schon angerufen hat. In den meisten Fällen haben wir keine Namen, was auch nicht notwendig ist. Frauen die öfters bei uns anrufen bekommen von uns Bezeichnungen wie „Frau aus Wels“, dann können wir uns untereinander darüber verständigen und orientieren, ob es sich um eine langjährige Anruferin handelt. Wir bieten auch eine E-Mail-Beratung an.

progress: Treffen Sie die Langzeitanruferinnen auch persönlich?

Eisterer: Nein, nie.

progress: Prinzipiell?

Eisterer: Ja, wir sind eine reine telefonische Beratungsstelle für ganz Österreich und unsere Adresse wird nicht öffentlich genannt, aus Sicherheitsgründen.  Wir bekommen genug belästigende Anrufe und wir wollen nicht, dass plötzlich jemand vor der Tür steht.

 

„Die Nummer 0800/222 555  soll in jedem Haushalt bekannt sein“, sagt Maria Rösslhumer, Leiterin der Frauenhelpline.

Die Webseite der Frauenhelpline.

Eine von fünf

  • 05.12.2012, 14:56

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Gleich vier erschütternde Ereignisse unterstreichen die Aktualität des Themas: Zeitnah zum und am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurden zwei Tötungsdelikte in Wien und zwei Mordversuche an Frauen in Niederösterreich verübt. „Eine derartige Häufung von dramatischen Vorfällen gab es  noch nie“, sagt Mag.a Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser und Initiatorin der Vorlesung.

Gerade als Andrea Berzlanovich die Frage stellt, ob diese massiven Übergriffe verhindert werden hätten können, stürmt ein Mann in den Hörsaal und brüllt eine abseits des Podiums sitzende Frau an: „Wo warst du? Vier Anrufe in Abwesenheit und du hebst nicht ab!“. Verwirrung und Betroffenheit macht sich im Hörsaal breit. Verängstigt versucht die Frau sich zu rechtfertigen. Doch er schreit weiter, bis sie schließlich aus dem Raum flüchtet. Seine drohenden Rufe: „Wo bist du!?“, lassen keinen positiven Ausgang erwarten. Die Gerichtsmedizinerin deutet an: „So oder ähnlich kann es sich auch in den vier Familien zugetragen haben, bevor es zu den Bluttaten gekommen ist“. Die unter die Haut gehende Szene wurde von den beiden SchauspielpatientInnen Doris Buchner und Hagnot Elischka nachgestellt. Die Thematik „Häusliche Gewalt“ wird während der Ringvorlesung also nicht nur theoretisch, sondern ebenso praktisch behandelt.

Mehr als nur Frauenhaus. Natürlich könne sie nicht beantworten, ob diese Gewalttaten hätten verhindert werden können, meint Mag.a Maria Rösslhumer. Die Polizei ermittle, ob es schon im Vorfeld Anzeichen für Gewalt gegeben habe. Einer der Täter sei bereits einmal nach dem Sicherheitspolizeigesetz verwiesen worden.

Die 30 Frauenhäuser in Österreich haben 759 Plätze für gewaltbetroffene Frauen und Kinder. Gemessen an der EinwohnerInnenzahl fehlen für die Erreichung der EU-Empfehlung allerdings 71 Plätze. Insgesamt fanden im vergangenen Jahr in den österreichischen Frauenhäusern 3371 Frauen und Kinder Schutz und Unterstützung. Davon waren knapp mehr als die Hälfte Migrantinnen. „Dies liegt aber nicht daran, dass Frauen mit Migrationshintergrund öfters von Gewalt betroffen seien, sondern daran, dass sie sich eher seltener an die Polizei wenden.", erklärt Rösslhumer. „Die Gründe dafür sind vielfältig, sei es aus Angst, nicht ernst genommen zu werden oder weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben oder aus Angst abgeschoben zu werden", fügt sie hinzu.

