Joël Adami

K.O. im ersten Semester

  • 11.10.2017, 17:23
50, 80, 97 Prozent Durchfallquote: Knockout-Prüfungen bescheren Alpträume, vor allem am Anfang des Studiums. Sind die KO-Schläge der Unis Notwehr oder unnötige Schikane?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass es sie gibt. Sie sind gefürchtet und provozieren etliche schlaflose Nächte. Und dennoch scheint es nicht so, als gäbe es wirklich ein Mittel dagegen. Die Rede ist von sogenannten „Knock Out-Prüfungen“, kurz KO-Prüfungen. Damit sind Prüfungen gemeint, die so schwer sind, dass nur sehr wenige Studierende sie beim ersten Versuch schaffen. Etwa, weil der zu lernende Stoffumfang enorm hoch ist oder die Prüfungsmodalitäten so unfair, dass es reine Glückssache ist, die Tests zu bestehen.

ILLEGALE ZUGANGSBESCHRÄNKUNG

Endes des letzten Semesters, im Juni 2017, waren KO-Prüfungen kurz in aller Munde, da ein besonders eklatanter Fall an der TU Wien medial bekannt geworden war. Die Lehrveranstaltungen „Mechanik 1“ und „Mechanik 2“ hatten desaströse Durchfallquoten von über 90 Prozent, in einer Prüfung fielen sogar 97 Prozent der Studierenden durch. Die Prüfungen betrafen zwei Maschinenbau-Bachelorstudien. In diesen Studien schlossen laut der Hochschüler_innenschaft der TU Wien (HTU Wien) weniger als drei Prozent der Studierenden ihr Studium innerhalb von acht Semestern ab, was der Regelstudienzeit plus zwei Toleranzsemester entspricht. Für die betroffenen Studierenden bedeuten diese Verzögerungen nicht nur ein verlängertes Studium im Lebenslauf, sondern oft auch den Wegfall von finanziellen Beihilfen wie der Studienbeihilfe. Neben der Durchfallrate wurden im Juni auch die Art und Weise der Wissensvermittlung, die langen Korrekturzeiten, aber auch die Bedingungen bei der Prüfungseinsicht moniert: „Bei der Einsicht für die Tests wartet man teilweise bis zu drei Stunden, um dann eine schnippische Antwort auf eine inhaltliche Frage zu bekommen oder vor den Mitstudierenden angebrüllt zu werden“, sagte Andreas Potucek, damals im Vorsitzteam der HTU Wien.

In vielen Studien ist es möglich, schwierige oder berühmt-berüchtigte Fächer bis zum Ende des Studiums hinauszuschieben. Das heißt einerseits, dass möglicherweise genügend Zeit zum Lernen da ist, andererseits kann sich durch diese Taktik das Studium empfindlich verlängern – besonders dann, wenn die nicht die drei gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungstermine im Semester angeboten werden oder diese oft überfüllt sind. Ganz andere Hürden stellen KO-Prüfungen am Anfang eines Studiums dar, insbesondere dann, wenn sie Teil einer Prüfungskette sind (das Bestehen der Prüfung ist Voraussetzung für eine andere Lehrveranstaltung) oder gar zur Studieneingangs- und Orientierungsphase (StEOP) gehören. Bei der Einführung der StEOP wurde – vor allem seitens der ÖH – befürchtet, dass die verpflichtenden ersten Prüfungen dazu genützt würden, Studierende „rauszuprüfen“ und so unsichtbare Zugangsbeschränkungen aufzubauen. Das Universitätsgesetz ist in diesem Punkt allerdings klar, die StEOP darf explizit „nicht als quantitative Zugangsbeschränkung“ eingesetzt werden.

DER ROSENTHAL-EFFEKT

Christian, der sich an der Universität Wien in der Studienvertretung der Bildungswissenschaften engagiert, erzählt von KO-Prüfungen in seinem Bachelor: „Die StEOP ist ganz klar eine KO-Prüfung, außerdem die Methodenprüfungen. Davon gibt es sechs Stück, die alle nur ein einziges Mal im Jahr angeboten werden. Die meisten Studierenden schaffen sie irgendwann innerhalb der drei Jahre, die sie dafür Zeit haben“. Wenn die Studienvertretung nach mehr Kursen fragte, wird von der Studienprogrammleitung mit der Antwort abgespeist, das sei finanziell nicht möglich. Ist es die Unterfinanzierung der Hochschulen, die KO-Prüfungen zum notwendigen Übel macht – Notwehr sozusagen? Durch „geschickte“ Studienplangestaltung – in dem besonders lernaufwändige Fächer in die ersten Semester geschoben werden – lässt sich der finanzielle Aufwand, z.B. bei teuren Laborübungen für die folgenden Semestern verringern.

In der Praxis ist es schwer, nachzuweisen, dass Prüfungen in der StEOP als illegale Zugangsbeschränkungen genutzt werden – immerhin lässt sich aus Position der Lehrenden leicht mit angeblichen „sinkenden Niveau“ der Studienanfänger_innen argumentieren. Solche Klagen sind allerdings nicht unbedingt neu. Bereits im Jahr 1788, als in Deutschland das Abitur (das Äquivalent zur Matura) eingeführt wurde, klagte der Kanzler der Universität Halle darüber, die Studierenden seien „alle so dumm“ und würden sich aus den falschen Kreisen rekrutieren. Wenn sich diese Mythen der Erstsemestrigen, die angeblich immer dümmer werden, sich unter Lehrenden halten, kann dies jedoch auch wie eine selbsterfüllende Prophezeiung einen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Der sogenannte Rosenthal-Effekt beschreibt, dass Schüler_innen, von denen Lehrende glauben, dass sie besonders klug oder dumm seien, entsprechende Ergebnisse liefern. Mitte der 1960er Jahre führte der US-Psychologe Robert Rosenthal Experimente mit Schulkindern durch, die diesen Effekt zeigten. Die Ergebnisse von KO-Prüfungen könnten also viel mehr an den Lehrenden liegen, als diese vielleicht glauben.

SAUSCHWERE PRÜFUNGEN

An der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) wird offen von Zugangsbeschränkungen durch KO-Prüfungen geredet. Laut der ÖH WU hört fast die Hälfte der Studienanfänger_innen schon nach dem ersten Semester an der WU wieder auf. Besonders gefürchtet ist die StEOP-Lehrveranstaltung „Einführung in die Rechtswissenschaften“, bei der fast 80 Prozent der Studierenden durchfallen. Patricio, ein ehemaliger WU-Student, berichtet: „Ich hatte mal in einem MC-Test einen Fall, wo einfach der Beistrich fehlte und der Aussage dann eine neue Bedeutung zukam.“ Solche Spitzfindigkeiten, gepaart mit enormen Zeitdruck und wenigen Prüfungsplätzen sorgen dafür, dass Prüfungen kaum zu bewältigen sind. Die Vermutung, dass durch solche Prüfungsmethoden gezielt dafür gesorgt werden soll, die Zahl der Studierenden zu verringern, liegt nahe. Manchmal ist es jedoch auch der Stoffumfang, der dafür sorgt, dass Prüfungen kaum zu bewältigen sind. Milena, die ihr Architekturstudium an der TU-Wien abgebrochen hat, erzählt von der Lehrveranstaltung „Einführung Hochbau“: „Für die Prüfung muss man mindestens einen Monat lernen. Und wenn ich einen Monat sage, meine ich reines Lernen, ohne Projekte oder Arbeiten nebenbei. Nach meinen Erfahrungen fällt ungefähr die Hälfte durch, die meisten Studierenden brauchen zwei bei drei Anläufe, bis sie die Prüfung schaffen.“

In manchen Fällen sind es die Unterlagen, die eine Hürde darstellen. Im Bachelor „Umwelt- und Bioressourcenmanagement“ an der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) klagen viele Studierende über die Prüfungen der beiden „Standortkunde“-Fächer, die verpflichtend im Studienplan stehen. „Bei aller Freundlichkeit und Sachlichkeit, der Professor hat die Berufung verfehlt. Unfreundlich, kompromissresistent und stets sauschwere Prüfungen, die einen in den Wahnsinn treiben“, beschreibt ein Studierender, der lieber anonym bleiben möchte, das Fach. Eine seiner Kolleginnen findet die Unterlagen – es handelt sich vor allem um Powerpoint-Folien – zu dürftig, um die Prüfungsfragen richtig beantworten zu können. Die Statistik der BOKU zeigt: Rund ein Drittel der Studierenden schafft die Prüfung nicht, eben so viele schaffen knapp einen Vierer.

STRESS UND DRUCK

Schwierige Prüfungen sind der meistgenannte Grund für Verzögerungen im Studium bei Studienanfänger_innen, überdurchschnittlich oft wird er in den Rechtswissenschaften, im Lehramt, in Ingenieurs- und Naturwissenschaften genannt, wie die Studierenden-Sozialerhebung 2015 zu berichten weiß. Auch hier berichten viele Studierende von KO-Prüfungen und erwähnen im gleichen Atemzug den hohen Stresspegel, der mit dem Leistungsdruck einher geht. Zu wie vielen Abbrüchen KO-Prüfungen führen, ist leider nicht untersucht worden.

