Hinter geschlossenen Türen
Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.
Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.
Ein Mann, eine Frau und zwei oder drei Kinder halten sich an den Händen und springen draußen durchs Grüne. Die Sonne strahlt. Sie strahlen. Das ist das Bild, das man nach einer kurzen Internet-Recherche zu Familie erhält. Dass es bei vielen Familien hinter geschlossenen Türen anders aussieht, macht zum Beispiel die Gewaltprävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ von 2011 deutlich. Die Familie wird dort als jener soziale Nahraum genannt, in dem am häufigsten körperliche Übergriffe erlebt wurden. Von insgesamt 2.334 Personen im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren gaben etwa drei Viertel an, als Kind mehr als einmal mit körperlicher Gewalt durch Familienmitglieder konfrontiert gewesen zu sein – Gewaltformen wie psychische und ökonomische Gewalt noch nicht mit einberechnet.
Gewalt in der Familie kann von allen Familienmitgliedern ausgehen. Jedoch belegen Studien, dass Frauen in Familie oder Partnerschaft am häufigsten von ihr betroffen sind. Jede fünfte Frau in Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt in einer Beziehung betroffen. Fünfzig bis siebzig Prozent der Kinder misshandelter Frauen werden ebenfalls misshandelt. „Es geht bei Gewalt immer um Machtungleichgewichte. In Familien sind diese sehr deutlich ausgeprägt, weil sie wenig durch öffentliche Blicke kontrolliert sind“, erklärt Marion Geisler vom Kinder- und Jugendlichenbereich im ersten Wiener Frauenhaus.
Das Gegenmittel. Auch Frauen werden auffallend oft gegenüber Kindern gewalttätig. Misst man körperliche Gewalt, liegt die Gewalterfahrung durch Mütter noch vor der Gewalterfahrung durch den Vater. „Ein Grund könnten die klassischen Geschlechterrollen sein, in denen Frauen noch immer die meiste Erziehungs- und Hausarbeit leisten und zusätzlich einer beruflichen Arbeit nachgehen“, sagt Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung, der maßgeblich an der eingangs zitierten Gewaltprävalenzstudie beteiligt war. Dies führe zu enormem Stress und einer Situation der Hilflosigkeit, die dann in Gewalt gegen die Kinder münden kann. „Hilflosigkeit und Überforderung sind allgemein wichtige Gründe, wenn es um Gewalt in Familien geht“, fügt Hannelore Pöschl, Diplomsozialarbeiterin und Leiterin des Amts für Jugend und Familie Wien im 13. und 14. Wiener Gemeindebezirk, hinzu. „Besonders von Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konfliktsituationen umzugehen, wird die eigene Hand zum Beenden eines Zustands genutzt, den man nicht mehr erträgt.“
Männer wiederum, die dominante Rollenbilder verkörpern, neigen zur Abwertung von Weiblichkeit und werden so gegenüber Partnerinnen häufiger gewalttätig. Grund dafür können die patriarchale Prägung einer Gesellschaft sowie die damit verbundene geschlechterspezifische Sozialisation sein. „Gleichstellung und Gewalt bedingen sich gegenseitig: Das Gegenmittel gegen Gewalt ist Gleichstellung von Frauen“, sagt Rosa Logar von der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. „Je traditioneller eine Familie aufgebaut ist, desto höher ist die Gefahr, dass Gewalt vom Vater oder vom Partner ausgeht“, bestätigt Geisler. Außerdem kann das traditionelle Familienideal dazu beitragen, dass Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Mütter in solchen Frauenrollen fühlen sich oft verantwortlich für eine „heile“ Familie und differenzieren nach dem Muster, „er“ sei zwar ein gewalttätiger Ehemann, aber ein liebevoller Vater. „Doch das funktioniert nicht. Beobachtete Gewalt hat die gleichen Folgen wie selbst erlebte Gewalt. Das weiß man auch von der Folter, aber genau dieser Mechanismus wird bei Kindern bagatellisiert.“ Das Ende der Beziehung wird zudem oft nicht als Ausweg gesehen, weil eine Trennung das Gewaltrisiko steigert.
Die Erfahrung im Frauenhaus zeigt auch, dass sich Kinder stark nach dem klassischen Familienmodell sehnen. Manchmal erwähnen sie seltene Momente mit dem Vater, zum Beispiel am Spielplatz, als Wunsch, es möge doch in Zukunft immer so sein. „Die Kinder wünschen sich einen liebevollen Vater, der sich um sie kümmert, so wie sie es in der Werbung oder in Filmen sehen können.“ Gewaltvolle Kindheiten sind auch für die eigene Familiengründung prägend. Bei Mädchen und Buben aus Gewaltbeziehungen steigt im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit, wieder als Opfer oder TäterIn eine Gewaltbeziehung einzugehen. Etwa 30 Prozent fallen in diese sogenannte Gewaltspirale.