Frauenhäuser bieten auf Wunsch kostenlose Prozessbegleitung zu Polizei und Gerichten an. Der Verein selbst betreibt auch eine kostenlose Telefonberatung. Außerdem arbeitet der Verein umfassend im Bereich der Prävention und versucht, die jungen (potentiellen) Opfer von Gewalt zu erreichen, etwa mit Empowerment-Workshops für Kinder und Jugendliche an Schulen, in denen diese gegen Gewalt in der Familie gestärkt werden sollen. Vor allem sollen die TeilnehmerInnen den Unterschied zwischen Konflikt und Gewalt  klar erkennen. Hierbei ist die Grenze nicht so leicht zu ziehen, zumal es verschiedene Formen von Gewalt gibt: psychische, physische, sexuelle und soziale Gewalt.

Außerdem werden auch Workshops für die LehrerInnenschaft angeboten. Hier zeigte sich, dass viele der teilnehmenden LehrerInnen beruflich bereits mit dem Thema konfrontiert und daher nahezu alle der Ansicht waren, dass die Gewaltproblematik fix in deren LehrerInnen-Ausbildung integriert werden sollte.

Gewalt an Frauen trifft auch Kinder. Die Wichtigkeit der Arbeit mit und für Kinder verdeutlicht Mag.a Dr.in Barbara Schleicher von der Gesundheit Österreich GmbH. Sie geht auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalt auf Frauen und Kinder ein. Gewalt gegen schwangere Frauen wirkt sich auf die ungeborenen Kinder aus. Nach einer deutschen Prävalenzstudie haben gewaltbetroffene Schwangere ein höheres Früh- und Fehlgeburtenrisiko sowie Ess- und Schlafstörungen. Die Kinder werden häufig mit einem niedrigeren Gewicht geboren.

„Da häufig Ärztinnen und Ärzte die ersten und die einzigen Ansprechpersonen für Opfer sind, ist das Erkennen von Gewalt nicht nur ausschlaggebend für die konkrete Unterstützung in der Notsituation, sondern auch für die Aufklärung der Gewalttat“, meint Berzlanovich.

Dies war auch die Motivation, die Vorlesungsreihe an die Medizinische Universität zu bringen. „Österreich ist ein Vorbild, wenn es um Opferschutzgesetze, Unterstützung- und Beratungseinrichtungen geht, aber leider zählt die gesundheitliche Versorgung der Gewaltopfer noch nicht dazu“, sagt Schleicher. „Es ist eine Tatsache, dass MitarbeiterInnen aus Praxen und Krankenhäusern die Probleme gewaltbetroffener Patientinnen nicht lösen und die Gewaltsituation nicht beenden können, aber sie können, sollen und müssen als Nahtstelle zwischen den Opfern und spezialisierten Unterstützungseinrichtungen fungieren.“ Die Wahrnehmung einer gewaltbedingten Verletzung seitens der Ärztinnen und Ärzte, eine gerichtstaugliche  Dokumentation sowie die Vermittlung an frauenspezifische Einrichtungen helfen den Frauen enorm. Aber die Patientin muss damit einverstanden sein.

Über Generationen hinweg. Über 90% der Kinder sind bei Misshandlungen  der Mutter anwesend. Viele Kinder und Jugendliche, die sich schützend vor die Mutter stellen, erfahren  dabei selbst Gewalt. Gewalt ist über Generationen hinweg beobachtbar. „Während Söhne aus gewalttätigen Herkunftsfamilien später dazu neigen, selbst Gewalt als Durchsetzungsmittel anzuwenden, sind Mädchen stärker gefährdet, Partnergewalt zu tolerieren“, sagt Schleicher. Jede Gewalterfahrung hat Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder und kann sich in Verhaltensauffälligkeiten wie pathologischem Lügen, Schutzbehauptungen, autodestruktive Tendenzen sowie in Bindungsstörungen bemerkbar machen. „Gewalt gegen Frauen zieht sich quer durch alle sozialen Schichten und  ist im Sozialbau ebenso wie in der Prominentenvilla anzutreffen“, erklärt die Gastvortragende. 

365 Tage gegen Gewalt. Die interdisziplinäre Vorlesung „Eine von fünf. Gewalt und Gesundheit im sozialen Nahraum“ trägt ihren Namen aufgrund der Tatsache, dass jede fünfte Frau in Österreich in ihrem Leben von Gewalt in einer Beziehung betroffen ist. Zuerst fand die Lehrveranstaltung an der Politikwissenschaft, dann an der Rechtswissenschaft ihren Platz, erst im WS 2010/2011 erreichte das Thema durch Gerichtsmedizinerin Berzlanovich die Studierenden der Medizin. „Ziel ist es, angehende MedizinerInnen für das Thema zu sensibilisieren. Ich wünsche mir aber, dass sich auch Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich und in den Krankenhäusern eingehender informieren“.