Es lässt sich sicher vorzüglich über die Frage streiten, ob KO-Prüfungen vermieden werden könnten, wenn sie durch Zugangsbeschränkungen ersetzt würden – dadurch würde der Zugang zum Studium jedoch auf keinen Fall fairer. Zugangsbeschränkungen führen nämlich dazu, dass die Zahl von Studierenden aus Nicht-Akademiker_innenhaushalten sinkt, wie eine Studie der Arbeiterkammer festgestellt hat. Solange die Universitäten nicht ausreichend Mittel erhalten, um ihre Studierenden sinnvoll zu betreuen, wird es KO-Prüfungen geben. Einerseits, weil die Universitäten so versuchen, die Zahl der Studierenden zu minimieren und andererseits, weil kein Geld und keine Anreize für didaktische sinnvolle Lehre da ist. Mit guter Betreuung, die Studierende ernst nimmt und angemessenen didaktischen Methoden wäre es kein Ding der Unmöglichkeit, schwierige Fächer so zu vermitteln, dass die Durchfallquoten gering blieben. Bis dahin bleibt Studierenden meist nur eins: Zeit investieren, Büffeln und auf „Vier gewinnt“ hoffen.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur in Wien

Comic-Krankenakte

  • 20.06.2017, 21:46
Ein Comic, der aus Österreich stammt, komplett ohne Sprechblasen auskommt und dazu noch in einem Hospiz fernab von muskelbepackten Superheld_innen spielt – es gibt einige Eigenschaften, die The Medical Records of Mr. Zachary Griffith aus der Masse von Comics und Graphic Novels hervorhebt.

Ein Comic, der aus Österreich stammt, komplett ohne Sprechblasen auskommt und dazu noch in einem Hospiz fernab von muskelbepackten Superheld_innen spielt – es gibt einige Eigenschaften, die The Medical Records of Mr. Zachary Griffith aus der Masse von Comics und Graphic Novels hervorhebt.

Der Titel verrät es schon: Die Geschichte entfaltet sich in der Krankenakte von Zachary Griffith, dessen Leidensweg durch das St. Matthews Nursing Home uns in umgekehrt chronologischer Reihenfolge präsentiert wird. Und so lesen wir uns durch die Notizen seiner Pfleger_innen, die anfangs das Bild eines schwerkranken, dementen Mannes ergeben. Je weiter wir vorblättern und je näher wir seiner Aufnahme im Hospiz kommen, desto schwammiger wird dieses Bild. Was hat es mit dem mysteriösen Stein auf sich, den Griffith bei seinem Tod in der Hand hielt? Warum findet sich in seinem Zimmer ein Urlaubsbild seiner Pfleger_innen? Warum hat er seinen Spinat nicht aufgegessen, obwohl er das Blattgemüse so mochte? Die drei Pfleger_innen, die sich hauptsächlich um den Protagonisten kümmern, widersprechen sich nicht nur ständig, sondern schwärzen sich auch gegenseitig bei der Leitung des Heimes an.

Die Dreiecksbeziehung zwischen ihnen macht die Sache nicht unkomplizierter. Was schlussendlich die Todesursache war, wird nicht explizit geklärt – in dieser Hinsicht funktioniert der Comic wie eine Detektivgeschichte, die zum Mitraten einlädt. Die englischen Texte von David „LuvDav“ Hofer-Zeni wirken stellenweise fast zu poetisch für die Krankenakte, treiben die Geschichte aber dennoch gut voran. Die Zeichnungen von Verena „Nudlmonster“ Loisel, hauptsächlich in Pastelltönen gehalten, sind wunderschön und voller süßer Details, die es zu entdecken gilt. Überhaupt sind es die Kleinigkeiten, die dieses Projekt so reizvoll machen: Von der liebevoll gestalteten Krankenakte über die Nebenfiguren, die das St. Matthews Nursing Home zum Leben erwecken, bis hin zum Bonus-Content am Ende des Bandes wirkt hier alles stimmig und gut durchdacht. Das offene Ende könnte auf manche Leser_innen allerdings frustrierend wirken.
 

David Hofer-Zeni und Verena Loisl
The Medical Records of Mr. Zachary Griffith
Selbstverlag, 18 Euro
Erhältlich z. B. bei Bunbury’s Comics

Joël Adami liest neben dem Studium manchmal gerne Comics.

Abhängiges Tutoriumsprojekt

  • 18.06.2017, 17:20
Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Das Unabhängige Tutoriumsprojekt steht vor dem Aus. An seine Stelle tritt ein System, das von den ÖH-Fraktionen kontrolliert wird.

Erste Oktoberwoche, 18. Wiener Gemeindebezirk, Türkenschanzpark. Auf einer Wiese stehen aufgeregte BOKU-Erstsemestrige in kleinen Gruppen. Sie werden bald Kennenlernspiele machen, ihren Campus erkunden und Tipps und Tricks für den Unialltag mit auf den Weg bekommen. Dazu gehören zum Beispiel auch Hinweise, wie sich Lerngruppen organisieren lassen oder für welche Fächer besonders viel gelernt werden muss. An den meisten Hochschulen in Österreich spielen sich zu Semesterbeginn ähnliche Szenen ab: Es handelt sich um das Erstsemestrigentutorium. Die Tutor_innen sind Studierende in höheren Semestern, die alle ein spezielles Seminar absolviert haben. Dort haben sie gelernt, wie sich Gruppen motivieren lassen, wie Teambuilding funktioniert und wie sie Erstsemestrige am besten an das Hochschulleben heranführen können. Finanziert werden diese Seminare, in denen Tutor_innen ausgebildet werden, vom Unabhängigen Tutoriumsprojekt (TutPro) der ÖH-Bundesvertretung. Doch im Tutoriumsprojekt wird sich nach einem Beschluss auf einer Sitzung der Bundesvertretung Mitte Mai vieles ändern – das Tutoriumsprojekt wird eine komplett neue Struktur bekommen und fürchtet deswegen vor allem um seine Unabhängigkeit.

Anders als die meisten Projekte der ÖH-Bundesvertretung werden Tutorien und Trainer_innenausbildungen des TutPro überwiegend nicht aus den Mitgliedsbeiträgen der Studierenden, sondern zu drei Viertel vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (bmwfw) bezahlt. Die Erstsemestrigentutorien stellen den Löwenanteil der finanzierten Tutorien dar: Rund 90 Prozent der Tutorien dienen Neulingen an den Hochschulen zur Orientierung. Besonders wichtig ist dies für Studierende, deren Eltern und Familie keinen akademischen Background haben: Arbeiter_innenkinder haben es besonders in der ersten Zeit schwer an Unis und Hochschulen. Manchmal gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Studienvertretungen, Universitätsvertretungen, Fakultäten oder ganzen Hochschulen. Grundsätzlich findet die Organisation aber in selbstverwalteten Gruppen statt, den sogenannten Projektgruppen. Neben den Erstsemestrigentutorien finanziert das TutPro auch sogenannte „Thementutorien“. Diese richten sich auch an höhersemestrige Studierende und befassen sich meistens mit Diskriminierungsformen und Möglichkeiten, diesen entgegenzutreten. So gab es zum Beispiel immer wieder Tutorien zum Thema Geschlecht, HomoBiTrans-Tutorien, solche für ausländische Studierende und in diesem Studienjahr auch erstmals ein Tutorium, das sich mit Alter als Diskriminierungsfaktor auseinandersetzte. „Bei den Thementutorien, die ich trainiert habe, ging es vor allem um Self-Empowerment. Teilgenommen haben meist Menschen, die sich mit dem Thema schon auf irgendeine Art und Weise auseinandergesetzt haben. Natürlich hatten trotzdem alle unterschiedliche Erfahrungen und Wissensstände, was durchaus eine Herausforderung war“, erzählt Sarah Kanawin, die seit 2006 Tutorien anbietet und mittlerweile Trainerin ist, also Tutor_innen ausbildet.

SELBSTORGANISIERT. Mit den klassischen Tutorien, die innerhalb der Universität zur Vertiefung einzelner Fächer eingesetzt werden, haben aber weder Erstsemestrigen- noch Thementutorien etwas zu tun. Die Anfänge des TutPro liegen in den 1970er Jahren. Im Zuge der Studierendenbewegung lernten Studierende an technischen Universitäten in selbstverwalteten Gruppen. Aus dieser Bewegung entwickelten sich dann die ersten Erstsemestrigentutorien und das TutPro. Wichtigster Gedanke war damals die Emanzipation von der Hochschule und von Lehrplänen als „allwissende“ Instanzen, hin zu einer Selbstermächtigung und -organisation. Statt von einer einzigen Autorität sollten die Studierenden auch von- und miteinander lernen, was besonders beim Infragestellen von Diskriminierungsstrukturen ein entscheidender Faktor ist. Auch die Selbstorganisation war dem TutPro immer schon wichtig – engagierte Studierende sollten die Tutorien selbst organisieren und dies nicht Fakultäten und Hochschulen überlassen. Im TutPro werden also seit über 40 Jahren jene Fähigkeiten vermittelt, die heute unter dem Begriff Soft Skills Hochkonjunktur haben und mittlerweile auch in Studienpläne Einzug gefunden haben. Die Idee dahinter ist jedoch nicht der neoliberale Geist der Selbstoptimierung, der das Sammeln von möglichst vielen Skills beinhaltet, sondern das solidarische Vermitteln von Fähigkeiten, die den Universitätsalltag erleichtern.