„Ursachen für Gewalt gibt es allerdings viele. Meine Erfahrung zeigt, dass Eltern grundsätzlich das Beste für ihr Kind wollen. Ich kenne ganz wenige, denen es wirklich egal ist oder die sadistisch veranlagt sind“, so Pöschl. Oft hätten sie durch die eigene Erziehung selbst kein gutes Beispiel bekommen und ihnen gingen die Ideen aus. Fest steht allerdings, dass Gewalt in der Familie keiner sozialen Schicht zugeschrieben werden kann – mit Gewalterfahrungen wird lediglich anders umgegangen. So ist das Schamgefühl in höheren sozialen Schichten größer, und weniger Gewalttaten werden angezeigt.
Angebote gegen Gewalt in der Familie sind in Österreich vielfältig: Von Präventionsarbeit in Form von Workshops von Vereinen wie Poika, White Ribbon und den Frauenhäusern über Hilfeleistungen vom Jugendamt und Helplines als Beratungsstelle, sowie durch die Krisenarbeit der Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie gibt es in Österreich ein sehr breites Angebot. Insgesamt wurden im Jahr 2008 in den Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt 14.016 Opfer betreut. Nahezu alle Opferschutzeinrichtungen sind jedoch unterfinanziert.
Stark eingeschränkt wird die Arbeit auch von der Väterrechtsbewegung. Besonders Frauenhäuser bekommen die damit einhergehende Stress- und Angstsituation der Mütter durch lange Prüfungen der Obsorge zu spüren. „Häufig wird bei den Untersuchungen die Gewalt ausgeklammert“, berichtet Geisler. „Wenn immer auf dieses Vaterrecht beharrt wird, frag ich mich, wo ist das Kindeswohl?“ Häufig laste auch enormer Druck auf SozialarbeiterInnen, BeraterInnen und MitarbeiterInnen bei Gericht und beim Jugendamt, die von Väterrechtlern immer wieder geklagt werden.
Als gesellschaftliches Problem mit rechtlichen Folgen wird familiäre Gewalt erst seit Kurzem angesehen. Das liegt an dem hohen Stellenwert, den die Familie gesellschaftspolitisch hat: „Die Wertvorstellung, die Familie sei das Heiligtum, ist genau das, was dazu geführt hat, dass jahrelang gar nicht eingeschritten wurde“, erklärt Assistenzprofessorin Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Logar ergänzt: „Doch die feministische Bewegung in den 60er und 70er Jahren hat das Thema wieder öffentlich gemacht.“ So wurde 1989 Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Gewaltschutzgesetz trat 1997 in Kraft. Es ermöglicht der Polizei ein Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter und schreibt Maßnahmen zum Gewaltschutz, kostenlose Beratung und Unterstützung der Opfer durch die genannten Einrichtungen fest. So wird bei Wegweisungen die Interventionsstelle kontaktiert – und falls Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.
Ein großes Problem allerdings ist, dass Frauen oft keine Anzeige erstatten. „Viele Frauen wissen nicht, dass es ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist“, sagt Beclin. Auch Abhängigkeiten finanzieller Art oder durch Verlust des Aufenthaltsstatus sind häufig Gründe, lieber zu schweigen. „Auf individueller Ebene kann man das leider oft gut nachvollziehen.“ Wird aber doch angezeigt, sind Straftaten über längere Zeit hinweg meist nicht mehr nachweisbar. RichterInnen tun sich oft schwer, den Frauen zu glauben. „Deswegen ist es ratsam, die Verletzungen nicht nur behandeln, sondern auch fotografisch und schriftlich dokumentieren zu lassen“, meint Beclin.
Oft kommt es allerdings gar nicht zum Strafverfahren, etwa wenn in der Polizeiakte Aussage gegen Aussage steht. In diesem Fall wird das Verfahren schon vorher eingestellt – von der Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Kontakt mit den ZeugInnen hat. „Das halte ich für problematisch. Denn dann dauern die Gewaltakte meist Jahre an.“ Auch wenn es unter diesen Umständen zur Verurteilung kommt, sei die herkömmliche Haftstrafe für das Problem eher kontraproduktiv. Nach Absitzen der Haft können Täter durch Gewalterfahrungen von Mithäftlingen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt frustrierter und abermals gewalttätig werden. „Es wäre wichtig, dass sie parallel ein Anti-Gewalt-Training machen. Auch eine milde Strafe kann mit dieser Auflage verhängt werden“, sagt Beclin. So sollte es neben der umfassenden Opferbetreuung auch Täterbetreuung geben. Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten sind enorm: „Krankenstände, Arbeitsunfähigkeiten, Todesfälle, Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren, Gefängnisaufenthalte, psychische Folgen, post-traumatische Belastungsstörungen, die natürlich auch wieder Folgen haben für die Familien“, zählt Geisler auf. Sie fügt hinzu: „Geld für Prävention statt für Strafen auszugeben, wäre wohl besser, als immer im Nachhinein die Folgen zu bezahlen.“
Entschuldigt wird familiäre Gewalt Pöschl zufolge oft mit der lapidaren Aussage: „Mir hat die Watschen auch nicht geschadet und aus mir ist auch was geworden.“ Doch darauf hat sie eine klare Antwort: „Ja, aber wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sie nicht bekommen hätten?“