Sie schätzt es sehr, dass sich über 100 TeilnehmerInnen aus unterschiedlichsten Studienrichtungen und Berufen angemeldet haben. Das korreliere ausgezeichnet mit der interdisziplinär ausgerichteten Vorlesungsreihe und sei eine gute Basis, um das gemeinsam Erarbeitete für die berufliche Tätigkeit entweder unmittelbar oder in der Zukunft zu nützen.

Die Lehrveranstaltung dieser Art ist österreichweit bislang die einzige. „Eigentlich wollen wir sie in ganz Österreich anbieten“, sagt Rösslhumer. Bei ihren Anfragen sei sie allerdings nicht auf große Begeisterung gestoßen, da viele Universitäten der Ansicht seien, dass ohnehin genug in diesem Bereich passiere. „Vielleicht probieren wir es nächstes Jahr wieder einmal“, fügt sie hinzu.

Die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen reichen vom 25. November bis zum 10. Dezember. „In diesem Zeitraum soll besonders auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht werden“, sagt Rösslhumer, „obwohl wir natürlich wissen: Gewalt passiert 365 Tage im Jahr“.

Links:

Bundesweite Frauenhelpline: http://www.frauenhelpline.at/

Gewalt ist nie ok: http://www.gewalt-ist-nie-ok.at/

Gesundheit Österreich GmbH: http://www.goeg.at/

Verein Österreichische Autonome Frauenhäuser: http://www.aoef.at/cms/index.php

Inhalte der Vorlesung: http://www.meduniwien.ac.at/hp/gerichtsmedizin/lehre/medizin/auswirkungen-haeuslicher-gewalt/

 

 

 

„Kein Platz für Yom Hashoah"

  • 24.10.2012, 17:35

See you soon again ist ein Film über die Holocaust-Überlebenden Leo Bretholz und Bluma Shapiro, die unermüdlich an Baltimore´s Schulen ihre Geschichten erzählen. Lisa Zeller erzählte die Filmemacherin Bernadette Wegenstein im progress-Interview über den Film, die Überlebenden in Baltimore und Hierarchien in der österreichischen Kultur.

See you soon again ist ein Film über die Holocaust-Überlebenden Leo Bretholz und Bluma Shapiro, die unermüdlich an Baltimore´s Schulen ihre Geschichten erzählen. Lisa Zeller erzählte die Filmemacherin Bernadette Wegenstein im progress-Interview über den Film, die Überlebenden in Baltimore und Hierarchien in der österreichischen Kultur.

Es ist Samstagnachmittag in Baltimore. Bernadette Wegenstein ist gerade zurück von einem Filmfestival in Boston, wo sie ihren aktuellen Film „See you soon again“ vorgestellt hat. Im Laufe unseres Gesprächs wird die Professorin und Filmemacherin zwei Mal angerufen. Einmal von einer Studentin, die sie zurückrufen wird. Das andere Mal muss sie den Anruf wirklich annehmen, denn: „Es geht um einen wichtigen Shoot nächste Woche“. Während wir über den aktuellen Film reden, ist sie schon längst mitten in der Arbeit für ihren nächsten.

progress: Sie publizieren viel im Bereich Körpermodifikation und Brustkrebs sowie deren Repräsentation in den Medien. Wie kamen Sie dann zum Film See you soon again?

Bernadette Wegenstein: Es kam eigentlich durch mein Interesses am Leo und durch die Kooperation mit Lukas Stepanik. Ich hab den Leo kennengelernt, weil ich Professorin an der Johns Hopkins in Baltimore bin. Ich bin dort hingezogen und hab damals für das erste Semester an der neuen Uni geplant, einen historischen Kurs über Holocaustfilme zu unterrichten. In dem Zusammenhang hat mir mein Nachbar erzählt: „Da gibt’s ja hier einen sehr berühmten legendären Holocaustüberlebenden und der ist wie Sie aus Wien.“ Den hab ich dann angerufen, sein Buch gelesen und irgendwie hat mich das sehr berührt. Davon hab ich dem Lukas Stepanik erzählt, der sowieso filmisch Interesse am Holocaust hat und dann haben wir das zusammengestellt. Das sind oft sehr biografische Zufälle, die natürlich auch zu allem Möglichen führen.

progress: Es gibt in Baltimore 100 Überlebende, die an Schulen gehen. Warum gerade Leo und Bluma?