KOMPLEXE STRUKTUR. Dieser emanzipatorische Grundgedanke erklärt auch, dass das TutPro im Lauf der Jahre eine relativ komplexe Struktur entwickelt hat, die dazu beitragen soll, dass einerseits die Unabhängigkeit von Hochschul-, Partei- und Fraktionsinteressen gewahrt bleibt und andererseits möglichst viele Menschen sich an dem Projekt beteiligen können. Die Verankerung innerhalb der ÖH-Bundesvertretung entstand Ende der 90er Jahre, als die Hochschulen gesetzlich verpflichtet wurden, die Dropout- Raten zu senken. Gemeinsam mit der Bundesvertretung und dem TutPro wurde sich auf ein dreisäuliges Modell geeinigt, das gemeinsame Finanzierung durch ÖH und Ministerium sowie die Unabhängigkeit des TutPro beinhaltete. Bei Änderungen der Verträge sollten stets alle drei Partner_innen zustimmen. Die kleinste Einheit der „partizipationsorientierten Organisationsstruktur“ des TutPro sind die Projektgruppen. Weil jedes Thema, jede Hochschule und oft auch jedes Institut eigene Anforderungen hat, gibt es autonome Projektgruppen, die die jeweiligen Tutorien organisieren, zum Beispiel ein Erstsemestrigentutorium an der Uni Klagenfurt oder ein Thementutorium zum Thema Rassismus einer Projektgruppe in Wien. In Wien und Graz existieren Regionalkreise, die den Tutor_innen in diesen Städten Raum bieten, sich auszutauschen und zu vernetzen. Außerdem organisieren die Regionalkreise Workshops zur Projekteinreichung und sorgen so dafür, dass die Eintrittsschwelle für neue Projektgruppen möglichst niedrig bleibt.

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Strukturelle Entscheidungen werden auf sogenannten Koordinationstreffen getroffen. Dreimal im Jahr fahren Menschen aus Projektgruppen auf diese Treffen, auf denen konsensorientiert über Themen wie Grundsätze, Richtlinien für Tutorien und Verhandlungen, aber auch über finanzielle Fragen wie Trainer_innenhonorare und Sätze für Übernachtungskosten diskutiert wird. Wie in fast jeder basisdemokratischen Gruppe gab es auch im TutPro immer wieder Diskussionen und Kritik wegen informeller Hierarchien. Mittels verschiedenster Ansätze wurde versucht, diese so weit wie möglich zu beseitigen. „Das TutPro war nie ein rein linkes Projekt, für viele Beteiligte war es die erste politische Erfahrung. Natürlich haben dadurch Prozesse oft lange gedauert, aber es wurde immer versucht, einen Konsens zu finden. Dieser Prozess war wichtig für viele“, erklärt Sarah Kanawin. Alle administrativen Aufgaben erledigt die Zentralkoordination, die über ein Büro in den Räumlichkeiten der ÖH-Bundesvertretung in der Wiener Taubstummengasse verfügt. Die Mitglieder der Zentralkoordination sind Sachbearbeiter_ innen der ÖH-BV und werden vom Koordinationstreffen bestimmt. Doch mit dieser selbstverwalteten Struktur wird nun Schluss sein.

 

AUSSCHUSS STATT PLENUM. Kurz vor der letzten ÖH-Wahl beschloss die Bundesvertretung mit den Stimmen von FLÖ, VSStÖ, RFS und AG einen Antrag, der die Struktur des TutPros komplett neu regelt. An die Stelle der Sachbearbeiter_innen der Zentralkoordination tritt eine festangestellte Person, die administrative Aufgaben übernehmen soll. Die Entscheidungen, die auf dem Koordinationstreffen getroffen wurden, werden künftig von einem Ausschuss der ÖH-BV übernommen. Dieser besteht aus elf Personen, die von den Fraktionen gemäß Wahlergebnis entsendet werden. Einzig die Fachschaftslisten haben noch im Wahlkampf Stellung zu dieser Änderung genommen. Sie argumentieren vor allem damit, dass die administrativen Aufgaben so besser erledigt werden könnten und dass Anträge künftig nach klareren Richtlinien entschieden würden. Insgesamt wird dem TutPro Willkür vorgeworfen, so seien Menschen von Koordinationstreffen weggeschickt worden. Das TutPro hat in einer ausführlichen Stellungnahme auf die Argumente der FLÖ geantwortet und beruft sich auf die geltenden Richtlinien, die klar und transparent seien. Somit seien Menschen, die sich in ÖH-Fraktionen engagieren, bei Entscheidungen, die sie als fraktionierte Menschen betreffen, nicht stimmberechtigt, dies sei aber klar kommuniziert gewesen. Über Jahre waren fraktionierte Tutor_ innen immer wieder ein Streitpunkt. Das Erstsemestrigentutorium bietet sich für ÖH-Fraktionen natürlich an, um gleich in der ersten Uniwoche Rekrutierungsund Agitationsversuche zu starten. „Es gab auch immer wieder Versuche, das TutPro politisch zu instrumentalisieren, ob positiv oder negativ. Meistens war den Fraktionen das TutPro aber egal, wenn nicht gerade Wahlzeit war“, so Gerda Kolb, die ihre Karriere als hauptberufliche Trainerin im TutPro begonnen hat und Ende der 90er Teil der Zentralkoordination war. Durften bisher nur 20 Prozent der Tutor_innen einer Fraktion angehören, so wird dieser Anteil nun auf 50 Prozent erhöht. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade jene Fraktion, die sich im Wahlkampf für eine „offene ÖH“ und gegen ein „Freunderlwirtschaftssystem“, bei dem Posten vor allem an fraktionierte Personen verteilt werden, ausspricht, die offene Struktur des TutPro beendet. Der neue TutPro-Vertrag, in dem ÖH und Ministerium die Finanzierung und Struktur des TutPro festlegen, wurde angeblich gemeinsam von FLÖ und AG im Vorfeld verhandelt. Die Trainer_ innen wissen aktuell nicht, wie es weitergehen wird – für viele sind TutPro-Seminare eine Einnahmequelle. „Von Seiten der BV gab es null Kommunikation“, beklagt Gerda Kolb.

In dem Konflikt um das TutPro sind zwei Philosophien aufeinandergetroffen. Die emanzipatorische, offene Struktur, deren basisdemokratische Entscheidungen längere Zeit in Anspruch nehmen und das vor allem durch das Engagement vieler Freiwilliger lebte auf der einen Seite, das serviceorientierte, an Fraktionsinteressen gebundene Finanzierungsinstrument für Erstsemestrigentutorien auf der anderen Seite.

„Das wirkliche Potential des Projektes lag für mich darin, Menschen mit Diskriminierungsstrukturen vertraut zu machen, die zum ersten Mal davon hören, und zu sehen, dass ein Reflexionsprozess beginnt“, sagt Sarah Kanawin. Ob die emanzipatorischen Grundsätze des TutPro auch zukünftig an kommende Tutor_innen-Generationen und damit auch Erstsemestrige weitergegeben werden, bleibt zu bezweifeln. Zu befürchten ist, dass die Fraktionen nun verstärkt Einfluss auf Tutorien und Tutlinge nehmen werden.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Die kommenden Herausforderungen der ÖH

  • 12.05.2017, 22:26
Alle zwei Jahre wählen Österreichs Studierende ihre Vertretung, seit 2015 wird auch die Bundesvertretung wieder direkt gewählt. Welche Probleme und Herausforderungen werden sich der künftigen ÖH-Spitze stellen und wie wollen die Fraktionen damit umgehen?

Alle zwei Jahre wählen Österreichs Studierende ihre Vertretung, seit 2015 wird auch die Bundesvertretung wieder direkt gewählt. Welche Probleme und Herausforderungen werden sich der künftigen ÖH-Spitze stellen und wie wollen die Fraktionen damit umgehen?

In den letzten Jahren haben sich große Demonstrationen oder Aktionen zum Thema österreichische Bildungspolitik rar gemacht. Das heißt aber leider nicht, dass sich die Situation an den Hochschulen entspannt hätte – es haben nur alle gelernt, damit zu leben. Maßnahmen wie die Studieneingangs- und Orientierungsphase (StEOP), gegen deren Einführung 2009 noch heftig protestiert wurde, sind heute für Studienanfänger_innen Normalität geworden, die nicht unbedingt hinterfragt wird.

STUDIENPLATZFINANZIERUNG. Mit der sogenannten „Studienplatzfi nanzierung“ will die Regierung die Unis fi nanziell entlasten. Seit das Regierungsprogramm eine Überarbeitung erfahren hat, ist fi x, dass berechnet werden soll, wie viel ein Studienplatz kostet. Danach soll dann auch entschieden werden, nach welchem Schlüssel die Unis Geld für eben jene Studienplätze bekommen sollen. Vermutlich werden dabei genau so viele „Studienplätze“ herauskommen, wie Budget da ist. Sprich: Flächendeckende Zugangsbeschränkungen und die Reduktion von Studierendenzahlen sollen die Unis „entlasten“. Da die Details noch nicht ausgehandelt sind, hat die zukünftige Bundesvertretungsspitze einige Einfl ussmöglichkeiten. Ob die ÖH allerdings viel verhandeln können wird, ist fraglich. Die meisten Fraktionen lehnen flächendeckende Zugangsbeschränkungen ab. Sowohl Grüne und Alternative Studierende (GRAS), der Verband sozialistischer Student_innen Österreichs (VSStÖ), die Fachschaftslisten (FLÖ) und die beiden kommunistischen Listen KSV-KJÖ und KSV-LiLi fordern stattdessen einen off enen Hochschulzugang, der staatlich fi nanziert werden soll. Die AktionsGemeinschaft (AG) begrüßte die „kapazitätsorientierte Studienplatzfi nanzierung“, lehnt Studiengebühren jedoch ab – Zugangsbeschränkungen nennt die AG „Zugangsmanagement“ und fordert „faire und transparente Aufnahmetests“. Die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS) hingegen sind begeistert von den Ideen des sozialdemokratischen Kanzlers: „Christian Kern setzt mit der Studienplatzfi nanzierung erste richtige Schritte in Richtung fairer Zugangsbeschränkungen.“ Die Fraktion fordert „nachgelagerte Studiengebühren“ in der Höhe von bis zu 500 Euro im Semester, die nach dem Studium bezahlt werden sollen. Der RFS will ausländischen Studierenden nur dann einen Studienplatz gönnen, wenn sie in ihrem Herkunftsland ebenfalls einen vorweisen können, was für Drittstaatenangehörige allerdings bereits Realität ist.

UNIS UND ANDERE HOCHSCHULEN. Seit der letzten Wahl 2015 sind alle Studierenden von Universitäten, Privatunis, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen Mitglieder der ÖH. Rechtlich gesehen sind sie aber nicht gleichgestellt, da sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen je nach Hochschultyp stark unterscheiden. Während die Regierung keine Pläne hat, einen einheitlichen Hochschulraum zu schaff en, sehen die Listen, die sich zur ÖH-Wahl stellen, das anders. Die GRAS schreibt zum Beispiel: „Das Problem liegt vor allem in den rechtlichen Grundlagen: Welche Rechte Student_innen haben, ob und wenn ja wo sie diese einfordern können, hängt maßgeblich vom Hochschulsektor ab. Bei einem einheitlichen Hochschulraum wären auch Wechsel zwischen den Sektoren wesentlich einfacher und unbürokratischer möglich“, und fasst damit die Meinung fast aller Fraktionen zusammen. Der KSV-KJÖ stellt die Privatuniversitäten jedoch in Frage, „denn von kritischer Lehre und Bildung kann dort nicht die Rede sein“. Der KSV-LiLi will sie nicht weiterhin öff entlich bezuschussen lassen. Die FLÖ betont, „Österreich braucht keinen einheitlichen Hochschulraum, aber ein klares bundesweites Studienrecht für alle Studierenden“. Auch die AG begrüßt den Status quo: „Eine Trennung ist durchaus sinnvoll, da so eine Vielfalt von ‚Systemen‘ erhalten bleibt und man für sich selbst entscheiden kann, welches für einen selbst das beste ist.“

SOZIALE LAGE. Die letzte Studierenden-Sozialerhebung zeigte: Obwohl 61 Prozent der Studierenden erwerbstätig sind, ist über ein Viertel von starken fi nanziellen Schwierigkeiten betroff en. Von der Familie wird nur ein Drittel fi nanziert – somit bleibt die staatliche Studienbeihilfe die wichtigste Unterstützung für Studierende. Erfolgreich ist sie auch: Die Studienabschlussquote ist bei jenen Studis, die eine Beihilfe beziehen, doppelt so hoch wie bei anderen. Die Beträge sind jedoch niedrig und der Kreis der potentiellen Bezieher_innen ist klein. So wundert es wenig, dass auch hier sämtliche Fraktionen Erhöhungen und Änderungen fordern. Dass die Studienbeihilfe seit 1999 nicht mehr an die Infl ation angepasst wurde, ärgert die wahlwerbenden Gruppen ebenso wie die diversen Altersgrenzen, die spätentschlossenen Studierenden das Leben schwer machen. Wie die Beihilfen künftig aussehen sollen, darüber sind die Fraktionen sich jedoch nicht eins: Während JUNOS mehr „Leistungsstipendien“ fordern, will die GRAS ein „existenzsicherndes Grundstipendium von 844 Euro im Monat für alle Student_innen“, der KSV-KJÖ sieht soziale Absicherung nur im Sozialismus als möglich an, FLÖ und AG wollen zusätzlich eine Aufstockung verschiedener Sachleistungen.

MOBILITÄT. In einem Thema sind sich alle Fraktionen, die in die Bundesvertretung wollen, einig: Sie fordern alle ein österreichweit gültiges günstiges Studiticket. Über diese Forderung – und darüber, dass der öff entliche Verkehr für Studierende in anderen europäischen Ländern gratis ist – haben wir in der letzten progress-Ausgabe ausführlich berichtet („Sparschiene“, S. 8). Eine andere Art der Mobilität ist jene zwischen den Hochschulen, sowohl in Österreich als auch im europäischen Hochschulraum. Mit einem FH-Bachelor einen Uni-Master zu belegen ist in der Praxis oft ein sehr steiniger Weg mit vielen Behördengängen. Sowohl VSStÖ als auch JUNOS schlagen deswegen die Schaff ung einer Informationsquelle vor, in der mögliche Anrechnungen und weiterführende Studien dokumentiert werden, die GRAS will diese Frage europaweit geklärt wissen. Bis auf eine Fraktion sind sich alle einig, dass das Bologna-System nicht durchlässig genug ist. Der KSV-KJÖ möchte das System dagegen abschaff en und zurück zu den Diplomstudien. Der KSV-LiLi möchte die Marktlogik des Bologna-Systems bekämpfen und so für mehr Mobilität sorgen.

BARRIEREN. Für eine ganze Reihe Studierender ist der Studienalltag von Barrieren geprägt. Diese können im Falle körperlicher Beeinträchtigungen ganz einfach baulicher Natur sein, andere Barrieren sind nicht so off ensichtlich. Alle Fraktionen begrüßen einen barrierefreien Ausbau der Infrastruktur, in den Details unterscheiden sich die Zugänge jedoch. Der KSV-LiLi sieht Nachholbedarf bei der Barrierefreiheit: „Während in anderen Ländern versucht wird, allen Menschen das Studieren zu ermöglichen, fangen österreichische Hochschulen gerade mal damit an, Aufzüge oder Rampen zu installieren.“ Die FLÖ hingegen ortet vor allem Mangel bei der Beratung und sieht auch die ÖH im Zugzwang: „Die ÖH kann sich dafür einsetzen, mehr Beratungen anzubieten und Anlaufstellen einzurichten.“ VSStÖ und GRAS erinnern daran, dass auch psychische Krankheiten wie Depressionen berücksichtigt werden müssen und fordern alternative Lern- und Prüfungsmodalitäten wie Online-Vorlesungen. Ebenfalls größtenteils unsichtbare Barrieren stellen sich für LGBTIQ-Studierende, vor allem für Trans- oder Inter-Studierende, deren Geschlecht nicht mit der Geschlechtsangabe in ihrem Pass übereinstimmt. Die Initiative #NaGeH fordert, dass Unis künftig unbürokratisch Vornamen und Geschlechtseintrag von inter*, trans und nichtbinären Menschen ändert. Diese Forderungen werden von den meisten Fraktionen geteilt, einzig die FPÖ-Vorläuferorganisation RFS äußert sich auf ihrer Homepage verächtlich über LGBTIQ-Studierende. Binäre Toiletten – also solche, die nach dem klassischen „Mann/Frau“-Schema aufgeteilt sind, nennt der RFS zwar „Unfug“, scheint sich der Bedeutung dieser Aussage jedoch nicht bewusst zu sein. Die AG hat sich nicht zu den Forderungen von #NaGeH geäußert, sieht die ÖH jedoch als zuständige Organisation, bei der sich Studierende bei Diskriminierungen melden könnten.

BILDUNG. Studierende und Hochschule sind nur der letzte Teil der Pipeline des österreichischen Bildungsystems und viele Probleme entstehen an anderer Stelle. Es ist daher wichtig, dass die ÖH einen genauen Blick auf die Reformen im Bildungsystem wirft – alleine schon deswegen, weil sie ja auch die zukünftigen Lehrer_innen vertritt, die momentan studieren. Zu der Frage, wie das Bildungssystem insgesamt organisiert werden soll, halten sich die Fraktionen eher bedeckt – die GRAS fordert aber z. B. die Einführung der Gesamtschule, der KSV-KJÖ will die Schulen demokratisieren. Schüler_innen sollten, da sind sich die Fraktionen einig, besser auf ein Hochschulstudium vorbereitet werden. Die JUNOS sagen dazu: „Der Wert der Bildung muss früh im Schulsystem vermittelt werden“, GRAS, VSStÖ, FLÖ und AG fordern mehr Informationen – das Referat für Maturant_ innenberatung der Bundesvertretung muss sich um seinen Fortbestand also keine Sorgen machen. GRAS und VSStÖ fordern zusätzlich ein Vorstudium, bei dem Fächer ausgetestet werden können, die AG einen freiwilligen Selbsteinstufungstest.