Wegenstein: Viele wollen gar nicht gefilmt werden. Begleitet haben wir ungefähr fünf Überlebende, aber die anderen nie so weit wie Leo. Das hat sich während des Drehs ergeben. Leo ist für einen Cinéma Vérité-Film das perfekte Sujet. Man hat die Kamera ja sozusagen „in the face“ und er hat das total vergessen. Bluma ist eigentlich erst später in den Film hineingekommen. Wir haben mehrere Charaktere versucht zu entwickeln, aber dann hat es einfach unglaublich gepasst mit dem Leo. Seine Art ist so ein Auf und Ab und rein von den dramaturgischen Motiven hat es eine Balance gebraucht zu diesem Rhythmus. Da war die Bluma einfach eine ideale Counterfigur. Den anderen hab ich DVDs gemacht, damit sie sich auch sehen können.

progress: Leo scheint im Film mehr Rampenlicht zuzukommen als Bluma…

Wegenstein: Es ist schon klar, dass die Bluma im Film neben ihm steht. Das haben wir dann im Laufe des Schnitts und der Dramaturgie erst entschieden. Es ist so, dass diese Details des Überlebens und das Wie in seiner Geschichte viel klarer sind. Aber Bluma lassen wir zwei Mal ihre Geschichte anfangen und dann weitererzählen. Sie ist sozusagen elliptisch aufgebaut. Ihre Geschichte ist eben nicht so klar ersichtlich und das ist schade, da geb ich Ihnen recht. Aber die Geschichte der Bluma wird auf der US- als auch auf der österreichischen Seite des Films genau erklärt.

Außerdem ist Cinéma Vérité sozusagen dieser Anspruch, dass man die Wahrheit findet in der Realität, dass man die dann so darstellt, wie sie auch gewesen ist. Aber man braucht natürlich dazu eine Art von Filtersubjekt, über das diese Wahrheit irgendwie ausgeführt wird. Und dieses Subjekt bin natürlich ich, bzw. mein Ko-Regisseur Lukas. Ich würde auch sagen, dass der Film sozusagen eine Liebeserklärung an Leo ist, weil wir ihn so faszinierend gefunden haben durch seinen Charme und seinen Witz. Jedes Mal, wenn ich den Film sehe, hab ich auch noch das Gefühl, dass ich total fasziniert, aber auch sehr bewegt bin von diesem Mann und das ist in dem Film ausgedrückt. Insofern ist das durchaus eine subjektive Auswahl.

progress: Liegt das vielleicht daran, dass Sie selbst aus Wien sind?

Wegenstein: Das liegt sicherlich daran, dass ich aus Wien bin, doch es gibt viele Wiener Juden hier. Aber mich fasziniert am Leo auch dieses eine Ereignis in seinem Leben: diese Schuld, die er auch fühlt, dass er Wien als Erster verlassen hat und dass seine Schwester und seine Mutter da nicht rausgekommen sind. Daran denkt er zurück in allen möglichen Wegen. Also er ist total „obsessed“, ein richtig neurotischer traumatisierter Mensch und mich faszinieren solche Menschen. Ich frage mich, was ist so einem Menschen passiert? Wie ist er da hingekommen?

progress: Was haben Sie persönlich bei dieser Arbeit dazugelernt?