MAHLZEIT. Während in vielen Ländern das Essen in der Mensa zum Studierendenalltag gehört, ist das Angebot in Österreich dürftig und dazu noch recht teuer. Die AG nähert sich hier grünen Positionen an und fordert regionale Speisen. Vegetarische Optionen sind GRAS und KSV-KJÖ wichtig, die JUNOS wollen, dass das Mensapickerl auch bei privaten Gaststätten als Vergünstigung gilt, während der KSV-LiLi ein Problem mit Mensen als Privatunternehmen hat. FLÖ und VSStÖ fordern zusätzlich offene Küchen, in denen Studierende selbstständig kochen können.

ZUSAMMENGEFASST: Die Antworten auf die zukünftigen Fragen der ÖH unterscheiden sich nicht so sehr, wie man es zunächst vielleicht annehmen würde, gerade beim off enen Hochschulzugang jedoch gewaltig. Die Fraktionen haben nicht nur unterschiedliche Zugänge zu Themen, sondern auch zu der Art und Weise, wie sie als ÖH arbeiten wollen. Für Wähler_innen, die bisher wenig Kontakt mit der ÖH hatten, ist dies jedoch schwierig herauszuschälen. Es empfiehlt sich daher, sich umfassend zu informieren, bevor eins zwischen dem 16. und 18. Mai seine Stimme verteilt.

Redaktioneller Hinweis: Die Positionen der Fraktionen wurden mit einem Fragebogen und den jeweiligen Webseiten erarbeitet.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Katholische Nachhaltigkeit

  • 12.05.2017, 21:51
Ein Sammelband über Nachhaltigkeit aus interdisziplinärer Perspektive

Ein Sammelband über Nachhaltigkeit aus interdisziplinärer Perspektive, der an der einzigen katholischen Universität des deutschsprachigen Raumes entstanden ist und als Open-access- Projekt zumindest digital der gesamten Welt zur Verfügung steht. Wer diese Kombination schon etwas schräg fi ndet, wird beim Aufschlagen des Werkes nochmal angenehm überrascht: Die Sprache ist mit dem Gender-Gap geschlechtergerecht gestaltet.

Der Band ist in drei Teile gegliedert, die sich den klassischen „drei Säulen der Nachhaltigkeit“ anpassen: Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft, in „denen“ sich die einzelnen Fachbeiträge finden. Davor gibt es eine ausführliche Einleitung, die auch den Blick verschiedenster Disziplinen auf das Thema Nachhaltigkeit beleuchten. So erfahren wir, was in der Umweltpsychologie erforscht wird, und welchen Stellenwert die Nachhaltigkeitsdebatte in der Medienforschung einnimmt. Im Ökologie- Teil wird einerseits auf die Nachhaltigkeit von menschlich beeinfl ussten Systemen eingegangen, andererseits wird die Wasserkraft beleuchtet. Im Zuge der aktuellen Diskussion rund um das Grazer Mur-Kraftwerk ein lesenswerter Beitrag, der aufzeigt, dass es in Nachhaltigkeitsdebatten selten einfache Lösungen gibt. Gerade Renaturierungsarbeiten würden oft in instabilen und viel zu starren Systemen enden, die ständiger menschlicher Pfl ege bedürfen.

Im Ökonomie-Teil wird unter anderem die Rolle der Finanzwirtschaft und der Aktienmärkte in Nachhaltigkeitsdiskursen untersucht, z.B. im Zuge der Energiewende in Deutschland. Im gesellschaftlichwissenschaftlichen Teil, der die meisten Beiträge beinhaltet, werden vor allem Fragen der Verantwortung diskutiert – neben der berühmt-berüchtigten Corporate Social Responsibility wird aber auch der Papst aufs Korn genommen. Ein interessanter Band, der löblicherweise frei verfügbar ist und einen erfrischend transdisziplinären Blick auf Umweltdebatten wirft.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Feministische Gegenöffentlichkeit

  • 23.02.2017, 20:37
Ein Blick hinter die Kulissen der an.schläge

Ein Blick hinter die Kulissen der an.schläge

Seit über 30 Jahren schreiben die an.schläge über politische, gesellschaftliche und kulturelle Themen aus einer feministischen Perspektive. Wir haben die leitenden Redakteurinnen Lea Susemichel und Fiona Sara Schmidt interviewt.

progress: Warum ist euer Magazin ein alternatives Medium?
Lea Susemichel: Wir verstehen unser Magazin als feministische Gegenöffentlichkeit zum Male- und Mainstream, als wichtiges Korrektiv zu den etablierten Medien also. Dort geht es weder in den Redaktionen noch bei der Themensetzung geschlechtergerecht zu. Emanzipatorische Medienarbeit ist deshalb weiterhin unerlässlich und ich bin der festen Überzeugung, dass sie nicht wirkungslos bleibt. Feministische Medien können trotz kleiner Auflage und sehr überschaubarer Reichweite etwas bewirken. Sie setzen Themen, die über kurz oder lang von anderen Medien aufgegriffen werden, und sie verändern langfristig auch dort die Kriterien, was Nachrichtenwert hat, was als gewichtige und relevante Meldung gilt.

Wie finanziert ihr euch?
Susemichel:
Wir bekommen Förderungen von der Wiener Frauenabteilung und gegenwärtig auch vom Frauenministerium. Letztere werden aber jährlich neu vergeben und sind in der Vergangenheit – unter Schwarz-Blau – auch schon komplett ausgefallen. Ein sehr großer Teil unserer Einnahmen stammt aus Abos, auf die wir unbedingt angewiesen sind. Der Einzelverkauf des Magazins trägt hingegen kaum zum Budget bei. Die Inserate sind auch seit Jahren rückläufig, zumal wir viele AnzeigenkundInnen aus politischen Gründen von vorneherein ausschließen und umgekehrt auch nur für wenige attraktiv sind.

Was für Abhängigkeiten ergeben sich aus eurem Finanzierungsmodell?
Susemichel:
Wir lassen uns bei redaktionellen Entscheidungen grundsätzlich nicht von der Überlegung beeinflussen, wen welche Berichterstattung evtl. verärgern könnte. In unserer mehr als dreißigjährigen Geschichte haben wir zwar schon viele massive Anfeindungen und öffentliche Attacken von ÖVP und FPÖ erlebt, aber es wurde vonseiten der FördergeberInnen noch nie versucht, konkret Einfluss zu nehmen. Ich persönlich halte eine solide staatliche Medienförderung unter den gegenwärtig verfügbaren Optionen deshalb auch für einen Garanten größtmöglicher Unabhängigkeit, journalistischer Seriösität und Qualität. Es braucht unbedingt eine entsprechende Reform der Medienförderung, die eine Basisförderung auch für kritische kleine Medien vorsieht.

Erlebt ihr diese Abhängigkeiten als Widerspruch zu eurem Selbstbild?
Susemichel:
Das Ansuchen um Förderungen ist ein hoher administrativer Aufwand, der viele unserer ohnehin begrenzten Ressourcen frisst. Aber politisch und inhaltlich gibt es keinen Widerspruch zu unserem Selbstverständnis, weil wir ja nicht von politischen Parteien gefördert werden. Und wir hatten bislang tatsächlich das Privileg, auch nie durch „unmoralische Angebote“ von AnzeigenkundInnen in Versuchung geführt worden zu sein – wir sind schlicht nicht interessant genug für sie. Als größten Widerspruch erleben wir stattdessen, dass zuwir als linkes, feministisches Medium entschieden gegen die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen eintreten, gleichzeitig aber selbst unter sehr prekären Bedingungen arbeiten. Wir wollen Frauen fair und angemessen für ihre Arbeit bezahlen, können als prekäres Projekt aber eben nur kleine Honorare für Artikel bieten.

Braucht es noch Printmagazine im 21. Jahrhundert?
Schmidt:
Magazine werden nach wie vor nachgefragt, junge Leser_innen wollen nicht ausschließlich online lesen. Neben Print sind für Magazine auch crossmediale Formate mit Bild/ Text/Video oder die grafische Aufbereitung von Daten interessant, mit der große Medien nun zaghaft experimentieren. Wir haben als feministisches Magazin eine Zielgruppe, die Frauen der Zweiten Frauenbewegung, die mit Print politisiert wurde, genauso ansprechen will wie feministische Digital Natives. Auch wenn einige feministische Zeitschriften in den letzten Jahren eingestellt wurden, ist das Interesse auf jeden Fall da und es entstehen im deutschsprachigen Raum neben Blogs auch ständig neue Zeitschriften und Zines.

Wie könnte die Zukunft alternativer Printmedien aussehen?
Schmidt:
Die Übergänge im Print- und Onlinejournalismus werden immer fließender. Ich denke, grafisch ansprechend und hochwertig aufbereitete Beiträge im gedruckten Heft werden sich neben aktuellen Nachrichten online, wo die Leser_innen mitdiskutieren können, etablieren. Bei den Finanzierungsmodellen sind da aber weiterhin kreative Lösungen gefragt, gerade für alternative Medien, bei denen meist die Infrastruktur und das technische Wissen den Ideen hinterherhinken.

Viele alternative Medien bauen zum Teil auf ehrenamtlicher Arbeit auf. Wie ist das bei euch?
Schmidt:
Unser Redaktionskollektiv ist ehrenamtlich neben der Lohnarbeit tätig, Sitzungen werden zum Beispiel nicht vergütet. Auch die Angestellten (wir teilen uns zu viert für die Redaktionsleitung und Verwaltung 1,5 Stellen) arbeiten über ihre bezahlten Stunden hinaus, wenn es notwendig ist. Meist unterstützt uns eine Praktikantin. Artikel und Fotos/Illustrationen werden bezahlt. Wir können als Non-profit-Medium leider keine marktüblichen Honorare bezahlen und schätzen es umso mehr, wenn freiberufliche Journalistinnen auch für uns tätig sind, weil sie unser Projekt unterstützen möchten. Positiv ist die relativ freie Zeiteinteilung der Redakteurinnen und dass man sich je nach Situation mehr oder weniger einbringen kann. Aufgaben wie das Layout machen inzwischen externe Mitarbeiterinnen, die das Projekt mit ihrem Know-how unterstützen.

Wo und wie kann man euch abonnieren?
Schmidt:
Auf anschlaege.at/abo gibt es günstige Schnupper- und Jahresabos. Wir erscheinen achtmal pro Jahr und freuen uns über diese kontinuierliche Unterstützung.

Das Interview führte Joël Adami, er studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Sparschiene

  • 23.02.2017, 17:54
360 Euro für ein österreichweit gültiges Studi-Ticket: Die Forderung klingt utopisch. Wie schneidet sie im europäischen Vergleich ab?

360 Euro für ein österreichweit gültiges Studi-Ticket: Die Forderung klingt utopisch. Wie schneidet sie im europäischen Vergleich ab?

Österreich ist ein kleines Land. Wer öfters mit dem Zug unterwegs ist, wird das vielleicht anders empfinden. Laute Mitreisende, langsames Fahren über Berge und Verspätungen können schon mal an den Nerven zerren. Vor allem dann, wenn die Fahrt entsprechend teuer war. Österreich mag im Vergleich mit den deutschen Nachbar*innen ein relativ günstiges Bahnland sein, die Preise können dennoch ein empfindliches Loch in studentische Geldbörsen reißen. Wer zum Beispiel mit der ÖBB von Wien nach Villach fährt, um über das Wochenende Familie und Freund*innen zu besuchen, zahlt dafür 28,30 Euro. Vorausgesetzt, man verfügt über die „Vorteilscard Jugend“, die jedoch auch einmal im Jahr 19 Euro kostet und nur bis 26 Jahre gilt. Ohne Verbilligung kostet der Wochenendtrip zu den Eltern das Doppelte: 56,60 Euro. Wer also zum Beispiel 21 Jahre alt ist, in Wien studiert und einmal im Monat die Eltern in Kärnten besuchen will, zahlt dafür sogar bei Ausnutzung des günstigen Sommertickets knappe 600 Euro im Jahr. Nicht alle Studierenden besuchen ihre Eltern so regelmäßig, andere fahren öfters von der Unistadt „aufs Land“, etwa, weil sie dort eine Fernbeziehung haben. Zum Geburtstag gibt es mit 26 dann eine nette finanzielle Überraschung: die Jugend-Vorteilscard gilt nicht mehr. „26 bist du aber bald mal und dann darfst du für jede Fahrt das Doppelte zahlen oder musst dir ausrechnen, ob die ‚normale‘ Vorteilscard sich lohnt“, beschwert sich Janine, die wie viele Studierende in Österreich länger studiert hat, als sie anfangs geplant hatte. Das Durchschnittsalter der österreichischen Studierenden liegt laut der aktuellsten Studierendensozialerhebung bei 26,2 Jahren, etwa ein Drittel der Studierenden ist älter als 26. Die Kosten für Mobilität unterscheiden sich stark je nach Alter: Unter-Zwanzigjährige kommen im Schnitt mit 54 Euro im Monat aus, Studierende, die älter als dreißig sind, verbrauchen das Doppelte, um von A nach B zu kommen.

SCHIENENERSATZVERKEHR. Alternativen zum Zugfahren sind mittlerweile gerade in studentischen Kreisen sehr beliebt, das Jammern über die ungemütliche und langsame Zugreise ist mittlerweile den verzweifelten Geschichten aus dem nicht-klimatisierten Fernbus mit verstopftem Klo gewichen. Von Wien nach Villach gibt es jedoch kein Angebot, denn wie auch die WestBahn versuchen die Fernbusunternehmen vor allem lukrative Strecken zu befahren und konzentrieren sich auf die profitable Weststrecke oder Verbindungen zwischen großen Städten. Wer nicht aus einem größeren Ort kommt, muss sowieso längere Fahrtzeiten und höhere Kosten auf sich nehmen, um die Verwandten „am Land“ zu besuchen. Neben dem öffentlichen Verkehr besteht natürlich auch immer die Möglichkeit, mit dem Auto zu fahren und Mitfahrgelegenheiten zu nutzen. Wie sehr die verfügbar sind, hängt natürlich auch davon ab, wo man wohnt und wie gut man vernetzt ist. Noch komfortabler ist der eigene PKW, was aber erhebliche Kosten für Versicherung und Erhalt mit sich bringen kann – noch dazu wird er in der Stadt eher selten gebraucht. Die teure Bahn ist für viele Studierende die einzige Möglichkeit, überhaupt mobil zu sein und Freund*innen, Bekannte oder die Familie zu besuchen. In Zeiten steigender Ticketpreise und seit Ewigkeiten nicht an die Inflation angepasster Beihilfen kann das Reisebudget schon mal sehr knapp werden. Dabei war das alles bereits anders. In den 1970ern wurde von der Regierung Kreisky die sogenannte „Schüler- und Studentenfreifahrt“ eingeführt, die Studierenden wurden finanziell entlastet. Das aber nicht nur mit den kostenlosen Öffis in den Unistädten, sondern auch mit der „Schulfahrtbeihilfe“, mit der „auswärts Studierende“, je nach Entfernung des Elternhauses, eine finanzielle Hilfe für die Heimfahrt erhalten konnten.

STUDITICKET JETZT! Die Österreichische Hochschüler*innenschaft (ÖH) lobbyiert seit knapp einem Jahr mit der Kampagne #studiticketjetzt für ein österreichweites Studierendenticket. Im Oktober wurde dem Parlament eine Bürgerinitative mit über 25.000 Unterzeichner_innen präsentiert, dort wurde das Anliegen an den Verkehrsausschuss weitergeleitet. Außerdem gab es mehrere Treffen der ÖH-Spitze mit Minister*innen. Das Ticket soll nach Vorstellung der ÖH 360 Euro im Jahr kosten und für alle öffentlichen Verkehrsmittel österreichweit gelten. Anspruchsberechtigt sollen dabei alle Studierenden sein, die ab dem 3. Semester acht ECTS aus dem vorigen Semester nachweisen können. Die ÖH fordert also ein Ticket ohne Altersbeschränkung. Um „Schein-Studierende“ zu verhindern, die sich nur inskribieren, um das günstige Ticket zu erhalten, soll die Anspruchsdauer in Summe 120 Monate betragen, die jedoch nicht am Stück verbraucht werden müssen. Die Forderung ist ein seltenes Beispiel für harmonische Zusammenarbeit von ÖH-Exekutive und Opposition: Der Antrag auf der ÖH-Bundesvertretungssitzung wurde einstimmig beschlossen, die meisten großen Fraktionen beteiligen sich namentlich an der Kampagne. Mobilitätskosten sind mitunter auch bei der Studienwahl entscheidend. So wird das Studium nicht nur nach den eigenen Interessen, sondern eben auch nach den Fahrtkosten zum Studienort gewählt. Ein Studiticket, wie die ÖH es fordert, könnte hier helfen. Magdalena Hangel von der Maturant_innenberatung der ÖH-Bundesvertretung erklärt: „Ein österreichweites Studierendenticket lindert den finanziellen Druck bei der Studienwahl, es führt zu einer besseren Vernetzung von Region und Stadt und schafft Freiheit für zukünftige Studierende. Natürlich gehören da andere Faktoren auch dazu. Als Studienberater_innen wissen wir aus unserem Beratungsalltag aber, dass der Faktor Studienort nicht zu unterschätzen ist.“ Die ÖH argumentiert neben den sozialen Effekten auch damit, dass ein Studiticket der Umwelt zu Gute kommen würde – die Regierung könnte das Studiticket nicht nur als soziale Maßnahme, sondern auch als österreichischen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel, verkaufen.