Wegenstein: Was ich gelernt hab, ist, dass es für so traumatisierte Menschen wie Leo und Bluma in Wahrheit keine Heilung gibt. Es gibt historische Wunden und Sachen, wie die Sklaverei, den Holocaust oder den Genozid im Sudan oder Darfur oder auch der Krieg, den die USA gegen den Islam führt, wovon man sich jahrhundertelang nicht erholt. Das sind Emotionen, die man auch gar nicht nachvollziehen kann. All das hat extrem lange Nachwirkungen. Das hab ich mir irgendwie anders vorgestellt. Ich hab schon gedacht, dass ein Holocaust-Überlebender, der schon seit mehreren Jahren umhergeht und das erzählt, das sozusagen schon bewältigt hat. Aber das ist nicht so. Das hab ich eben auch ganz bewusst in dem Film gezeigt, dass es auf diese offenen Wunden keine Antwort gibt und es keinen Sinn macht, diese zu vergleichen, weil da nix rauskommt.

Was ich auch gesehen habe, ist, dass sich Leo kleines Wiener Shtetl (jüdisches Wort für Dorf, Anmerkung) aufgebaut hat, wie er es in Wien auf der Mazzo-Insel zurückgelassen hat. Ich glaube, dass das viele Migranten, inklusive meiner selbst, machen. Nach 13 Jahren, die ich jetzt in den USA lebe, perpetuiere ich eben trotzdem gewisse Dinge, die ich aus der Kindheit hab. Man nimmt sich überall hin mit, egal wo man ist, also ob man nach Amerika geht, oder ob man, Gott bewahre, in einen Zug gesteckt wird nach Auschwitz. Man ist immer mit sich selbst und das sieht man halt auch beim Leo oder etwa bei Blumas Großnichte, Livia, die in Colorado studiert. Sie hat mir erzählt, sie beginnt dort ein neues Leben und ein Studium und all das – und dann hat sich rausgestellt, dass sie dort Kurse über Holocaust-Traumata belegt. Sie nimmt sich den Holocaust eben dorthin mit. Das wird vergessen und das ist glaub ich in Österreich auch nicht ganz bewusst, wenn ich gefragt werde: „Warum können wir den Holocaust nicht einfach vergessen und diese Geschichte nicht irgendwie ausklammern?“

progress: Es ist schon bezeichnend, dass Sie das in Österreich gefragt werden…

Wegenstein: Genau und aus amerikanischer Sicht kann man das nicht ausklammern, denn hier gibt es nicht eine Geschichte. Hier gibt’s diese ganzen „communities“, die Afro-Amerikaner, die Juden und die Christen. Natürlich gibt’s Minderheiten, aber die werden extrem ernst genommen, auch legislativ. Das kann man ja überhaupt nicht vergleichen. Man hat eine völlig andere Gesetzesgrundlage, die reflektiert, wie man über Zugehörigkeiten, über Beruf und über solche Sachen denkt, also wer sozusagen das Recht hat, einen Namen zu tragen und all das. Hier kann man hingehen und sagen „I want to be called `Bloody Idiot´“. Das ist vielleicht nicht so leicht, aber man würde das durchkriegen auf dem Standesamt, wenn man das Gefühl hat, man ist so und so will man sein. Dadurch ist es so eine blöde Frage, ob wir den Holocaust vergessen wollen. Ich mein, was soll das bitte? Das geht einfach gar nicht aus dieser hiesigen Sicht. Man muss deswegen auch nicht übersentimental sein. Natürlich hat das nichts mit einem persönlich zu tun und niemand sollte einen dessen beschuldigen, aber das heißt nicht, dass man sich nicht anschaut, was auf österreichischem Grund und Boden passiert ist.

progress: Wie spürt man den Einfluss der survivor community auf Baltimore selbst?

Wegenstein: Den spürt man insofern, dass alle Schüler in Baltimore mindestens einen Holocaust Überlebenden in der Schule kennenlernen. Also dafür, dass es nicht Österreich ist, ist es beachtlich, dass man die jüdische Gemeinde hier so ernst nimmt und dass das eben zum Allwissen gehört. Das spürt man auch.

Außerdem gibt es den Holocaust-Rememberance Day, Yom Hashoah, im April. Der ist hier allen ein Begriff und das ist für mich auch das beste Beweisstück, das ich immer gerne angeführt habe vor Österreichern, die gesagt haben: „Naja, aber man hat den Holocaust ja auch nicht vergessen!“, aber es geht ja nicht darum!

progress: Worum geht es dann?