ANDERE LÄNDER, ANDERE TARIFE. Wie sieht die Situation eigentlich in anderen Ländern aus? Zumindest was die Preise für den öffentlichen Nahverkehr angeht, kommen die Studierenden in Österreichs größter Universitätsstadt (Überraschung: Wien!) auch im europäischen Vergleich recht günstig weg: 75 Euro im Semester kostet das Ticket für die Wiener Linien, wenn der Hauptwohnsitz in Wien liegt und das magische Alter von 26 nicht überschritten ist. In Deutschland ist die Situation kompliziert, da die Hochschulen, anders als in Österreich, in die Kompetenz der Bundesländer fallen, die jeweils eigene Regelungen haben. Oft bezahlen Studierende in Deutschland gleichzeitig mit den Studiengebühren ein Semesterticket, mit dem sie meistens nicht nur die öffentlichen Verkehrsmittel ihres Studienortes, sondern auch den Regionalverkehr um den Ort herum, manchmal sogar im ganzen Bundesland, nutzen dürfen. Teilweise sind diese Tickets „vollsolidarisch“, d.h. alle Studierenden müssen sie kaufen – wer nicht mit den Öffis fährt, subventioniert die Fahrten der Anderen mit. Andere Tickets bestehen aus mehreren Komponenten, die optional hinzugekauft werden können. Mit mindestens 204 Euro im Semester wäre ein angedachtes Modell in Baden-Württemberg aber teurer geworden als das ÖH-Studiticket. Im Nordwesten Deutschlands gibt es hingegen erstaunliche Bewegungsfreiheit: Wer beispielsweise in Göttingen studiert, kann für knapp 110 Euro in der ganzen Region fahren, bis nach Hamburg oder gar an die Nordsee – allerdings nur mit dem Regionalverkehr, Schnellzüge der Deutschen Bahn dürfen die Studierenden nicht benutzen. In den Niederlanden können Studierende auswählen, ob sie am Wochenende oder werktags gratis fahren wollen. Allerdings müssen sie ihr Studium innerhalb von zehn Jahren abschließen, sonst gilt das kostenlose Ticket nur als „Darlehen“ für Tickets, die knapp 100 Euro im Monat kosten. Das Ticket ist eine Leistung der niederländischen Studienfinanzierung. Zusätzlich dazu gibt es die Möglichkeit, günstige Tarife für wenig frequentierte Reisezeiten auszunutzen und so auch am Wochenende günstig von Amsterdam nach Breda zu kommen. In Finnland gibt es kein Studi-Ticket, das für das gesamte Streckennetz gilt, allerdings bestehen hier spezielle Vergünstigungen für Studierende. Finnische Studierendenorganisationen haben im Februar 2016 einen 30-Prozent-Rabatt mit der VR Group, der finnischen Staatsbahn, ausgehandelt. Innerhalb der Städte zahlen finnische Studierende die Hälfte des Ticketpreises auf Zeitkarten, diese Ermäßigung besteht allerdings schon länger.

ES GEHT AUCH GRATIS. Die ÖH-Forderung nach einem österreichweit gültigen Ticket um 360 Euro im Jahr scheint im europäischen Vergleich also gar nicht so unrealistisch und günstig, wie das vielleicht auf den ersten Blick scheint. Vor allem dann nicht, wenn man den Blick nach Osten schweifen lässt: In der Slowakei fahren Studierende nämlich gratis. Allerdings gilt diese Regelung nur bis 26. Theoretisch können sogar alle studierenden EU-Bürger*innen einen Zero-Rate-Pass in der Slowakei beantragen, sofern sie ihre Studienbestätigung auf Slowakisch übersetzen lassen. Mit dem Pass lassen sich dann kostenlos Fahrkarten für das gesamte Schienennetz lösen. Die sind allerdings an Passagier*in und Zugverbindung gebunden – ein bisschen Vorplanung ist also vonnöten. Auch in Luxemburg gibt es ab August ein Gratisticket für Studierende – dabei soll der Studienort egal sein und das Ticket in allen öffentlichen Verkehrsmitteln gelten. Weit fahren können die luxemburgischen Studierenden damit allerdings nicht: Das Großherzogtum hat in etwa die Fläche von Vorarlberg. Diese Beispiele zeigen, dass es prinzipiell nicht unmöglich ist, Studierende günstig (beziehungsweise sogar gratis) mit der Bahn herumfahren zu lassen. Österreich sollte das doch auch schaffen können. Mit einem einheitlichen Studi- Ticket, das für Bus, Bahn und Bim gilt, würden die unfairen Tarifunterschiede zwischen den verschiedenen Studienorten innerhalb Österreichs ebenfalls abgeschafft werden. Die Umwelt, ganz besonders das Klima, würde sicherlich profitieren, angehende Studierende hätten einen Faktor weniger, den sie bei der Studienwahl berücksichtigen müssten und ältere Studierende hätten weniger Geldsorgen. Vielleicht würden auch weniger Fernbeziehungen in die Brüche gehen. Alleine das wäre doch Grund genug, das Studi-Ticket endlich einzuführen.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

… und Wirklichkeit

  • 22.06.2016, 12:31

… und wie sich ihre echten Gegenstücke zwischen Repression, Prekarität, Ruhm und Reichtum bewegen .

Hanf-Omas
Kurznachrichten über Drogenrazzien und hopsgenommene Dealer_innen sind generell ein dankbares journalistisches Genre. Umsomehr gilt das, wenn ältere Frauen, die Cannabisplantagen betreiben und irgendwann erwischt werden, im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Sie entsprechen einerseits überhaupt nicht dem Bild der gefährlichen Dealer_ innen, andererseits verstecken sich hinter den lustig anmutenden Meldungen oft tragische Geschichten. So standen im Februar 2014 eine 63-Jährige und ihr Mann aus dem Hunsrück vor Gericht, weil sie aus medizinischen Gründen 47 Cannabispflanzen im Keller gehegt hatten. Die Rentnerin baute das Gras an, um eine drohende Erblindung zu bekämpfen. Die teuren Medikamente konnte sich die ehemalige Putzkraft nicht leisten. Das Gericht hatte Mitleid und sprach nur eine Verwarnung aus. Doch nicht jede Hanf-Oma ist so liebenswert: Im schweizerischen Malters verteidigte eine 65-Jährige für 17 Stunden mit Waffengewalt ihre Plantage gegen die Polizei. Sie wurde bei der Erstürmung ihrer Wohnung erschossen.

Meth-Enkel
Nicht nur Großeltern agieren manchmal als Drogendealer_ innen, auch ihre „Enkel“ sind teilweise schon in sehr jungen Jahren aktiv. Im Vereinigten Königreich wurde zum Beispiel im Juli 2014 ein 13-Jähriger im nordenglischen Barrow dabei erwischt, wie er Heroin und Meth dealte. Angeblich wurde der Jugendliche von einer Gang zum Dealer ausgebildet und lebte bei Süchtigen, die er zur Miete mit kostenlosen Drogen versorgte. Dieses Modell scheint in Nordengland beliebt zu sein: Die Polizei berichtete von zwei weiteren Fällen, in denen 14-Jährige in einer sehr ähnlichen Situation gewesen wären. 2012 will die Polizei im Vereinigten Königreich insgesamt über 12.000 Dealer_innen festgenommen haben, die nicht nur minderjährig, sondern auch unter 16 Jahren alt waren. Die meisten von ihnen handelten jedoch mit leichten Drogen wie Cannabis und nicht mit als „class A drugs“ bezeichneten harten Drogen. Für den Dealer aus Barrow wurde unterdes keine Gnade angekündigt. Die Gerichte würden in solchen Fällen „Strafen verteilen, die dem geleisteten Schaden an der Gesellschaft entsprechen“, so eine Polizeisprecherin.

Verschärftes Gesetz
Die Diskussionen über die Wiener U-Bahnlinie U6, bei der vor allem bürgerliche Journalist_innen die Präsenz von Schwarzen Menschen, die sie als Drogendealer_innen zu identifizierten glaubten, beklagten, sind in einer Gesetzesnovelle mit anschließender Polizeiaktion gemündet. Großkotzig kündigte die Wiener Polizei „bis zu 200 zusätzliche Festnahmen“ innerhalb der ersten 24 Stunden an und ließ in Großraumzellen mehr Betten aufstellen. Außerdem wurde das Personal aufgestockt. Insgesamt waren es dann gigantische 14 mutmaßliche Dealer_innen, die in den ersten 24 Stunden nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle verhaftet wurden. Dabei umfasst der neue Straftatbestand den Handel mit illegalen Drogen im öffentlichen Raum und an anderen Orten, wenn „das Verhalten durch unmittelbare Wahrneh mung dazu geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen“. Dieser Gummiparagraph lässt sich hervorragend dazu einsetzen, Drogenszenen von einem Ort zum nächsten zu jagen. So freut sich die Wiener Polizei bereits jetzt darüber, die Dealer_innen von der U6 verjagt zu haben. Aber Wien hat ja noch einige andere U-Bahnlinien.