Wegenstein: Es geht darum, was die Institutionen damit machen. Der Yom Hashoah Remembrance Day ist hier relativ institutionalisiert. Das heißt, dass es eben wie ein Feiertag auch gefeiert wird in mehreren Ländern weltweit. In Österreich ein unbekannter Tag! Da wird er erstens nicht gefeiert und zweitens weiß auch niemand, was das soll und das find ich schon arg, muss ich sagen. Ich versteh das nicht! Das heißt ja nicht, dass man hingehen muss, aber wenn Weihnachten ist, weiß auch jeder, was das ist!

Aber so ist die Kultur: Die Kultur zeigt sich dann eben immer auch aus hierarchischer Sicht und die Hierarchie in der österreichischen Kultur und Wien ist ja eine katholische, da ist sozusagen kein Platz für Yom Hashoah.

progress: Was wird Ihr nächster Film behandeln?

Wegenstein: Jetzt mache ich gerade einen Film über Brustkrebs und Körpermodifikation.

 

Eine Rezension zum Film See you soon again findet ihr hier

„Wir müssen es tun”

  • 24.10.2012, 17:12

Die Holocaust-Überlebenden Leo Bretholz und Bluma Shapiro erzählen ihre Geschichte an Schulen in Baltimore. Im Film See you soon again werden sie dabei begleitet.

See you soon again. Eine Filmrezension.

 „I am over-holocausted“, sagt der Holocaust-Überlebende Leo Bretholz in einer Szene des Films See you soon again. „Aber wir müssen es tun, um an die Opfer zu erinnern“, antwortet der ehemalige Wiener einer Schülerin in einer anderen Szene auf die Frage, ob er es nicht manchmal leid ist, davon zu erzählen. Leo lebt in Baltimore, wo er und weitere Mitglieder der Übelebendengemeinde seit Jahren an Schulen gehen, um ihre Geschichten mit den SchülerInnen zu teilen. Lukas Stepanik und Bernadette Wegenstein begleiten ihn und Bluma Shapiro auf ihrer unermüdlichen Reise durch die unterschiedlichsten Schulen und ZuhörerInnenkreise. Nicht ihre Geschichten, sondern die Personen selbst und ihr Umgang mit der Vergangenheit stehen im Mittelpunkt des Films. So erleben die ZuseherInnen ihre Höhen und Tiefen hautnah mit. Vor allem bei Leo, der sehr temperamentvoll auf Fragen reagieren kann, wenn er sich nicht verstanden fühlt, dennoch aber an anderer Stelle mit viel Witz und Charme seine Geschichte übermittelt. Abgerundet wird dies durch die gebürtige Polin Bluma, die eher gefasst wirkt und ganz klar das Ziel verfolgt, „wenigstens ein Kind zu erreichen“. Bei ihr zeigt sich zudem ein Generationenkonflikt innerhalb der Überlebendengemeinde. Ihre Großnichte Livia streitet sich fast mit ihr darüber, ob auch Kinder und Enkelkinder der Überlebenden zur Überlebendengemeinde gehören oder nicht  und stellt klar, dass auch die nachfolgende Generation der Überlebenden traumatisiert ist.
Damit werden im Film verschiedene Aspekte und Reaktionen auf die Holocaust-Überlebenden beleuchtet.

See you soon again ist ein klug inszenierter, liebevoller und glaubhafter Cinéma-Vérité-Film, der durch seine Mischung aus Humor und überzeugender Ernsthaftigkeit zum Lachen wie auch zum Nachdenken anregt und somit einen bittersüßen Nachgeschmack hinterlässt. Auch wenn geschichtliche Aspekte nicht im Mittelpunkt stehen, werden sie den ZuseherInnen doch nähergebracht. Insbesondere von Leo. Wenn er etwa über seine letzte Fahrt am 25. Oktober 1938 in Wien mit der 5er Straßenbahn Richtung Westbahnhof berichtet, werden die langfristigen Auswirkungen der Juden- und Jüdinnenvefolgung realer als es jedes Geschichtsbuch darzustellen vermag.

SEE YOU SOON AGAIN
Lukas Stepanik/Bernadette Wegenstein, A/USA 2012, OmU, DCP, 79 min.

Zum Trailer des Films, zur Webseite und zu den Spielterminen.