Vom Gangsta zum legalen Dealer
Nachdem in einigen US-Bundesstaaten der Konsum von Cannabis legalisiert wurde, stellt sich dort eine paradoxe Situation ein: Während ehemalige Dealer_innen, viele davon People of Color, weiterhin ihre Gefängnisstrafen absitzen, haben Cannabis- Start-ups den legalen Markt übernommen. Geführt werden diese meist von Weißen Menschen, die davor nicht im Fokus polizeilicher Ermittlungen bezüglich Drogenkriminalität standen. Allerdings gibt es natürlich auch Ausnahmen: Der Rapper Snoop Dogg ist vor einiger Zeit mit einer eigenen Linie von Cannabisprodukten ins Geschäft eingestiegen – diesmal legal. In den 1990ern stand der Rapper nämlich nicht selten wegen Drogendelikten vor Gericht, unter anderem auch wegen Dealens. Nun ist aber alles anders: Mit „Leafs by Snoop“ vertickt der Rapper im US-Bundesstaat Colorado legal acht verschiedene Cannabissorten in stylisch designten Schachteln, außerdem gibt es Konzentrate und Kekse zu erwerben. Snoops Cannabisimperium wird von einer eigenen Marihuana-Medienfirma abgerundet: „Merry Jane“ soll Cannabis und Popkultur vermengen.

52 Milliarden
Als reichster Drogenboss galt der mittlerweile 85-jährige Amerikaner Frank Lucas. Sein Drogengeschäft begann er in den 1960ern im New Yorker Stadtteil Harlem. Seine Strategie bestand vor allem darin, das Monopol der italienischen Mafia in New York zu brechen. Dafür reiste er nach Bangkok und kontaktierte dort einen entfernten Verwandten, der Verbindungen zur U.S. Army hatte. So begann der Schmuggel direkt aus dem sogenannten „Goldenen Dreieck“. Wie genau dieser von statten ging, darüber gehen die Meinungen auseinander. In manchen Versionen wird von Särgen toter US-Soldaten berichtet, andere Quellen geben nachgemachte Särge oder „nur“ Möbel an. Lucas vertraute nur Verwandten und guten Freund_innen seine Drogengeschäfte an, weil er der Meinung war, dass die Chance, dass diese ihn bestehlen würden, geringer sei. Mit den großen Profitmargen, die er aus dem Direktverkauf seines „Blue Magic“-Heroins ohne Zwischenhändler_innen erzielte, konnte er viel Besitz anhäufen, unter anderem auch eine Rinderfarm in North Carolina. Als er 1975 jedoch festgenommen wurde, verschwand angeblich sein gesamter Besitz. In „American Gangster“ wurde Lucas’ Leben verfilmt, allerdings mit einigen Änderungen, damit die Geschichte genügend Dramatik für das Mainstream-Kino bietet.

Online-Dealer_innen
Der Handel mit Drogen läuft auch im Netz. Wer abgelegen wohnt oder schlicht keine Lust hat, bei Straßendealer_innen zu kaufen, kann sich im Darknet so ziemlich alles besorgen, was das Herz begehrt. Die geheimen Seiten sind nur über das verschlüsselte und anonyme TOR-Netzwerk erreich bar, bezahlt wird in der Kryptowährung Bitcoins. Die bekannteste Seite für alles Illegale war „Silk Road“, benannt nach der historischen Seidenstraße. Aufge setzt und betreut wurde der Darknet-Marktplatz von Ross Ulbricht, der besser unter dem Pseudonym „Dread Pirate Roberts“ bekannt war. 2013 stellte sich heraus, dass Ulbricht ziemlich unsicher gehandelt hatte: das FBI kam ihm auf die Schliche, nahm ihn fest und beschlagnahmte "Silk Road". Ulbricht wurde daraufhin unter anderem wegen Drogenhandels und Auftragsmord zu lebenslanger Haft verurteilt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien und nein, das hat nichts mit Drogenanbau zu tun.

Lest hier den begleitenden Artikel über die fiktiven Drogendealer*innen

Konstruierte Natur

  • 22.06.2016, 11:32
Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden.

Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. In ihrem Band „Ansichtssache Stadtnatur“ untersucht die Berliner Stadt- und Kulturgeografin Katharina Winter, welchen Einfluss verschiedene Ansichten, was Stadtnatur ist oder sein kann, auf den Umgang mit sogenannten Zwischennutzungen haben. Im Grunde gilt schon die natürliche Sukzession – also das ungehinderte Wachstum von Pflanzen, deren Zusammensetzung sich mit der Zeit von reinen Gräsern zu Sträuchern und schließlich zu Bäumen verändert – als Zwischennutzung. Viel spannender sind jedoch die menschlichen Zwischennutzungen wie Guerilla Gardening oder improvisierte Spielplätze.

Drei Fallstudien über solche Zwischennutzungen hat Winter durchgeführt. Zuerst stellt sie den „Garten der Posie“, einen interkulturellen Gemeinschaftsgarten im dicht besiedelten Neukölln-Rixdorf, vor und geht dabei besonders auf die Spannungen zwischen sogenannter „bedürftiger“ und „nützlicher“ Natur ein, die in jedem Garten entstehen und in einem Gemeinschaftsgarten besonders präsent sind. Die zweite Fallstudie behandelt die „Tentstation“, einen innerstädtischen Zeltplatz auf dem Gelände eines ehemaligen Freibades in Moabit. Hier untersucht Winter besonders die Fragen, was für ein Naturverständnis auf einem Zeltplatz vorherrscht und ob Nachhaltigkeit automatisch Schönheit bedeutet. Sie spricht dabei der Ästhetik der „gebrauchten Natur eines gebrauchten Ortes“ eine besondere Rolle zu. Drittes und letztes Fallbeispiel ist die Wagenburg „Lohmühle“, die auf einem ehemaligen Mauerstreifen entstand. Hier untersucht Winter besonders den Naturschutzgedanken der Bewohner_innen.

Sowohl die theoretischen Kapitel zur Konstruktion des Naturbegriffes als auch die Fallstudien sind für Interessierte eine Bereicherung. Lobenswert ist auch, wie kritisch der Nachhaltigkeitsbegriff in diesem Band betrachtet wird. Winter benutzt im Text zufällig die weibliche oder männliche Form, was zwar interessant ist, durch einen Gendergap oder -sternchen jedoch einfacher gelöst hätte werden können.

Katharina Winter: „Ansichtssache Stadtnatur. Zwischennutzungen und Naturverständnisse.“
transcript, 262 Seiten, 29,99 Euro, eBook 26,99 Euro.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Cyberpunk-Schnitzeljagd

  • 10.03.2016, 18:25
Read Only Memories entführt uns in eine retrofuturistische Cyberpunk-Welt. Ein Review.

Neo-San-Francisco, wenige Tage vor Weihnachten 2064. Ich schreibe ein lange aufgeschobenes Review über besonders intelligente Kopfhörer. Danach genieße ich endlich den gerechten Schlaf freischaffender Journalist_ innen. Aber nur kurz: Ein kleiner Roboter namens Turing ist in meine Wohnung eingedrungen. Schlaftrunken höre ich seine Erklärungen: Mein Wohnungsschloss ist unsicher, er ist die erste künstliche Intelligenz mit richtigem Bewusstsein und Emotionen, und außerdem ist mein Bekannter Hayden Webber, der Turing gebaut hat, entführt worden.

Meine Fähigkeiten als investigative_r Journalist_in werden also gebraucht, um Hayden wiederzufinden. Schnell erfahre ich, dass neben den großen Technologiekonzernen, die einen Großteil der staatlichen Funktionen wie Polizei oder Telekommunikationszugang übernommen haben, auch die Protestgruppe „Human Revolution“ zu den Verdächtigen zählt. Die Gruppe ist gegen jede Art von cybernetischen oder genetischen Veränderungen von Menschen, die 2064 an der Tagesordnung stehen. Ebenso wie die Konzerne sind sie wohl hinter Turings künstlicher Intelligenz her. Es beginnt ein Krimi, der mich und Turing in Nachtclubs, Medienunternehmen, Hinterhofkliniken führt. Allerdings scheint uns bei der Suche nach Hayden irgendwer immer einen Schritt voraus zu sein …

Read Only Memories ist ein klassisches „Point and Click“-Adventure in wunderschöner neonleuchtender Retro-Pixelgrafik mit passendem Soundtrack. Auch die dargestellte Zukunftsvision mit alles kontrollierenden Großkonzernen, genetisch modifizierten Katzenmenschen und sprechenden Robotern könnte aus den 1980er Jahren stammen. Aufgelockert wird die düstere Atmosphäre durch Turings naiven Humor. Die nicht-lineare, vielschichtige Story ist intelligent und beleuchtet nicht nur das Thema künstliche Intelligenz, sondern auch ethische Fragestellungen zu Transhumanismus und Gentechnik am Menschen. Ein besonderes Lob gibt es neben dem äußerst stimmigen Erscheinungsbild auch für die Möglichkeit, die Pronomen der Spielfigur am Anfang des Spiels selbst auszuwählen. Einziges Manko: Die hervorragende Sprachausgabe ist nur im Intro und Outro zu hören.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

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